PlattformarbeitWas die geplante Richtlinie der EU bedeutet

Die EU will bessere Arbeitsbedingungen für Kurierfahrer*innen, Reinigungskräfte und andere in der Gig Economy. Doch was würde die geplante Plattformrichtlinie für Unternehmen in Deutschland bedeuten? Wir haben nachgefragt.

Ein Lieferando Rider in knallendem Orange vor schwarz-weißem Hintergrund.
Die Rider*innen der Lieferdienstbranche bestimmen seit Jahren das Stadtbild. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Rider: Mika Baumeister; Essen: Jimmy Dean; Montage: netzpolitik.org

Vergangene Woche hat das EU-Parlament seinen Standpunkt zur Plattformrichtlinie im Plenum verabschiedet. Damit sind die Weichen gestellt für den Trilog mit der Kommission und dem Ministerrat. So nennt man die interinstitutionellen Verhandlungen der drei Organe im Gesetzgebungsprozess der EU.

Die EU geht mit der Richtlinie Scheinselbstständigkeit innerhalb der Plattform-Industrie an. Plattformarbeit kann zwar eine flexible und niedrigschwellige Verdienstmöglichkeit darstellen, allerdings schätzt die EU, dass mehr als fünf Millionen der etwa 28 Millionen über Plattformen Beschäftigte „fälschlicherweise als Selbstständige eingestuft“ werden. Bisher entscheiden bei Rechtsstreitigkeiten nationale Gerichte über den Beschäftigungsstatus. Damit soll nun Schluss sein – die Richtlinie soll europaweite einheitlich Regelungen bringen. Die Relevanz erschließt sich mit einem Blick auf die Zahlen: Bis 2025 wird die Zahl der Beschäftigten in der Plattformindustrie vermutlich auf 45 Millionen ansteigen.

Viele Plattformarbeiter*innen arbeiten beispielsweise als Fahrer*innen für Kurierdienste oder Essenslieferanten, reinigen Gebäude oder bieten Pflegedienstleistungen an – auch in Deutschland. Wie sieht hierzulande ihr Situation aus? Sind sie bereits angestellt und welche Auswirkungen könnte die EU-Richtlinie auf ihre Arbeit haben? Das haben wir bei Wolt, Flink, FreeNow, Lieferando, betreut.de und Gorillas nachgefragt.

Kern der verabschiedeten EU-Parlamentsposition ist eine grundsätzliche „legale Vermutung“ auf eine Anstellung. Arbeitende, Gewerkschaften oder nationale Autoritäten sollen jederzeit den Beschäftigungsstatus von Plattformarbeiter*innen anfechten können. In einem daraufhin möglichen Streit zwischen Plattformunternehmen und Arbeiter*in läge es dann am Unternehmen, nachzuweisen, dass es sich nicht um ein Angestelltenverhältnis handelt. Der zweite Teil der Richtlinie beschäftigt sich mit algorithmischer Automatisierung und Kontrolle am Arbeitsplatz. Hier sollen Arbeitende mehr Rechte und Informationen bekommen. Jede für ein Arbeitsverhältnis wichtige Entscheidung solle nicht ausschließlich automatisiert erfolgen, sondern immer auch von einem Menschen überwacht werden.

Die Lieferdienst-Branche

Das finnische Unternehmen Wolt erklärt auf Anfrage gegenüber netzpolitik.org, dass alle Kurier*innen fest angestellt und krankenversichert sind. Zudem unterstütze man die Richtlinie der EU und habe sich „schon immer für eine Regulierung von Plattform Arbeit“ ausgesprochen. Diese soll aber wohl den eigenen Vorstellungen entsprechen – Wolt ist Teil der in Brüssel aktiven Interessenvereinigung Delivery Platforms Europe.

Ähnlich wie Wolt äußert sich auch das deutsche Unternehmen Flink. So wären alle „Rider und Ops Associates“ bei Flink unbefristet und fest angestellt, inklusive aller in Deutschland verpflichtenden Versicherungs- und Sozialleistungen. Auch Lieferando, Teil der niederländischen JustEatTakeAway Gruppe, sagt gegenüber netzpolitik.org, dass alle Beschäftigten bereits „regulär, unbefristet und direkt“ angestellt seien.

Gorillas, einst Berliner Start-up und jüngst vom türkischen Mitbewerber Getir aufgekauft, wollte sich auf unsere Anfrage nicht zu Arbeitsbedingungen beim Unternehmen äußern. Die Beschäftigten dort sind in der Regel fest angestellt, allerdings gab es in der Vergangenheit Berichte über befristete Verträge. Gorillas versuchte zudem laut Medienberichten, die Bildung von Betriesbräten zu verhindern.

Die Beschäftigten in der deutschen Lieferdienst-Branche sind also teilweise bereits fest angestellt – aber ist damit alles gut? Nicht ganz, findet Mark Baumeister von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Es gebe „trotz Festanstellung … noch jede Menge Probleme“. So würden Unternehmen wie Lieferando, Flink oder Gorillas versuchen, die Mitbestimmung ihrer Angestellten durch Betriebsräte zu verhindern. Stattdessen versuche man, „alternative, gesetzfreie Mitbestimmungsmodelle“ zu etablieren. Zudem gäbe es bisher keine Tarifverträge in der Branche – derzeit versuche man Lieferando an den Verhandlungstisch zu holen.

Die Richtlinie könnte, so die NGG, auch dort helfen, wo bereits Arbeitsverträge bestünden. Denn es benötige dringend mehr „Transparenz beim algorithmischen Management“. Eine App, die Aufträge verteilt und erfasst, ist ein ständiger Begleiter für viele Plattformarbeitende. Bisher ist es für Beschäftigte aber kaum nachvollziehbar, welche Daten die Apps eigentlich erheben – und erst recht nicht, was mit den Daten passiert. Weiterhin benötige es mehr Zugangsrechte für Gewerkschaften und „stärkere Mitgestaltung bei der Gestaltung der digitalen Arbeitsmittel“.

Care-Arbeit-Plattformen: Helpling und betreut.de

Ganz anders sehen die Arbeitsverhältnisse bei sogenannten Care-Arbeit- und Ride-Hail-Plattformen aus. Ein Beispiel für eine Care-Arbeit-Plattform ist die Reinigungsplattform Helpling. Bisher vermittelt die Plattform Aufträge viel an Selbstständige, bietet aber auch ein Anstellungsmodell an. Auf Anfrage von netzpolitik.org hat der europäische Gewerkschaftsbund ETUC bereits letztes Jahr die Plattform unter die Lupe genommen und befunden: Helpling-Arbeiter*innen fallen laut ETUC wohl unter die Kriterien der Plattformrichtlinie. Helpling selbst argumentiert, dass die Richtlinie überhaupt nicht auf sie zutreffen würde. Ähnlich äußert sich netzpolitik.org gegenüber die deutsche Betreuungsplattform betreut.de. Die neue Richtlinie beziehe sich auf Plattformen, „die Plattformarbeit organisieren und kontrollieren … und nicht auf Marktplätze, die lediglich Angebot und Nachfrage zusammenbringen.“

Beide Plattformen schnitten im letzten Fairwork-Jahresbericht zu Plattformarbeit in Deutschland miserabel ab. Beide bekamen zwei von zehn möglichen Punkten für faire Arbeitsbedingungen. So würden Arbeitende auf beiden Plattformen oftmals unter dem Mindestlohn arbeiten. Auf Nachfrage von netzpolitik.org, wie man bei betreut.de dafür Sorge trage, dass über die Plattform Beschäftigte nicht unter dem Mindestlohn arbeiten, sagt uns eine Unternehmenssprecherin, dass man im „Einzelfall nicht nachvollziehen könne, welcher Stundenlohn gezahlt“ werde. Zumindest sollen die Arbeiter*innen ihre Leistungen nicht mehr unter dem aktuellen gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro anbieten können.

Ride-Hail-Plattformen: FreeNow, Uber und co.

Ein Beispiel für ein Ride-Hail-Unternehmen ist FreeNow. Das „Mobilitäts-Joint-Venture“ von Daimler und BMW ist ein direkter Konkurrent von Uber und operiert wie das Unternehmen aus Kalifornien mit einer Subunternehmensstruktur. Folgerichtig sieht man sich in der Antwort gegenüber netzpolitik.org als reine „Vermittlungsplattform, die Fahrten an angeschlossene Fahrerinnen und Fahrer … vermittelt“. Indirekt deutet man an, dass die Richtlinie nicht für FreeNow gelten würde. Schließlich seien die Fahrer*innen „aus dem Bereich Ridehailing bei den jeweiligen Mietwagenunternehmen sozialversicherungspflichtig angestellt und arbeiten zudem in der Regel mit mehreren Ridehailing-Apps“. In Fairworks letztem Jahresbericht bekamen Uber und FreeNow beide einen Punkt aus zehn möglichen.

Laut Dr. Oğuz Alyanak, der für das Fairwork-Projekt arbeitet, sind Subunternehmensstrukturen wie bei Uber und FreeNow besonders gefährlich. Denn hier würden häufig Überwachung und Kontrolle fehlen. So sei oft nicht klar, was die Arbeitenden überhaupt verdienten und wie sie bezahlt würden. Während der Pandemie seien zudem weder die Plattformen noch die Subunternehmen für Einkommensverluste der Fahrenden aufgekommen. Alynanak weist hier auf Verbesserungspotential in der Richtlinie hin. So befasse sich die Richtlinie „zwar mit dem Einsatz von Subunternehmen, doch muss klarer festgelegt werden, wie diese überwacht und inwieweit Plattformen für unlautere Praktiken von Unterauftragnehmern haftbar gemacht werden können.“

Sollte sich die aktuelle Parlamentsposition durchsetzen, könnten Beschäftigte bei Plattformunternehmen jedenfalls ihre aktuellen Beschäftigungsverhältnisse anfechten – und die Plattformen müssten nachweisen, dass sie nicht doch entscheidenden Einfluss auf und Kontrolle über die Arbeitenden haben. Denn dann müssten die Beschäftigten als Angestellte behandelt werden.

Allerdings gibt es einen Haken. Dieser findet sich in Änderungsantrag 23 der Parlamentsposition. Denn hier steht, dass „Onlineplattformen, die … lediglich die Möglichkeit bieten, Angebote oder Nachfrage … zusammenzufassen und anzuzeigen, … nicht als digitale Arbeitsplattformen angesehen werden [sollten]“. Diese Definition berge die Gefahr, dass Plattformen, die sich nur als Vermittlungsportale ausgeben, nicht von der Richtlinie erfasst würden, so Alyanak gegenüber netzpolitik.org. Gerade die Lieferdienst-Branche und Ride-Hail-Unternehmen könnten davon profitieren. Also eben jene Branchen, die seit dem Kommissionsvorschlag in Brüssel gegen die Richtlinie vorgehen. Man sehe schon jetzt, wie Plattformunternehmen argumentierten, dass sie gar keinen Einfluss auf, oder Kontrolle über Arbeitende hätten. Diese Strategie spiegelt sich auch in den Antworten gegenüber netzpolitik.org wider.

Grundsätzlich begrüße man bei Fairwork aber die Richtlinie. Denn das traditionelle Beschäftigungsmodell sei dank jahrzehntelang erkämpfter Mechanismen am besten geeignet, um prekäre Arbeitsbedingungen zu adressieren. Das Ziel müsse dennoch sein, die Richtlinie so auszugestalten, „dass [alle] Arbeitnehmer, unabhängig von ihrem Status, nicht die Kosten für die von ihnen erbrachten Dienstleistungen tragen und dass sie nicht für die Erbringung von Dienstleistungen haftbar gemacht werden können.“ Und egal, welchen Status sie haben, „sollten alle Arbeitnehmer das Recht auf faire Löhne, Arbeitsbedingungen, Verträge, Management und Vertretung haben.“ Dafür müssten auch Unternehmen, die gegebenenfalls nicht von der Definition der Plattformrichtlinie erfasst würden, dafür verantwortlich gemacht werden, „Arbeitnehmern einen sicheren Arbeitsplatz zu bieten und Garantien in Bezug auf Lohn und Sozialleistungen zu geben“, so Alyanak.

Richtlinie noch nicht in Stein gemeißelt

Die geplante Richtlinie ist angesichts der immensen wirtschaftlichen Interessen der Plattformunternehmen politisch umstritten – und daher auch noch nicht in trockenen Tüchern. Schon seit die Kommission im Dezember 2021 ihren ersten Vorschlag zu einer Regulierung von Arbeit in der Plattformökonomie vorlegte, ist die Plattformindustrie auf den Barrikaden. Im Dezember 2022 konnte sich der federführende Ausschuss im Parlament auf eine gemeinsame Position einigen.

Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen begrüßten diese als fortschrittlich, die Plattformunternehmen versuchten bis zuletzt erfolgslos zu verhindern, dass das Parlament diese Position übernehmen würde. So warnte die Lieferdienst-Branche sowie Vertretende der Ride-Hail-Unternehmen vor Rechtsunsicherheit und Jobverlusten.

Die sozialdemokratische Abgeordnete Gualmini sagte dazu letzte Woche kurz vor der Abstimmung im Parlament, man solle dem Narrativ der Plattformen keinen Glauben schenken. Der Uber-Whistleblower Mark McGann sagte nach der erfolgreichen Abstimmung im Plenum des Parlaments, dies sei „ein Sieg für diejenigen, die die falsche Prämisse ablehnen, dass Wirtschaftswachstum … voraussetzt, dass die Unternehmen den hart erkämpften sozialen Schutz … aushöhlen können“.

Nach dem Parlament muss sich nun noch der Ministerrat der EU einigen. Hier hatte bisher unter anderem Deutschland blockiert. Danach folgt der Trilog zwischen den Mitgliedstaaten, dem Parlament und der Kommission; auch hier gibt es oft noch Änderungen. Nach der Verabschiedung der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um diese in nationales Recht umzusetzen.

Update: Wir haben den Artikel nachträglich mit der Erklärung von Dr. Alyanak zu Änderungsantrag 23 der Parlamentsposition ergänzt.

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