1. MaiPlattform- und Clickarbeiter:innen aller Länder!

Seit mehr als einhundert Jahren ist der 1. Mai in Deutschland ein Feiertag. Click- und Plattformarbeit sind längst nicht so alt. Doch gerade die Kämpfe der digitalen Arbeiter:innen müssen wir in den Blick nehmen – vor allem im globalen Süden.

3-D-Druck eines Menschen am Computer, links im Bild eine Faust
Wir dürfen digitale Arbeit nicht vergessen. CC-BY-SA 4.0 Mensch am Computer: Max Gruber | Bearbeitung: netzpolitik.org

Den meisten Medien war die Nachricht nicht einmal eine Randnotiz wert. Dabei ist sie – gerade mit Blick auf den heutigen 1. Mai – durchaus relevant. Am vergangenen Freitag wurde bekannt, dass sich Bertelsmann endgültig von seinem Callcenter-Geschäft trennt. Das französische Unternehmen Teleperformance übernimmt den Kundendienst-Dienstleister Majorel, an dem Bertelsmann knapp 40 Prozent hält. Kaufpreis: rund drei Milliarden Euro.

Damit konzentriert sich dieser Markt künftig auf noch weniger Anbieter. Und das hat Folgen auch für hunderttausende Arbeiter:innen. Denn Majorel betreibt weltweit nicht nur Callcenter, sondern übernimmt auch die Content-Moderation für soziale Netzwerke wie Facebook oder TikTok. Rund 82.000 Menschen arbeiten derzeit für das Unternehmen, Teleperformance hat etwa fünf Mal so viele Mitarbeitende.

Es ist ein einträgliches Geschäft – mit rosigen Wachstumsaussichten. Im zurückliegenden Geschäftsjahr verzeichnete Majorel einen Umsatz von 2,1 Milliarden Euro, ein Plus zum Vorjahr von 16 Prozent; Teleperformance verbuchte rund 10 Prozent mehr Umsatz.

Gleichzeitig nimmt damit auch die Zahl der Plattform-Arbeitenden zu – meist Selbstständige, die über digitale Plattformen Aufträge vermittelt bekommen und dann Essen liefern, Fahrdienste übernehmen oder Wohnungen putzen. Allein in der EU sind derzeit mehr als 28 Millionen Menschen als digitale Tagelöhner:innen beschäftigt. Schätzungen zufolge soll ihre Zahl bis zum Jahr 2025 auf rund 43 Millionen hochschnellen.

Sowohl Click- als auch Plattformarbeit findet oft unter prekären Bedingungen und ohne gewerkschaftlichen Rückhalt statt. Vor allem die Ausbeutung der Clickworker im globalen Süden wird dabei bewusst ausgeblendet.

ChatGPT: Traumatisierende Arbeit gegen „toxische“ Inhalte

Geradezu exemplarisch zeigt dies der aktuelle Hype um ChatGPT. Der Text-Generator erstellt wahlweise Essays, absurde Märchen oder Programmcodes – und soll, so das Versprechen des Silicon Valley, unsere Welt revolutionieren.

In der Debatte um ChatGPT – die mitunter seltsame Blüten treibt – bleibt ein bestimmtes Thema jedoch auffällig unterbelichtet: die Handarbeit von Menschen, welche die KI-Ausgaben überhaupt erst ermöglicht. Dabei verbraucht ChatGPT nicht nur gewaltige Mengen an Ressourcen, sondern beruht auch auf der Ausbeutung von Menschen – vor allem im globalen Süden.

Bevor ChatGPT im vergangenen November veröffentlicht wurde, hatten Arbeiter:innen unter anderem in Kenia das Programm „optimiert“. Dazu mussten sie laut einer Recherche des Time Magazine über Monate Darstellungen von sexueller Gewalt, Suiziden und Tierquälerei sichten – eine Tätigkeit, die die Betroffenen als „Folter“ beschreiben. Im Gegenzug erhielten sie einen Stundenlohn von gerade einmal etwa zwei US-Dollar.

Moderator:innen für soziale Netzwerke

Ein ganz ähnliches Bild zeigt sich bei der Moderation von Inhalten, die in sozialen Netzwerken gepostet werden. Um uns von verstörenden Inhalten zu verschonen, beauftragen Meta und Co. Unternehmen wie Samasource. Die auch als Sama bekannte Firma beschäftigt an unterschiedlichen Standorten weltweit Moderator:innen und ließ über Jahre unter anderem für Facebook Inhalte sichten und filtern. Auch in diesem Fall beschreiben die Mitarbeitenden ihre Arbeit als „psychische Folter“.

TikTok lagert die Conten-Moderation ebenfalls an externe Dienstleister wie Majorel aus. Für einen Stundenlohn von rund sieben US-Dollar mussten Moderator:innen in spanischsprachigen Ländern mehrere hundert Videos am Tag sichten und bewerten. Ehemalige Löscharbeiter:innen klagen gegen TikTok. Sie beschuldigen das Unternehmen, sie nicht ausreichend vor potentiell traumatisierenden Videos geschützt zu haben.

Plattformarbeitende brauchen mehr Rechte

Lösch- und Click-Arbeitende verrichten ihre Arbeit direkt im digitalen Raum. Etwas anders ist das bei Plattformarbeiter:innen: Sie erhalten ihre Arbeitsaufträge meist über digitale Plattformen. Die vermitteln ihnen dann (oft) im analogen Raum Jobs: Sie putzen, pflegen, liefern. Auch in der EU leiden diese Gig Worker oft unter ihren Arbeitsbedingungen: Viele sind scheinselbstständig. Um angestellt zu werden, müssen sie häufig vor Gericht ziehen.

Aber auch bei vielen deutschen Plattformunternehmen, die die Arbeiter:innen anstellen, gibt es Probleme. Sie erschweren, dass sich Mitarbeitende in Betriebsräten vernetzen. Und die Arbeitenden fühlen sich von den Apps überwacht, die ihre Arbeit organisieren.

Die geplante EU-Plattformrichtlinie soll die Situation der Gig Worker verbessern. Zum einen sollen künftig die Unternehmen nachweisen müssen, dass es sich tatsächlich nicht um ein Angestelltenverhältnis handelt. Und die Arbeitenden sollen mehr Rechte und Informationen bei algorithmischer Automatisierung und Kontrolle am Arbeitsplatz bekommen.

Das EU-Parlament hat seine Position zur Richtlinie beschlossen, die von den Gewerkschaften begrüßt wurde. Doch derzeit steckt das Gesetz im Rat fest, wo sich die Mitgliedstaaten noch uneinig sind.

Der Kampf findet nicht nur auf der Straße statt

Das Motto des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die diesjährigen Proteste zum 1. Mai lautet „Ungebrochen solidarisch“. Das aber heißt auch: Der Kampf „für eine gerechte und friedliche Zukunft“ findet nicht nur auf unseren Straßen und in den Fabrikhallen, sondern auch im Netz und damit weit über die bundesdeutschen Grenzen hinaus statt.

Dafür müssen wir uns immer wieder bewusst machen, wer für unsere digitale Welt schuftet. Was es bedeutet, wenn der Computer die Arbeit verwaltet und damit zum Chef wird. Und wir dürfen nicht hinnehmen, dass all den automatisierten Systemen auch Verhältnisse zugrundeliegen, in denen Menschen unsichtbar gemacht und ausgebeutet werden.

13 Ergänzungen

  1. Ohne Plattform-Nutzer keine Plattformen. (im „Globalen Norden“)
    Ohne Plattformen keine Ausbeutung. (im „Globalen Süden“)

    1. Ja, und ohne Mensch kein Morden. Fressen gibt’s trotzdem.

      Es ist total einfach:
      – Menschen dran gewöhnen.
      – Gewöhnungseffekt bügelt viel unter.
      – (Propaganda, Werbung, Konkurrenz aufkaufen, usw. usf.)

      Den bösen Nutzer gibt es in der Menge nicht in der Form. Spätestens bei Appellen ans Bildungssystem ist man dann wieder beim Henne-Ei-Problem.

  2. Die Begriffe „clickworker“ und „gig worker“ sind keine neutralen Beschreibungen von Tätigkeiten. Vielmehr handelt es sich um Begriffe, die im Sprachgebrauch keinesfalls in würdigender Absicht benutzt werden.

    Im Berufsalltag sind diese Begriffe mittlerweile verschleiernde Codewords für minderwertige Leistungen, die eine niedrigschwellige Beleidigung im Bedeutungsrahmen transportieren.

    In der IT-Branche ist man findig, beschönigende Wörter für PR-schädliche Umstände zu erfinden, die digital colonialism oder Digital-Sklaverei verschleiern sollen. Man sollte diesem Framing keinen Vorschub leisten, indem man solche Begriffe ohne Kritik übernimmt.

    1. „Im Berufsalltag sind diese Begriffe mittlerweile verschleiernde Codewords für minderwertige Leistungen“

      Noe. Minderwertige Leistungen will man weder bekommen, denn das gibt nur Ärger und Kosten, noch bezahlen.

      Bisschen arrogant oder eher ahnungslos?

  3. Gibt es Sozialpartnerschaft im IT-Bereich?
    Welche IT-Arbeitgeber zahlen Tariflohn?
    Welche IT-Gewerkschaften gibt es?

    1. … so als Datenpunkt, ich arbeite (im weitesten Sinne) in der IT, und unser Betrieb ist klassische Metal-und-Elektrobanche, d.h. Tarifvertrag IGM. Und gleichwerting sollte das in der Automobilbranche sein …

      Reine IT-Gewerkschaften in DE gibt’s (afaiu) noch nicht, aber siehe zB https://alphabetworkersunion.org/people/our-union/

    2. Aus gut unterrichteten Gewerkschaftskreisen haben Brainstürmer in den 90er Jahren nach einprägsamen Namen für eine IT-Gewerkschaft gesucht. Dafür wurden mehrere Kreativ-Wochenenden angesetzt, wobei IGIT stets der Favorit war.

      Zuerst fand man das noch lustig, aber nach der dritten Runde hat man davon abgelassen. Die Verhältnisse haben sich grundlegend geändert, insofern wäre das ein prägnanter und programmatischer Name.

      1. Bis auf ein paar Einzelkaempfer hat eine komplette Generation Gewerkschaftsfunktionaere alle Aspekte von IT und IT-Arbeitnehmern vorsaetzlich ignoriert und verschlafen, BTST. War ja bequem, einfach weiter zumachen, da ist man SPD und CDU (die gutverdienende Stammbelegschaft beim Daimler am Band waehlt nicht SPD) ganz nahe.

        Und noch immer tut man sich wahnsinnig schwer mit modernen Arbeitsformen und sich daraus ergebenden Moeglichkeiten, Risiken und Problemen. Ueber 20 Jahre konzeptioneller Rueckstand laesst sich eben nur schwer aufholen.

  4. Ja, wo sind sie denn, die digitalen Arbeiter:innen?
    Am 1. Mai? Was tun sie an diesem Tag?
    Und sonst? Welcher Moral huldigen sie?
    Welcher Gewerkschaft gehören sie an?
    Wen beuten sie aus? Sich selbst? Warum?
    Selbstverwirklichung? Wirklich?
    Freiheit? Von was?
    Almende? Wem gehört sie?

  5. Plattformen sind nicht unsinkbar.
    Oben spielt noch das Orchester und es wird getanzt.
    Unten steht der Maschinenraum weit unter Wasser.
    Beschäftigte gehen über Bord.
    Blaue Häkchen werden verkauft.
    Die Datenrettung ist angefordert.

    1. Deswegen sind die Daten jetzt um so gefährlicher. Denn was passiert beim Untergang? Wie reißt man seine Feinde mit? Welches Unternhemen verklappt nicht seine Daten bzw. Nutzer an Staat/Kirche/Konkurrenz, wenn es untergeht? Wie handhaben Staaten das, wenn es knapp wird?

      Im Moment geht ja ChatGPT und co. „unter“, dabei bauen allerlei Netzwerke solches ein, und füttern im Hintergrund implizit weitere Schnorchelergebnisse über ihre Nutzer zu. Da ist der Datenschutzdatenpunkt aus Italien insofern interessant – jetzt muss man noch bei den ganzen anderen „sozialen“ Netzwerken einzeln anfragen, ob die das auch korrekt handhaben, nehme ich mal an. Die Daten, die so vermutlich bei OpenAI aufschlagen, sind schlimmer als Suchdaten, wegen der Interaktionsrelevanz, und dazu noch einfach so zusätzlich zu allerlei anderen Daten. Ganz sicher ist das nicht, ob die nicht eine on-premise-Variante nutzen, aber selbst dann, ist das mit den Prompts mindestens mal ungeklärt. Selbst wenn OpenAI nicht der einzige singuläre Moloch wird, ist das dennoch problematisch.

      Formen von Geankengängen und dann nicht nur „irgendwie einen Text geöffnet“, sondern konkrete Interaktion mit Textstelle und Rückfrage. Vermutlich wird der Gedankengang an sich dann auch noch ausgelagert.

      1. Wobei das vielleicht gar nicht mal so klar ist. Wer weiß schon, was Nutzer aus Verzweiflung alles eintippen, weil die Suche nicht einfach „das Ergebnis“ liefert? Da kann man sicherlich so einiges herausziehen.

        Das mit den Textstellen stimmt wohl schon, vor allem auch der Einblick und Eingriff, denn das ist es, in den Denkprozess, den Schaffensprozess, bis zur „Kreativität“ „selbst“ hin. Ein Werkzeug formt, was wir werken können, nicht was wir schreiben können. Naturgemäß kommt die Hirnschnittstelle in der Linie etwas später: immer intrusiver, immer grundlegender, immer mehr Lenkungsmöglichkeiten. Zunächst Potential, aber schon in den bestehenden Netzwerken konkret geübt und vorbereitet.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.