Liebe Leser*innen.
Fürs Erste ist es abgewendet. Eine Abstimmung im Bundesrat, der am Freitag eine Verordnung zur Umsetzung des Selbstbestimmungsgesetzes beschließen sollte, wurde von der Tagesordnung gestrichen.
Der Termin hatte vor allem unter den Menschen, für die das Gesetz geschaffen wurde, für große Unruhe gesorgt. Hätten die Länder den Plänen aus dem Hause von Alexander Dobrindt (CSU) zugestimmt, wären die Folgen für diese Menschen weitreichend gewesen. Ihr früherer Vorname und der alte Geschlechtseintrag sollten auf unbestimmte Zeit in ihren Meldedaten gespeichert werden – wo sie mit jedem Umzug mitumgezogen wären und Tausende von Behörden sie automatisch hätten abrufen können. Dass dieses Szenario vorerst aufgeschoben ist: ein Etappensieg.
Denn die Änderung der bisherigen Verfahren in den Ämtern wäre eine unnötige weitere Gefährdung von Menschen, die in Zeiten von Angriffen auf Pride-Demos und offener Transfeindlichkeit ohnehin schon gefährdet sind. Darauf hatten vom Bundesverband Trans* bis zum Chaos Computer Club alle hingewiesen, nachdem der Entwurf im Sommer bekannt wurde. Doch das Innenministerium hatte sich nicht beirren lassen.
Die Kraft des Gegners nutzen
Im Kampfsport gibt es das Prinzip, die Kraft des Gegners zu nutzen, um diesen mittels Schwungumkehr aufs Kreuz zu legen. Diese Kunst beherrscht man offenbar auch im BMI. Schon als das Selbstbestimmungsgesetz von der Ampel im vergangenen Jahr verabschiedet worden war, hatte das Haus vor allem eines im Sinn: Misstrauen. Wie könnte man verhindern, dass Kriminelle mit neuem Namen und Geschlechtseintrag vor der Justiz abtauchen? (🤡) Diese Sorge trieb die damalige Innenministerin Nancy Faeser (SPD) um. Sie forderte, eine Änderung der Daten müsse künftig allen Sicherheitsbehörden von Verfassungsschutz bis Bundespolizei mitgeteilt werden.
Die Datenweitergabe, in deren Visier ausschließlich Menschen geraten wären, welche die im Selbstbestimmungsgesetz festgelegten Rechte in Anspruch nahmen, konnte damals im Gesetzgebungsverfahren abgewendet werden. Jurist*innen machten den Abgeordneten klar, dass das wohl kaum mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sei. Der Passus wurde wieder gestrichen.
Im BMI ließ man sich von solchen Rückschlägen aber offenbar nicht entmutigen. Die Kraft des Selbstbestimmungsgesetzes nutzend, sollte dann eben eine neue Meldeverordnung dafür sorgen, dass die alten Vornamen und Geschlechtseinträge doch noch möglichst einfach und automatisiert auf die Reise gehen können zwischen den Ämtern.
Wir setzen doch nur das Gesetz um, heißt es aus dem Ministerium. Als sei man sich dort der Zerstörungskraft nicht bewusst, die in dieser Verordnung liegt. Sie würde, kurz gesagt, zunichtemachen, was das Selbstbestimmungsgesetz im Kern ausmacht: Schutz, Würde und ein Leben ohne ständige Angst vor Outings. Sie würde aus einem Gesetz, das eine Befreiung bringen sollte, eines machen, das wieder Angst schürt.
„Es war von vornherein völlig klar, dass die Union durch die Hintertür versuchen wird, das Gesetz auszuhöhlen“, sagt dazu auch die Autorin Julia Monro im Interview mit netzpolitik.org. Abschaffen können sie es nicht, aber mit der Verordnung torpedieren, das können sie schon.
Ruhe vorm Rematch
Dass die Abstimmung im Rat verschoben wurde, ist erst einmal ein gutes Zeichen. Es deutet darauf hin, dass sich womöglich keine Mehrheit für das Vorhaben gefunden hätte – und dass die Aufklärungskampagnen der Verbände aus der vergangenen Woche Erfolg hatten. Wahrscheinlich wird sich aber auch das BMI in dieser Sache nicht einfach so auf die Matte legen lassen. Das nächste Mal tritt die Länderkammer in einem Monat zusammen.
Falls ihr euch fragt, was ihr bis dahin tun könnt: Unterstützt doch die Arbeit jener Organisationen mit einer Spende, die so beharrlich und kenntnisreich gegen die Verordnung arbeiten: den Bundesverband Trans*, den dgti oder auch den LSVD.
Mir fällt jetzt auch nichts mehr ein, als diesen Rückblick mit einem Haiku zu beenden.
Kraft umkehrt den Schwung,
das Ministerium taumelt –
Ruhe vorm Rematch.
In diesem Sinne und bis nächste Woche
Chris

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