Neue MassenüberwachungChatkontrolle-Bündnis fordert Bundesregierung zum Nein auf

Am 28. September stimmt die Bundesregierung im Rat der EU über die Chatkontrolle ab. Bürgerrechtsorganisationen erinnern die Ampel-Koalition an ihren Koalitionsvertrag und drängen auf ein Nein bei der Abstimmung.

Großes Augen schaut über Mauer auf ein Smartphone.
Mit der Chatkontrolle würde eine neue Form der anlasslosen Massenüberwachung eingeführt. (Symbolbild) CC-BY-SA 4.0 Jakob Rieger/Digitale Freiheit

Das Bündnis „Chatkontrolle stoppen“ fordert die Bundesregierung auf, im Rat der EU gegen die Chatkontrolle zu stimmen. Die Abstimmung wird voraussichtlich am 28. September stattfinden. Die bisherige Position der Bundesregierung widerspreche den im Koalitionsvertrag vereinbarten Zielen der Regierung zum Schutz von Grundrechten im digitalen Raum.

Diese schlössen die Maßnahmen der Chatkontrolle explizit aus, also das anlasslose Durchleuchten privater Nachrichten, die Alterskontrollen, die erweiterten Uploadfilter und die Netzsperren. Die einzige logische Konsequenz aus dem Koalitionsvertrag sei nun, eine klare Position gegen die Chatkontrolle einzunehmen. Die Bundesregierung dürfe nicht nur einzelne Punkte ablehnen, sondern das Gesetz als solches.

Dem Bündnis „Chatkontrolle stoppen“ gehören neben fast 30 zivilgesellschaftlichen Organisationen – vom Chaos Computer Club bis zur Humanistischen Union – auch die Jugendorganisationen aller im Bundestag vertretenen Parteien außer der Union und AfD an.

Abstimmungsverhalten der Bundesregierung unklar

Noch ist unklar, wie sich die Bundesregierung bei der Abstimmung verhalten wird – sie drängte im Rat auf Verschiebung der Abstimmung, was aber von den anderen Ländern abgelehnt wurde. Auf Nachfrage von netzpolitik.org zum Abstimmungsverhalten antwortete das federführende Bundesinnenministerium: „Aus Sicht der Bundesregierung muss der Verordnungsentwurf an einigen Stellen deutlich nachgeschärft werden, damit er für die Bundesregierung zustimmungsfähig wird.“ Eine Antwort, ob Deutschland sich bei der Abstimmung enthalten oder gegen das Gesetz stimmen wird, gab das Ministerium von Nancy Faeser (SPD) nicht – und hielt netzpolitik.org bei der Presseanfrage hin.

Lehnen genug Länder das Gesetzesvorhaben ab, kann es über eine Sperrminorität gekippt werden. Vier Staaten mit zusammen mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung können eine solche Sperrminorität bilden und den Vorschlag verhindern. Dazu müssen sich Deutschland und andere Staaten enthalten oder dagegen stimmen, zum Beispiel Polen, Niederlande, Schweden und Österreich. All diese Staaten äußern sich kritisch zur Chatkontrolle.

Streit in der Koalition

Seit Monaten gibt es über die Haltung zur Chatkontrolle Streit zwischen dem SPD-geführten Innenministerium und dem Justizministerium von Marco Buschmann (FDP). Die FDP-Ministerien formulierten rote Linien, die sie im August 2022 an das Innenministerium schickten. Justizminister Buschmann positionierte sich konsistent ablehnend zur Chatkontrolle und erklärte, er lehne eine „generelle flächendeckende Überwachungsmaßnahmen privater Korrespondenz“ ab.

Ein Entwurf für ein Positionspapier aus dem Innenministerium vom Dezember 2022 war damit in weiten Teilen nicht vereinbar. Schließlich gab es im Februar ein gemeinsames Positionspapier, bei dem sich das Innenministerium in vielen Punkten durchsetzte. Einigung gab es dann zumindest zu verschlüsselten Inhalten, die von der Chatkontrolle ausgenommen werden sollen.

 


Inhalt: Offener Brief des Bündnis „Chatkontrolle stoppen“
Datum: 18.09.2023
Quelle: Digitale Gesellschaft

Bundesregierung kann die Chatkontrolle noch stoppen!

18. September 2023

Die Bundesregierung wird im Rat der EU voraussichtlich am 28. September über die Chatkontrolle abstimmen. Der Vorschlag der EU-Kommission (CSA-Verordnung) sieht gesetzliche Vorgaben für Unternehmen vor, die Inhalte der privaten Kommunikation aller Menschen zu scannen. Das Bündnis ChatkontrolleSTOPPEN! fordert die Bundesregierung auf, im Rat der EU gegen die Chatkontrolle zu stimmen.

Die bisherige Position der Bundesregierung [1] widerspricht nicht nur jeglichen rechtlichen und technischen Gutachten, sondern bricht auch mit den gesetzten Zielen des Koalitionsvertrags. Die im Koalitionsvertrag vereinbarten Ziele zum Schutz von Grundrechten im digitalen Raum sind mit der vorgeschlagenen Chatkontrolle unvereinbar.[2] Im Koalitionsvertrag verspricht die Ampel:

Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation und eine Identifizierungspflicht lehnen wir ab. Anonyme und pseudonyme Online Nutzung werden wir wahren.

Wir führen ein Recht auf Verschlüsselung, ein wirksames Schwachstellenmanagement, mit dem Ziel Sicherheitslücken zu schließen, und die Vorgaben „security-by-design/default“ ein.

Zum Schutz der Informations- und Meinungsfreiheit lehnen wir verpflichtende Uploadfilter ab.

Das schließt die Maßnahmen der Chatkontrolle explizit aus, also das anlasslose Durchleuchten privater Nachrichten, die Alterskontrollen, die erweiterten Uploadfilter und die Netzsperren. Die einzige logische Konsequenz ist, eine klare Position gegen die Chatkontrolle einzunehmen. Nicht nur das Ablehnen einzelner Punkte, sondern das Gesetz als solches.

Jurist*innen der europäischen Institutionen sowie der deutschen Regierung warnen vor den diversen Grundrechtsverletzungen, die von der Chatkontrolle ausgehen.[3] Sie würde nicht nur Millionen von Menschen unter Generalverdacht stellen, sondern auch eine Ausweispflicht im Internet bedeuten. Hunderte von Wissenschaftler*innen, haben davor gewarnt, dass der Vorschlag technisch gefährlich ist und eine ernsthafte Bedrohung für vertrauliche und sichere Kommunikation darstellt.[4] Dies könnte 2 Milliarden Menschen weltweit gefährden, die auf Verschlüsselung angewiesen sind, um ihr digitales Leben sicher zu gestalten – darunter auch die Kinder, mit deren Schutz das Gesetz begründet wird.

Selbst die an den Verhandlungen beteiligten Regierungen haben die Gefahren für ihre eigene Kommunikation erkannt und vorgeschlagen, sich selbst von der Chatkontrolle auszunehmen.[5] Dennoch wurde nach wie vor versäumt, wesentliche Änderungen zum Schutz der Menschenrechte für die Bevölkerung vorzunehmen, darunter Privatsphäre, freie Meinungsäußerung und die Unschuldsvermutung.

Trotzdem planen die EU-Innenminister*innen am 28. September über eine Position zur Chatkontrolle (CSA-Verordnung) abzustimmen, die mit europäischen Grundrechten unvereinbar wäre. Als ChatkontrolleSTOPPEN! rufen wir die Bundesregierung dazu auf, gegen die Chatkontrolle zu stimmen und damit die Rechte, Freiheiten und IT-Sicherheit der Bevölkerung zu schützen.

ChatkontrolleSTOPPEN!

Das zivilgesellschaftliche Bündnis ChatkontrolleSTOPPEN! wendet sich gegen eine geplante Verordnung der EU-Kommission, welche das anlasslose Überwachen privater Nachrichten und weitere Einschränkungen der freien Internetnutzung vorsieht.

Weiterführende Informationen zur Chatkontrolle auf der Website https://chatkontrolle.eu/ und bei den beteiligten Organisationen am Bündnis.

Endnoten:

[1] Position der Bundesregierung: https://netzpolitik.org/2023/bundesregierung-innenministerium-setzt-sich-bei-chatkontrolle-durch/, vergleiche dagegen die „roten Linien“ der FDP-geführten Minsterien Justiz und Verkehr/Digitales: https://netzpolitik.org/2022/klare-kante-gegen-chatkontrolle-fdp-papier-bringt-innenministerin-faeser-in-zugzwang/.

[2] Zusammenstellung durch European Digital Rights (EDRi) der breiten Kritik an dem Gesetz „Is
this the most criticised draft EU law of all time?“: https://edri.org/our-work/most-criticised-eu-law-of-all-time/.

[3] Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates der Europäischen Union vom 26. April 2023:
https://www.bitsoffreedom.nl/wp-content/uploads/2023/05/20230426-opinion-legal-services-on-csar-proposal.pdf

[4] Vergleiche Bericht von netzpolitik.org „Wissenschaftler warnen: Chatkontrolle ist der falsche Weg“: https://netzpolitik.org/2023/wissenschaftler-warnen-chatkontrolle-ist-der-falsche-weg/.

[5] Bericht von EDRi mit Link auf die Position des Rats der EU: https://edri.org/our-work/council-poised-to-endorse-mass-surveillance-as-official-position-for-csa-regulation/

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

10 Ergänzungen

  1. Eigentlich wäre das Grundgesetz als erstes dran. Immerhin gibt es bei Kindern immer die Möglichkeit, Kindersicherungen zu benutzen. Niemand baut Autos, die ohne Kindersitz für 2-Jährige funktionieren.

    Existierende Technologie ist offensichtlich auch kein Argument. Und das Gute daran wäre, dass mit Kindern zu kommunizieren eben zum Durchqueren eines toxischen Minenfeldes wird, weil dann allerlei KI-Schmonz zu deren Sicherheit greift.

    Wenn man sich’s überlegt, ist Chatkontrolle so, als würde man Autos nur mit Kindersitzen ausliefern, und die Erwachsenen sollen sich halt nicht so anstellen. Einen Schnuller gibt es auch gratis dazu!

  2. Sperrminorität
    M. Chardon

    S. bezeichnet die Möglichkeit, dass eine Minderheit von Staaten im Rat der EU eine konkrete Beschlussfassung verhindert. Sie dient dazu, eine mögliche Dominanz großer Staaten zu verhindern bzw. vitale Interessen einer Minderheit von Staaten zu sichern. Nach dem Vertrag von Lissabon (2009) sind bei Beschlussfassungen mit sog. qualifizierter Mehrheit mindestens 4 Mitglieder des Rates zur Bildung einer Sperrminorität erforderlich. Diese Regelung wurde getroffen, um die Vorherrschaft der 3 bevölkerungsreichsten Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) zu unterbinden.

    <>

    aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: M. Chardon

  3. Ich hoffe ja wirklich aufrichtig das dieser offene Brief etwas Gutes bewirkt. Vielleicht ist es der Tropfen, der das Fass überlaufen lässt und unsere Regierung zur Einsicht bringt.
    Allein mir fehlt der Glaube.

    1. Eine Enthaltung bei der Abstimmung würde einem Zustimmen gleichkommen. Und ich bin mir ziemlich sicher, daß es so kommen wird. Und wieder „Mit Bauschschmerzen(TM)“ natürlich.

      1. Das wäre eine Zeitenwende.

        (Kackzeit, schlecht, böse, konkret verschuldet durch Politik dieser Zeit, unnötig, dumm, gefährlich, …)

    2. Ne, wenn etwas durchgeht dann Gesetze/Maßnahmen gegen Kindesmissbrauch.

      Da kann einfach keiner nein sagen. Das Wohl der Kinder wird überall als Grundlage genommen und für konservative Argumente genutzt.

      „Cannabislegalisierung würde Kinder Schaden“

      „X würde Kindern schaden“
      „X ist gefährlich für Kinder“

      Durch das Tabu und die Angst kann hier schön durchregiert werden.

      1. „Gesetze/Maßnahmen angeblich gegen Kindesmissbrauch“, so genau sollte man sein. Denn Chatkontrolle hilft genau garnicht gegen Kindesmissbrauch, und das weiss auch jeder.

  4. Die Chatkontrolle ist wichtig, aber es ist eben nicht das erste Problem, sondern nur eine Unterkategorie.

    Aktuell werden die Daten von Algorithmen in einem unteren Layer verarbeitet ausgewertet und Verkauft. Da liegt die Bedrohung. Also keine Videos von oder über die eigenen Kinder erstellen um deren Biometrie oder Verhaltensmuster zu erstellen. Nur die Datensparsamkeit schützt vor dem aktuellen Datenverlust. Die Chatkontrolle ist später auch wichtig, aber noch wichtiger ist die Datenhygiene bei Systemen, die leider noch weniger vertrauenswürdig sind als unsere Politik…

    Daher bitte keine Kleinkinder Fotografieren, oder Videos erstellen und wenn darüber geschrieben wird bitte nur ohne Namen und mit Zufälligen Nummern (nicht K1 oder K2). Danke.

    1. Ich verstehe diese Angst ehrlich gesagt nicht. Dürfen Kinder in naher Zukunft dann nur noch mit einer Ganzkörperverschleierung raus? Schließlich kann sie draußen jeder heimlich fotografieren.

      Bin selber kein Fan davon, wenn Familien alles ins Netz stellen, aber für viele reicht der Gedanke was jmd. mit einem harmlosen Bild anstellt. Da muss man ja in Dauer-Paranoia leben und Kinder überall wegzensieren.

      In Afghanistan und co. sieht man das sowas nicht funktioniert. Extrem schräg.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.