Neues aus dem Fernsehrat (72)Rezension: Die ‚Strategie ORF 2025‘

Nicht nur in Deutschland, in ganz Europa sind öffentlich-rechtliche Medien mitten im digitalen Transformationsprozess. Der österreichische ORF skizziert in einer „Strategie ORF 2025“, wie globale Plattformgiganten herausgefordert werden sollen. Netzpolitik.org veröffentlicht exklusiv das Strategiepapier in voller Länge.

ORF-Logo vor ORF-Studio in Wien
Das Logo des österreichischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieters ORF CC-BY-NC 2.0 Gerhard W. Loub

Seit Juli 2016 darf ich den Bereich „Internet“ im ZDF-Fernsehrat vertreten. Was liegt da näher, als im Internet mehr oder weniger regelmäßig Neues aus dem Fernsehrat zu berichten? Eine Serie.

In einer Hinsicht ist der österreichische öffentlich-rechtliche Rundfunk ORF seinen deutschen Pendants im Internet voraus. So ist das Nachrichtenportal ORF.at in Österreich klarer Marktführer (mit Ausnahme von Vorarlberg im äußersten Westen Österreichs). In vielen anderen Bereichen hinkt der ORF jedoch inzwischen hinterher – vor allem weil es an den gesetzlichen Voraussetzungen für neue digitale Angebote fehlt:

  • Anders als ARD und ZDF darf der ORF keine eigenen YouTube-Kanäle betreiben. Das erschwert nicht nur den Zugang zu jüngeren Zielgruppen, es verhindert auch den Aufbau diverser Channel-Archive sowie von YouTube-spezifischem Know-how. 
  • Bis Mitte 2019 durften auch ARD und ZDF fast ausschließlich Online-Angebote mit Sendungsbezug gestalten. Beim ORF ist das auch 2021 noch so, dass er keine Online-Only-Angebote entwickeln darf.
  • Aus dem Verbot von YouTube-Kanälen und Online-only-Angeboten folgt logischerweise, dass der ORF über kein mit funk vergleichbares Jugendangebot verfügt, das primär über Drittplattformen wie YouTube oder Instagram ausgespielt wird. 
  • Während ARD und ZDF mittlerweile sogar über ein gemeinsames Login-System verfügen, ist in der ORF-TVThek kein Login und damit keine Personalisierung vorgesehen. Auch das ist vor allem ein Nachteil für die Zukunft, weil die Lernkurve bei der Entwicklung von personalisierten Empfehlungsalgorithmen fehlt, selbst wenn irgendwann für den Tag X solche Möglichkeiten geschaffen werden.

Kein Wunder, dass in Österreich also seit Jahren und über die diversen Regierungskonstellationen hinweg über eine Reform des ORF-Gesetzes diskutiert wird, das auch dem ORF mehr Handlungsspielraum im digitalen Bereich eröffnen könnte. Zumindest in einem aktuellen, im Dezember 2020 beschlossenen und von netzpolitik.org exklusiv veröffentlichten Strategiepapier (PDF), geht man beim ORF davon aus, dass es zeitnah zu entsprechenden gesetzlichen Änderungen kommen dürfte. In Folge eine kommentierte Zusammenfassung relevanter Passagen daraus, auch im Vergleich mit der Situation in Deutschland.

Vom Rundfunkanbieter zum Plattformbetreiber

Der Anspruch von „Strategie ORF 2025“ ist durchaus ambitioniert, soll es doch den Transformationsprozess „vom Public Service Broadcaster zur Public Service Plattform“ einleiten. Lineare „Channels“ und „non-lineare Plattformangebote“ sollen demnach gleichberechtigt zu einem „hybriden Gesamtangebot“ kombiniert werden. Gerade angesichts der eingangs skizzierten rechtlichen Rahmenbedingungen ist das eine mutige Ansage, die so ausdrücklich bei den deutschen Rundfunkanstalten keineswegs Konsens ist. Jenseits von funk dominiert ganz klar das lineare Angebot. ZDF-Intendant Bellut forderte noch 2018 im Fernsehrat, „dass die Anmutung des ZDF online die eines Fernsehsenders ist“. Und auch das 2020 verabschiedete Telemedienkonzept des ZDF bleibt sehr zurückhaltend bei der Entwicklung von Online-Only-Angeboten.

Zentral für die Transformation des ORF zur Plattform ist ein bereits seit einigen Jahren in Entwicklung befindlicher „ORF-Player“. Er soll mit einer Kombination aus „Plattformprinzipien“ – laut Strategiepapier „On Demand, Personalisierung, User-Zentriertheit, Kooperation, Longtail-Entwicklung, Vernetzung von Devices/Customer Journey, Economies of Scale“ – und europäischen und regionalen Inhalten „ein Gegengewicht“ zu den großen „Plattformgiganten“ schaffen. Überhaupt gibt es kaum eine Seite im Papier, auf der nicht auf den ORF-Player verwiesen wird. Ganz oben auf der Liste der „Prinzipien“ des ORF-Players stehen „Online First“ und „Online Only“.

Publikumseinbindung und Standortpolitik

Keine Rede ist im Papier jedoch, trotz Betonung des Plattformkonzepts, von der Einbindung nutzergenerierter Inhalte. Wie groß die Skepsis gegenüber nutzergenerierten Inhalten ist, illustriert die einzige Stelle, an der von „User-generated Content“ die Rede ist: ihm gelte es im neuen Newsroom mit „Verification und Checking“ zu begegnen. Wer Inhalte nicht nur konsumieren, sondern selbst teilen möchte, ist also auch in Österreich weiterhin auf private Plattformanbieter angewiesen.

Was Standortpolitik betrifft, gibt es ein klares Bekenntnis zu einer „zu schaffenden ‚European Public Sphere'“, der ORF-Player soll Teil eines „europäischen Ökosystems“ werden. Um einiges konkreter aber die Ansagen, was den Medienstandort Österreich betrifft. So verspricht das Strategiepapier einen verstärkten „Austausch von Contents mit österreichischen Medien“ und die „Schaffung gemeinsamer Vermarktungsplattformen im digitalen Bereich“ um „niedrigschwellige Abo-Systeme insbesondere digitaler Printmedien [zu] stützen“. Alle diese Punkte zielen auf eine stärkere Zusammenarbeit von ORF und privaten Medienanbietern ab und entsprechen damit Plänen im schwarz-grünen Regierungsprogramm, „die Kooperation von ORF und Privaten zu forcieren“. Insbesondere eine „gemeinsame Log-in-Strategie“ soll dabei privaten Medien die Monetarisierung erleichtern – in der Schweiz ist ähnliches gerade unter dem Titel „Play Suisse“ in Arbeit.

Login mit Registrierungscode

Wie bereits erwähnt gibt es in der ORF-TVThek bislang keine Möglichkeit zum Login und entsprechender Personalisierung des Angebots. Mit dem geplanten ORF-Player soll sich das nicht nur ändern, die Bedeutung des Logins soll auch größer sein als bei ARD und ZDF:

„wesentliche Inhalte des ORF-PLAYERS werden nur mit einem von der GIS zur Verfügung gestellten Registrierungscode nutzbar sein.“

Bei ARD und ZDF sind alle Inhalte prinzipiell auch ohne Login erreichbar, allerdings nicht rund um die Uhr. Aus Gründen des Jugendschutzes sind manche Sendungen nur nach Login mit Altersverifikation zugänglich. Von der EU-rechtlich eingeräumten Möglichkeit, den Login auch mit einem Nachweis einer „GEZ-Nummer“ auszustatten und so zur Umgehung von Geoblocking einzusetzen, machen die deutschen Öffentlich-Rechtlichen bislang keinen Gebrauch. Der Registrierungscode deutet darauf hin, dass der ORF-Player diese Möglichkeit nutzen möchte. Fußballspiele der österreichischen Nationalmannschaft ließen sich dann von GIS-Zahlenden auch in Deutschland ohne VPN-Client via ORF-Player streamen. Gleichzeitig liest sich der betreffende Absatz so, als sollten auch innerhalb von Österreich bestimmte Inhalte nur gegen GIS-Code nutzbar sein. Das würde natürlich den Druck sich einzuloggen, massiv erhöhen. Gut für Personalisierung und Empfehlungsalgorithmen, fragwürdig aus Datenschutzgründen.

Zukunft von Spartenkanälen 

In Deutschland wurden im Vorfeld der Gründung des Jugendangebotes funk jeweils ein Spartenkanal bei ARD („EinsPlus“) und ZDF („ZDFkultur“) eingestellt. Auch im ORF-Strategiepapier finden sich, etwas verklausuliert, Pläne zur Einstellung von Spartenkanälen. So dürfte auf Perspektive die Einstellung des Sportkanals ORF Sport+ anstehen:

Eine Migration von SPORT+ in den digitalen SPORT-Player ist mit dem Aufbau der Reichweite des ORF-Players zu synchroniseren.

Am Kultur- und Informationskanal ORF III sowie den beiden Hauptprogrammen ORF 1 und ORF 2 soll festgehalten werden, „wesentliche Teile des Kinderprogramms“ sollen jedoch in ein neues „OKIDOKI-Kindermodul“ des ORF-Players migriert werden. Im Radiobereich wird der Fortbestand des alternativen Jugendkultursenders FM4 offiziell auf den Prüfstand gestellt:

Die strategische Positionierung von FM4 ist zu überprüfen und im Hinblick auf eine Migration in die SOUND-/Podcast-Plattform zu entscheiden.

Ob der ORF-Player auch als vollwertiger Podcatcher funktionieren und damit das Abonnement externer Podcasts erlauben könnte, steht nicht im Strategiepapier. Ganz allgemein findet sich, trotz der großen Innovationsdynamik in diesem Feld, wenig zu Hörfunk- und Podcastangeboten in dem Papier. Denkbar wäre hier zum Beispiel mehr in serialisierte Podcasts zu investieren sowie das Podcastangebot durch ein Ende der Zahlungspflicht beim Ö1-Downloadservice zu stärken. 

Drittplattformen und „Young-Audience-Strategie“ 

Eine der relevantesten Fragen für zukünftige Reichweite und Relevanz öffentlich-rechtlicher Angebote ist deren Präsenz auf Drittplattformen wie YouTube, Facebook Instagram oder aber auch Wikipedia. Im ORF-Strategiepapier sind Drittplattformen ganz klar der ORF-Player-Strategie untergeordnet. So wird zwar das Ziel formuliert, „Nutzerinnen und Nutzer auf den von ihnen meistgenutzten Social-Media-Plattformen mit öffentlich-rechtlichen Inhalten zu erreichen,“ eine offensive Drittplattformstrategie auch nur für Teile des Angebots – wie sie beispielsweise in Deutschland bei Funk verfolgt wird – gibt es demnach vorerst nicht. 

So soll auch im Bereich der „Young-Audience-Strategie“ wenig überraschend der ORF-Player als „Zentrales Instrument zur Umsetzung dieser Strategie“ dienen. Es wird interessant sein zu sehen, ob dieser Ansatz – die junge Zielgruppe außerhalb der großen kommerziellen Plattformen über ein eigenes Digitalangebot zu erreichen – von Erfolg gekrönt sein wird. Schließlich werden wie in den Telemedienkonzepten der meisten deutschen Anstalten gemeinnützige Drittplattformen wie die Wikipedia nicht mitgedacht, Themen wie freie Lizenzen für Bildungsinhalte fehlen auch im ORF-Strategiepapier.

Fazit

Vom grundlegenden Ansatz her ist die „Strategie ORF 2025“ durchaus ambitioniert. Das Ziel, eine digitale Plattform ins Zentrum zu stellen und, zumindest teilweise in Kooperation mit privaten Medienhäusern, den großen kommerziellen Plattformen Paroli bieten zu wollen, kommt Vorstellungen wie der für Deutschland diskutierten „Supermediathek“ ziemlich nahe. Angesichts der sehr starken Marktposition des ORF in Österreich ist so eine Strategie nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt und kann als ambitionierter Versuch gewertet werden, einen Beitrag zu digitaler Souveränität Europas zu leisten. Vor allem bei jüngeren Zielgruppen – und damit über 2025 hinausgedacht – stellt sich aber die Frage, ob ein ORF-Player mit der dynamischen Entwicklung auf den globalen Plattformen mithalten kann – oder ob es hier nicht doch eine „Drittplattformen First“-Strategie bräuchte. 

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