Eine drastische Regelung soll den laufenden Präsidentschaftswahlkampf in Brasilien fairer machen, bereitet aber Internet- und Grundrechts-Expert:innen Sorgen. Am Donnerstag, den 20. Oktober, hat das brasilianische Oberste Wahlgericht TSE einstimmig entschieden, dass Online-Plattformen wie Facebook auf Anweisung hin Falschinformationen entfernen müssen. Einer Aufforderung des TSE-Präsidenten Alexandre de Moraes müssen die betroffenen Unternehmen binnen zwei Stunden nachkommen, ansonsten droht ihnen eine Geldstrafe. Bei mehrmaliger Missachtung kann sogar eine zeitweise Sperre des Dienstes die Folge sein.
Diese Befugnis besitzt der TSE-Präsident von nun an während laufender Wahlkämpfe. Normalerweise sind Gerichtsurteile nötig, um Inhalte als rechtswidrig zu klassifizieren und ihre Entfernung zu verlangen. Einer Analyse der BBC Brasil zufolge kann der TSE-Präsident sich auf bereits getroffene Urteile des Obersten Wahlgerichts berufen. Wenn der TSE einen bestimmten Inhalt als rechtswidrig eingestuft hat, kann der TSE-Präsident das Entfernen identischer Inhalte anordnen, ohne dass ein Gerichtsverfahren nötig ist.
Die Unternehmen haben nach Aufforderung durch de Moraes zwei Stunden Zeit, Inhalte zu löschen – sonst kann es sie zwischen 100.000 und 150.000 Real pro Stunde kosten, das sind 20.000 bis 29.000 Euro. Drei Tage vor der Wahl bis zwei Tage danach wird die Frist sogar auf eine Stunde verkürzt.
Schwierige Abwägung
„Es ist ein sehr komplizierter Balanceakt“, sagte Philip Friedrich von der US-Nichtregierungsorganisation Freedom House der New York Times. „Der Versuch, die Integrität der demokratischen Institutionen Brasiliens und das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung zu schützen und gleichzeitig die Sicherheit der Menschen im Netz zu gewährleisten.“ Carlos Affonso Souza von der Universität in Rio de Janeiro sagte, das Urteil vom Donnerstag „könnte zu weit gehen, je nachdem, wie“ der TSE-Präsident seine Macht ausübt.
Das Vorgehen des Wahlgerichts gilt als Präzedenzfall in der Frage, wie weit Staaten bei der Bekämpfung von Falschmeldungen im Internet gehen. Brasilien hat schon öfters mit Desinformationskampagnen zu kämpfen gehabt, so zum Beispiel bei der letzten Wahl im Jahr 2018. Letztlich hat etwa WhatsApp eingeschränkt, wie oft eine Nachricht weitergeleitet werden kann oder wie viele Personen Mitglied eines Gruppenchats sein dürfen.
Dass Plattformen bisher nicht ausreichend gegen Falschinformationen vorgehen, haben Versuche der Nichtregierungsorganisation Global Witness belegt. Die NGO hat vorgegeben, Anzeigen schalten zu wollen, die ein falsches Wahldatum nannten oder die Glaubwürdigkeit der Wahl infrage stellten . YouTube habe alle diese Anzeigen freigegeben, Facebook immerhin die Hälfte.
Mächtiger Jurist
Alexandre de Moraes, der von verschiedenen Medien als begabtester Jurist Brasiliens bezeichnet wird, ist nicht nur Präsident des Wahlgerichts, sondern auch Richter am Obersten Gerichtshof. Der amtierende Präsident, Jair Bolsonaro, betreibt regelmäßig Hetze gegen de Moraes – nicht zuletzt deshalb, weil dieser ihn immer wieder in die Schranken seiner verfassungsmäßigen Möglichkeiten gewiesen hatte. Einige Dekrete Bolsonaros hatte de Moraes kassiert und sich die Diffamierung als „Diktator“ eingehandelt. Bolsonaro hatte sogar versucht, den Richter seines Amtes zu entheben, war damit aber gescheitert.
Die aktuelle Regelung dürfte Öl ins Feuer jener Bolsonaro-Unterstützer:innen gießen, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der kommenden Wahl säen. Allerdings hat de Moraes kürzlich erst ein Interview mit Bolsonaro löschen lassen, was ihn laut Einschätzung der Süddeutschen Zeitung „im Rennen“ gehalten hat. In dem Interview hatte Bolsonaro von einem „Knistern“ zwischen ihm und einem minderjährigen Mädchen gesprochen, was ihm viel Kritik eingebracht hatte. De Moraes hielt das Video für aus dem Kontext gerissen.
In Brasilien geht die Präsidentschaftswahl am 30. Oktober in die Stichwahl. Amtsinhaber Bolsonaro muss dabei den Sieg seines Kontrahenten Lula da Silva fürchten, der den ersten Wahlgang für sich entscheiden konnte. Lula da Silva ist ehemaliger Präsident und linker Politiker.
Gesetzliches Vorgehen gegen Falschinformationen, besonders politische, haben wir auch irgendwie.
Delikte wie üble Nachrede und Verleumdung und die spezielle Politiker:innenversion davon, die nicht nur die Betroffenen anzeigen können: Gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung.
Fehlt nur noch eine Polizei, die solchen Anzeigen bemerkbar nachgeht.
Die größte Gefahr für die Demokratie ist die Kommerzialisierung der Informationsverbreitung. Wir sehen seit Jahrzehnten, dass das genau dazu führt, dass:
1. Es einen Markt für Aufmerksamkeitsgewinnung gibt und dadurch
2. Nicht die wahrhafte sondern die aufregende Nachricht gewinnt. Es also ganz klare Anreize gibt Falschinformationen zu streuen.
3. Es durch hohen Geldeinsatz hohe Gewinnerwartungen gibt, die um jeden(!) Preis erzielt werden müssen (Danke, dass Ihr spendenbasiert arbeitet.)
4. Durch den Aufmerksamkeitsmarkt es ganz klare Anreize gibt, keinen tiefgründigen Gedankenaustausch zu ermöglichen sondern ein ständiges, unklares Hin und Her, Whataboutism etc.
5. Dadurch die ganze Last der „Informations-Müllabfuhr“ beim Leser liegt. Durch die ständige erzeugte Erregung wird tiefgehende Bildung, die Ruhe, Zeit und innere Gelassenheit voraussetzt, bewusst verunmöglicht. Auch demokratische Prozesse brauchen diese Rahmenbedingungen und leiden unter dem Getrieben-Sein. Die Nachrichtenflut mit ihren ständigen „News“ erzeugt den Eindruck, dass eine Phase der Unwissenheit und der Unklarheit etwas Schädliches oder geradezu Perverses ist, das unbedingt und sofort abgestellt werden muss; wodurch dann Politiker zu blödsinnigen Aussagen gehetzt werden, die sie ja doch nur gleich wieder revidieren müssen.
Das, was wir jetzt sehen. Sind nur die Auswirkungen dieser Perversion. Natürlich funktioniert das nicht, sondern schädigt die Demokratie in Brasilien nur noch mehr. Aussagen der Opposition sind jetzt einfach Falschbehauptungen und fliegen aus dem Nachrichtenstrom. Und da ist es auch egal, dass die Vorschläge jetzt aus der derzeitigen Opposition kommen.