Avatar Autor:in

DegitalisierungObskur

Was haben fragwürdige Wahlversprechen, ritualisierte Forderungen nach mehr Überwachung und Aufmerksamkeitsgetriebenheit gemeinsam? Sie alle verdunkeln das, worum es eigentlich geht. Zeit für mehr Klarheit, findet unsere Kolumnistin.

Eine Silhoutte einer Person in einer nebligen Einkaufsstraße
– Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Nomadic Ambience

Nach den deutlichen Anzeichen von vollständigem Mauerfraß in den letzten Tagen startet diese sonntägliche Degitalisierung ganz antizyklisch mit einem rätselhaften, ja geradezu obskuren Zitat, das uns gegen Ende vielleicht dabei hilft, die aktuelle Welt besser zu verstehen. Johann Wolfgang von Goethe sagte einmal in einer ähnlich wechselhaften Zeit:

Der eigentliche Obskurantismus ist nicht, daß man die Ausbreitung des Wahren, Klaren, Nützlichen hindert, sondern daß man das Falsche in Kurs bringt.

Wir leben leider gerade in Zeiten, in denen Menschen aus Egoismus, wegen des Kapitalismus oder im Dienste des Autoritarismus bis Faschismus sehr viel Falsches in Umlauf bringen. Es scheint nicht mehr so wichtig, präzise bei den Fakten zu bleiben. Es scheint wichtiger, sich lieber an Symptomen abzuarbeiten, ohne die tieferen Probleme anzugehen. Zu alledem kommt oft schlichtweg eine unrealistische Vision einer vermeintlich verheißungsvollen Zukunft – mystisch und obskur aufgeladen.

Kein leichter Einstieg für eine Kolumne, deren Schwerpunkte immer die Digitalisierung und die Folgen schlecht gemachter Digitalisierung für uns alle sind. Aber auch das Digitale kann sich der zunehmenden Verdunkelung nicht mehr entziehen, schlimmer noch, es ist zum Instrument des Obskuren geworden.

Zeit, etwas mehr Licht in die Dunkelheit zu bringen, zumindest bei ein paar ausgewählten Digitalthemen – mit steigendem Anteil an Obskurität.

Fragwürdige Wahlversprechen

Wahlprogramme sind nicht unbedingt dafür bekannt, dass sie die reine Wahrheit darstellen. Sie sind eher stark geschönte Absichtserklärungen, die spätestens in Abstimmung mit einem möglichen Koalitionspartner und zunehmender Länge des Regierungshandelns immer weiter von den ursprünglichen Zielen abweichen. Dennoch sollten manche dieser Absichtserklärungen vor dem Gedanken der Obskurität genauer betrachtet werden, weil manches davon für politische Parteien eher zweifelhaft ist und eine darin artikulierte Vision sehr stark von anderen Problemen ablenken soll. Versprechen politischer Art lenken speziell bei bisherigen Regierungsparteien gerne von der selbst mitgeschaffenen Realität ab, sie verdunkeln den Status quo etwas, um sich auf eine strahlende Zukunft fokussieren zu können.

Im Wahlprogramm der SPD wird etwa versprochen, dass „für die Krebsbehandlung und Demenz KI Heilungen ermöglichen“ wird. Das ist nicht komplett ohne wahren Kern. Bei bestimmten Aspekten einer Krebsbehandlung können die Möglichkeiten von Machine Learning dabei helfen, bestimmte Krebsarten besser und schneller zu erkennen. Nur ist der Weg zur Heilung medizinisch gesehen noch ein sehr viel weiterer, bei dem es doch mindestens mehr als verwundert, warum diese Heilung eine politische Partei für die nächste Legislatur zusagen sollte.

In der Digital-Bubble der Digitalisierung des Gesundheitswesens scheint jedoch teils parteiübergreifend der Konsens zu herrschen, dass das alles morgen schon passieren wird und dass es dafür Unmengen an Daten brauche und jegliche Hindernisse dafür, allen voran der böse Datenschutz, müssten dafür vollständig beiseite geschafft werden. Friedrich Merz will dafür sogar einen Rabatt springen lassen.

Nur sind Kampagnen in diesem Ton wie „Daten retten leben“ nicht selten geprägt von einem Digital-Saviour-Syndrom. Möglichkeiten der Digitalisierung werden oftmals grandios überschätzt, Vorteile allein in ein strahlendes Licht gerückt und mögliche Risiken und handwerkliche Probleme verdunkelt. Radiolog*innen, deren Arbeit mit Bildgebung quasi prädestiniert ist für eine vollständige Automatisierung mittels sogenannter KI, wurde vor Jahren prophezeit, bald arbeitslos zu sein – bewahrheitet hat sich davon wenig. Dennoch hält sich ein datenoptimistisches Zukunftsbild, das uns alle retten wird, weiter hartnäckig: Alle anderen digitalen Probleme seien nicht so wichtig, Daten allein würden ja Leben retten.

Daten retten erst mal gar nichts in einem Gesundheitswesen, das von Engpässen bei Medikamentenversorgung, Zeitnot, Fachkräftemangel und Pflegenotstand geplagt ist. Das Vertrauen in das Gesundheitswesen allgemein schwindet, zumindest wenn man den Zahlen von PWC trauen will. Digitalisierung wird hier nicht zum strahlenden Einfach- und Bessermacher von Gesundheit, sondern zum Lückenfüller, zum Gehilfen einer effizienteren Mangelwirtschaft.

Da wirkt es geradezu obskur, wenn man sich im Bundesgesundheitsministerium lieber in Rauschzustände redet wegen der gerade frisch erschlossenen Datenschätze. Lieber nicht so viel über die Fakten und die Realität reden, lieber mehr über eine strahlende Zukunft, die mögliche Risiken und bestehende Mängel eher im Dunkeln lässt. Spuren von Obskurantismus in der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Aber nicht nur dort.

Forderungen auf Vorrat

Nach schrecklichen Ereignissen wie den Messerattacken in Solingen oder Aschaffenburg wird oftmals eine wohlbekannte Forderung gestellt: mehr Überwachung, mehr Befugnisse für Sicherheitsbehörden, mehr Durchgriffsmöglichkeiten.

Diesen Abschnitt habe ich jetzt dreister Weise aus der Degitalisierung von September kopiert. Weil sich bei jedem Ereignis, das die innere Sicherheit tangiert, das Ritual der Forderung nach mehr Sicherheitsbefugnissen wiederholt, brauche ich mir nicht jedes Mal die Mühe machen, neue Umschreibungen für dieses Vorgehen zu finden.

Was oftmals nicht so laut gesagt wird: Dass viele Gewalttaten sehr häufig schon eine Vorgeschichte haben. Dass viele Gewalttaten eher die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit bereits bestehender rechtlicher Rahmenbedingungen zeigen, sei es wegen schlechter Ausstattung, fehlender Fähigkeiten oder schlicht zu wenig Personal.

Die Forderung nach Vorratsdatenspeicherung ist jedes Mal eine Farce, eine zweifache sogar, wie Daniel Ende des letzten Jahres passend schrieb. Sie ist aber auch Teil einer „Security by Obscurity“-Strategie, die sich bei allen Vorfällen als Ritual immer wieder abspielt.

Wichtiger erscheint es unseligerweise in der heutigen (digital)-politischen Welt, irgendeine Art von Handlungsfähigkeit als Impuls auf einen Vorfall zu zeigen. Was auch immer der Impuls der vermeintlichen Handlungsfähigkeit genau an Änderungen beinhaltet, ist eigentlich egal. Wesentlich ist, dass der Impuls das eigene Versagen verdunkelt.

Dass bei jedem dieser Verdunkelungsversuche ein Teil unserer aller Grundrechte geopfert wird, scheint dabei politisch in Kauf genommen werden zu müssen. Datenschutz dürfe nicht Täterschutz werden, heißt es immer wieder von der Union. Außer es geht um den Datenschutz für den Überwachungsapparat selbst, etwa Softwaredetails von Palantir. Der ist dann natürlich wichtig, um den Apparat selbst zu schützen. Datenschutz als Täterschutz gibt es dann wohl doch nach diesem schrägen konservativen Grundrechtsverständnis – zumindest wenn der Staat möglicherweise als Täter auftritt.

Grundrechtlich abgewogene und evidenzbasierte Sicherheitspolitik ist eigentlich ein Zeichen einer gesellschaftlichen Reife. Das lautstarke Einfordern immer neuer Sicherheitsbefugnisse in Verbindung mit dem umfangreichen Einsatz aktueller Methoden der Massendatenverarbeitung à la biometrischer Überwachung, am besten größtenteils unreguliert, ist Zeichen eines infantilen Verständnisses von Sicherheit, das uns alle unter Generalverdacht stellt. Wie es sonst nur in den „besten“ autoritären Staaten vorkommt.

Aber kommen wir zum Thema Aufmerksamkeit auf allerlei Themen an und für sich.

Attention is all you have

Oftmals werden Transformer-Modelle als eine der technischen Innovationen der letzten Jahre bezeichnet. Modelle für maschinelles Lernen, die einen Aufmerksamkeitsmechanismus enthalten. Attention is all you need, so der Titel des wissenschaftlichen Papers zu dieser Art von Deep-Learning-Architektur. Seit der ersten Beschreibung 2017 haben sich Transformer und die darauf aufbauenden Modelle, allen voran Sprachmodelle, rasant weiterentwickelt. Die genaue Funktionsweise bleibt aber eher obskur.

Genauer beschrieben ist aber die Art und Weise, wie der Mensch mit Aufmerksamkeit umgeht. Historisch gesehen haben politisch Handelnde immer wieder so intensiv um die Aufmerksamkeit von Menschen geworben, dass diese deren Aufmerksamkeit vollends für sich beansprucht haben. Früher geschah das durch ständiges Wiederholen in Form von Propaganda, heute ist die Strategie eine andere.

Unabhängig davon, wie schnell der technologische Fortschritt im Informationszeitalter weiter vor sich gehen wird, wie durch Sprachmodelle immer mehr „AI Slop“ erzeugt werden wird, letztlich ist die menschliche Aufmerksamkeit endlich.

Spätestens mit der ersten Präsidentschaft Donald Trumps 2017 hat sich zumindest in den USA die mediale Strategie des „Flooding the Zone with Shit“ fest etabliert, frei nach dessen ehemaligem Chefstrategen Steve Bannon. Diese Strategie wird inzwischen noch viel intensiver in der aktuellen Regierungsarbeit Trumps verfolgt.

Es geht so gelagertem Populismus nicht mehr um Fakten oder Moral, es geht um das Binden von Aufmerksamkeit. Denn letztlich ist das Ringen um das begrenzte Gut der menschlichen Aufmerksamkeit in Zeiten sinkender Kosten für die Generierung von Informationen und Unterhaltung das einzig konstant Wertvolle, eine Art soziale Währung in der Aufmerksamkeitsökonomie.

Befeuert von algorithmischen und stark individuell zugeschnittenen sozialen Medien entsteht dadurch eine Gefahr für unser aller Gesundheit und die Demokratie. Eine Erkenntnis, die nicht neu ist, die aber ausgerechnet Roger McNamee, ein ehemaliger Mentor und Investor von Mark Zuckerberg – mit Facebook und Meta selbst erheblicher Teil des Problems – schon 2017 klar artikulierte.

In Deutschland werden die Strategien des Bindens der Aufmerksamkeit durch populistische Strategien bis zum faschistischen Dammbruch aktuell durch ehemals konservative Parteien der Mitte zum Setzen der eigenen Agenda inzwischen konsequent nachgeahmt. Nicht gut für die Demokratie, wenn es nur noch das Thema Migration zu geben scheint und sich alle medial in einem Überbietungswettbewerb um mehr und mehr Grenzüberschreitungen befinden, auch ehemalige Bürgerrechtsparteien.

Eigentlich bräuchte es einen Paradigmenwechsel im medialen Umgang mit dieser Art von medialem Obskurantismus. Nur fehlt uns dazu eine wirksame Strategie, so scheint es. Faktenchecks, ob Merz’ Aussagen zu Vergewaltigungen jetzt nicht doch ein Quäntchen an Fakten beinhalten würden oder ob das Publikum bei Polittalks jetzt „besonders links-grün“ sei, sind eine erst einmal vermeintlich logische journalistische Reaktion.

Nur tragen Beiträge wie diese auch nicht besonders gut dazu bei, die Agenda wieder auf eine Vielfalt von Themen zu legen, um wieder gemeinsamen Konsens herzustellen. Letztlich werden falsche oder überzogene Narrative dadurch nur noch weiter breitgetreten. Am Ende geht es nicht um die Aufklärung, es geht nicht um das Finden der Wahrheit, es geht nur weiter um Aufmerksamkeit.

Das Falsche vom Kurs abzubringen, wird nicht einfach. Schon gar nicht angesichts der hektischen medialen Phase vor der Bundestagswahl. In der Demokratie, die wir in Deutschland aber ja glücklicherweise noch haben, haben wir aber alle einen unseren individuellen kleinen Moment, in dem wir alle unser persönliches demokratisches Lichtlein, unsere Stimme, auf die richten können, die sich für die Ausbreitung des Wahren, Klaren und Nützlichen einsetzen. In diesem Sinne wünsche ich eine gute, demokratische Wahl!

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

0 Ergänzungen

Wir freuen uns auf Deine Anmerkungen, Fragen, Korrekturen und inhaltlichen Ergänzungen zum Artikel. Bitte keine reinen Meinungsbeiträge! Unsere Regeln zur Veröffentlichung von Ergänzungen findest Du unter netzpolitik.org/kommentare. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.