Von Juli 2016 bis Juni 2022 durfte ich den Bereich „Internet“ im ZDF-Fernsehrat vertreten, ab Juli 2022 werde ich als Mitglied des ZDF-Verwaltungsrats weiterhin mehr oder weniger regelmäßig Neues aus dem Fernsehrat berichten. Eine Serie.
„Journalismus in sozialen Netzwerken: ARD und ZDF im Bann der Algorithmen?“ lautet der Titel einer von Henning Eichler für die Otto-Brenner-Stiftung verfassten Studie (PDF, Zusammenfassung der Ergebnisse bei netzpolitik.org). Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, „ob eine algorithmische Logik inzwischen an die Stelle von redaktioneller Autonomie tritt“. Schon diese Frage liefert einen Hinweis auf die kritische Haltung des Autors gegenüber den Folgen algorithmischer Aufmerksamkeitslogiken für öffentlich-rechtliche Produktionsprozesse.
Und die Studie liefert reichlich empirisches Material, um diese kritische Haltung zu rechtfertigen. So werden zum Beispiel Reportagen umgeschnitten, um besser auf YouTube zu funktionieren („Die erste Minute des Films muss noch YouTube-typischer werden,“ S.6) oder Themen gewählt, weil sie auf Plattformen gut funktionieren („trenden“). Und weil Plattformen Interaktion („Engagement“) belohnen und Empörung ebensolche Interaktion befördert, führe das zu einem „permanenten Konflikt … Inhalte entweder mehr auf Reichweite oder eher auf inhaltliche Qualitätskriterien hin umzusetzen“ (S. 65).
Öffentlich-rechtliche Reichweitenjagd
So ein Dilemma zwischen journalistischem Anspruch und autonomer Themenwahl auf der einen, und Reichweitenmaximierung auf der anderen Seite, ist allerdings nicht neu. Schon 1964 zeigte sich ZDF-Gründungsintendant Holzamer quotenskeptisch und warnte davor, das man „auf die Dauer … von der ewigen Jagd nach den ganz großen Zuschauerzahlen nichts gewinnen“ könne. Und 1987 beklagte Der Spiegel: „Seichte Serien überfluten die Kanäle, immer schamloser buhlen ARD und ZDF um die Massengunst.“
Öffentlich-rechtliche Medien kämpfen also immer schon damit, dass ihre Legitimation auch auf relevante Reichweiten angewiesen ist, für die dann bisweilen Kompromisse bei Tiefgang oder Themenwahl gemacht werden. Im Kontext kommerzieller Plattformen hat sich jedoch geändert, wie diese Kompromisse aussehen – was also getan werden muss, um Reichweite zu erzielen.
Mehr Publikumsinteraktion wegen Plattformalgorithmen
An dieser Stelle ist mir Eichlers Analyse dann doch ein wenig zu einseitig auf die Gefahren und Nachteile der Algorithmen kommerzieller Plattformen hin orientiert. Gerade die zentrale Metrik des „Engagements“ zwingt nämlich öffentlich-rechtliche Medien dazu, sich auf den Austausch mit dem Publikum einzulassen. Klar, das ist mit großem Aufwand verbunden. Die Herausforderungen bei der Moderation und die dafür fehlenden Ressourcen macht Eichler in seiner Studie auch sehr gut sichtbar.
Gleichzeitig profitieren öffentlich-rechtliche Angebote und Redaktionen aber auch davon. Beim öffentlich-rechtlichen Jugendangebot Funk heißt es in deren Bericht für die Jahre 2018-2020 dazu:
Die wichtigste Form von Interaktion und Partizipation sind für funk Kommentare. funk betrachtet Videos als Auftakt zur Diskussion in den Kommentarspalten und möchte Nutzer*innen dazu anregen, sich aktiv an Diskussionen zu beteiligen und so zur Meinungsbildung beizutragen. Für alle Formate ist es selbstverständlich, auf Kommentare zu reagieren und so den Austausch mit der Zielgruppe zu stärken.
Neben Feedback und Themenvorschlägen wird in dem Bericht auch auf die grundlegende Bedeutung moderierter Community-Diskussionen für Meinungsbildungsprozesse verwiesen.
Meine These ist: ARD und ZDF würden heute noch die Mühsal von Community-Moderation scheuen, wenn kommerzielle soziale Netzwerke nicht Engagement mit Reichweite belohnen und so zur Interaktion mit dem Publikum zwingen würden. Die weitgehend fehlende Möglichkeit zur Interaktion in öffentlich-rechtlichen Mediatheken ist der beste Beleg für diese These.
Auch in anderer Hinsicht können mit Plattformalgorithmen sowohl positive als auch negative Anreize verbunden sein. Zum Beispiel können Algorithmen insofern sie Verweise auf andere Inhalte fördern, das wünschenswerte Offenlegen von Quellen und Bezügen (was Felix Stalder „Referenzialität“ nennt) belohnen. Denkbar ist aber natürlich auch der gegenteilige Effekt, wenn Plattformen wie zum Beispiel Instagram oder TikTok externe Links verbieten oder erschweren.
Fazit
So wichtig es also ist, die Gefahren einer unreflektierten und übermäßigen Orientierung an kommerziellen Plattformalgorithmen in den Blick zu nehmen, so wichtig ist es auch, die Potenziale der Nutzung von Drittplattformen nicht aus dem Blick zu verlieren. Das betrifft sowohl den Zugang zu ansonsten schwer erreichbaren, vor allem jüngeren Zielgruppen, als auch wünschenswerte Effekte von bestimmten Plattformalgorithmen und -features.
Das gilt umso mehr, wenn unter Drittplattformen nicht nur die großen kommerziellen Player, sondern mit der Wikipedia auch die reichweitenstärkste nicht-kommerzielle Drittplattform in den Blick genommen wird. Diese Plattform zu bespielen, hat nämlich ebenfalls äußerst wünschenswerte Effekte auf öffentlich-rechtliche Angebote: deren Inhalte sind dann nämlich unter freien Lizenzen zur Nachnutzung verfügbar.
Danke für diesen Einblick.
Ich sehe als größtes Problem bei öffentlich-rechtlichen Aktivitäten auf Drittplattformen die Exklusivität. Teilweise gibt es Videos und andere Inhalte exklusiv auf Instagram, Tik Tok dda..
Damit allen diese Inhalte auch unabhängig von den AGBs und dem Willen der Drittanbieter verfügbar sind, sollten all diese Inhalte auch auf Websites, in Mediatheken oder ins Fediverse gespiegelt werden.
Nun wenn ein Mensch Inhalte auf diesen Dritt-Plattformen konsumiert, sollte sich über diese abfälligen Eingriffe eigentlich bewusst sein. Von daher stört es mich eigentlich nicht.
Es ist als ob ein Freund oder eine Freundin, erzählt welche Erfahrungen sie hatte. Kein Vergleich zu dem Original.
Genau genommen war es schon immer so. Wir sollten lieber Wert auf die Ursprungsquelle legen und dafür sensibilisieren.