KW 7Die Woche, in der Grundrechte vor Gericht verteidigt wurden

Die 7. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 16 neue Texte mit insgesamt 184.663 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

Fraktal, generiert mit MandelBrowser von Tomasz Śmigielski

Liebe Leser:innen,

gestern hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hätte das Handy einer afghanischen Asylsuchenden weder auslesen noch auswerten dürfen. Denn es hätte weniger eingriffsintensive Möglichkeiten gegeben, Hinweise auf ihre Identität und Herkunft zu bekommen. Damit steht fest: Das BAMF muss seine Praxis zur Datenträgerauswertung bei Geflüchteten ändern. Die Asylbehörde kann nicht einfach weiter standardmäßig Handys auslesen, ohne vorher zu schauen, ob es mildere Mittel gibt.

Das habe ich gestern zu einem kurzen Artikel verarbeitet. Ein Artikel wie viele andere auch, die täglich bei uns erscheinen. Für mich selbst war das Urteil aber weit mehr als nur eine Neuigkeit unter vielen. Ich beschäftige mich schon seit Jahren mit den digitalen Hilfsmitteln, die das BAMF eingeführt hat. Ich habe viel geschrieben und noch viel mehr recherchiert, vor allem über die automatische Dialekterkennung und das Auslesen von Handys. Habe Informationsfreiheitsanfragen gestellt und monatelang gespannt auf Antwort gewartet. Habe versucht zu verstehen, was genau da passiert, habe mit Geflüchteten sowie ihren Anwält:innen und Unterstützer:innen geredet. Habe Antworten auf parlamentarische Anfragen gewälzt.

All das habe ich getan, weil ich das Thema wichtig finde. Weil wir genau hinschauen müssen, wenn plötzlich Computeranalysen das Schicksal von Menschen beeinflussen. Wenn Menschen wie selbstverständlich ihr Smartphone zum Auslesen über den Tisch reichen sollen. Nicht, weil sie etwas falsch gemacht haben und verdächtig sind. Sondern weil sie Schutz suchen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat nun klar gemacht: Es muss sich etwas ändern. Aus juristischer Sicht ist eine entscheidende Frage zum Umgang mit den Handydurchsuchungen noch offen: Sind die deutschen Regelungen überhaupt mit Europarecht vereinbar?

Hinter alledem verbirgt sich jedoch etwas viel Größeres, nämlich die Frage: Wie wollen wir als Gesellschaft mit Geflüchteten umgehen? Sehen wir diejenigen, die hier Schutz suchen, vor allem als Risiko? Ist unsere Grundhaltung von Misstrauen geprägt? Geht es um Effizienz – bei computerisierten Asylverfahren, bei Abschiebungen, bei der Verwaltung von Daten im Ausländerzentralregister? Oder geht es um Menschen?

Für mich ist die Antwort auf diese Fragen klar. Deshalb werde ich mit meinen Kolleg:innen weiter hinschauen, wenn jemand versucht, soziale Probleme mit Technik zu lösen und dabei Grundrechte betroffen sind.

Ein schönes Wochenende wünscht euch
anna


#264 On The RecordIst das nicht ein bisschen viel verlangt, Leonhard Dobusch?

Das Fediverse und die Universitäten ist bisher ein Buch mit nur wenigen Seiten. Leonhard Dobusch ruft dazu auf, das zu ändern. Hochschul-Kommunikationsinfrastruktur soll nicht weiter in private kommerzielle Hände gegeben, sondern auf offene Protokolle gesetzt werden. Wir diskutieren im Podcast die Reaktionen auf den Aufruf „Hochschulen aller Länder ins Fediverse!“.

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Gesundheitsdaten von 73 MillionenBerliner Sozialgericht verhandelt am Mittwoch

Seit Oktober werden die Gesundheitsdaten aller gesetzlich Versicherten in Deutschland zentral gespeichert. Im Mai 2022 wurden dagegen Klagen eingereicht. Kritisiert wird vor allem ein hohes Datenschutzrisiko sowie ein mangelndes Widerrufsrecht für Betroffene. Morgen geht der Fall vor dem Berliner Sozialgericht in die nächste Runde.

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Transparenzbericht September 2022Unsere Einnahmen und Ausgaben – und der Wunsch nach dem Flugmodus

Im September sind die Tage noch recht lang und die Abende mild. Wir blicken dann aber bereits auf den Dezember. Denn zum Jahresende gibt es intern vor allem ein Thema: die Spendenkampagne. Weil uns diese zuletzt allzu sehr im Bann hielt, kommt erst heute unser Transparenzbericht für den letzten warmen Monat des vergangenen Jahres.

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Transparenzbericht Oktober 2022Unsere Einnahmen und Ausgaben – und der Beat der 90er

Während ich das schreibe, läuft im Hintergrund „Hardcore Vibes“ von Dune. Es ist das vielleicht schnellste langsame Lied überhaupt – und passt damit zum Oktober: Denn es sind noch zwölf Wochen bis zum Jahresende. Rein rechnerisch müssen wir jede Woche fünfstellige Beträge erhalten, um unser Spendenziel zu erreichen. Auf der ersten Folie unseres Kampagnenkonzepts steht: „We fight“.

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Urteil des BundesverfassungsgerichtsAutomatisierte Datenanalyse für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die automatisierte Datenauswertung durch die Polizei in Hamburg und Hessen für verfassungswidrig. Die Karlsruher Richter setzen damit der digitalen Rasterfahndung und dem sogenannten Predictive Policing Grenzen.

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Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

2 Ergänzungen

  1. „ Geht es um Effizienz – bei computerisierten Asylverfahren, bei Abschiebungen, bei der Verwaltung von Daten im Ausländerzentralregister? Oder geht es um Menschen?“

    Das ist ein Fehler in der Argumentationskette, eine falsches Alternativverhältnis. Effizienz bei der Rechtsanwendung und menschliche Rechtsanwendung stehen nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis. Die Legitimation bezieht das demokratisch geschaffene Recht gerade auch daraus, dass es effizient angewandt wird.

  2. „Die Woche, in der Grundrechte vor Gericht verteidigt wurden“

    Nicht nur Grundrechte werden verteidigt, sondern auch der entgegengesetzte Datenfluss: Zum Cookieterror kommt jetzt noch einer dazu: trustpid.com

    Gejagte sollt ihr sein!

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.