Irgendwann zu Jahresbeginn 2021, als die USA und der Rest der Welt mit der Corona-Pandemie kämpfen, fasst Frances Haugen einen Entschluss. Die Facebook-Mitarbeiterin kopiert heimlich zehntausende Seiten an internen Forschungspapieren des Konzerns. Papiere, die zeigen, wie viel der Konzern über die zerstörerische Wirkung seiner Produkte wusste – und wie wenig er dagegen getan hat. „Ich habe begriffen, okay, ich muss das auf eine systematische Art tun und ich muss genug davon mitnehmen, so dass niemand daran zweifeln kann, dass das real ist“, sagt Haugen später.
Die Enthüllungen aus Haugens Papieren sorgen für Schlagzeilen auf der ganzen Welt. Am 13. September veröffentlicht das Wall Street Journal die erste Geschichte daraus. Sie enthüllt, dass Facebook Millionen von Promis von seinen Regeln ausnimmt – ein Privileg, das von Politiker:innen wie Donald Trump schamlos missbraucht wurde.
Es folgen weitere Schlagzeilen, weitere Enthüllungen zahlreicher Medien – die Facebook Papers. Aus ihnen geht hervor, dass Facebook über Hassbotschaften und Aufrufe zur Gewalt gegen muslimische Minderheiten in Indien Bescheid wusste, aber nichts unternahm. Oder, dass trotz internen Warnungen über die rapide Verbreitung von Verschwörungsmythen im Vorfeld der US-Wahl 2020 passiv blieb. Bis heute weist der Konzern die Verantwortung für die Ausbreitung von Falschinformation über angebliche Wahlmanipulation, die im Sturm auf das Kapitol am 6. Januar gipfelte, meilenweit von sich.
Ein erster großer Auftritt – und Facebook fällt aus
Nach wochenlanger Aufregung tritt Haugen selbst vor die Kamera. In der Fernsehsendung „60 Minutes“ spricht die Whistleblowerin erstmals in der Öffentlichkeit, Bilder von ihrem Auftritt gehen um die Welt. Einen Tag später fallen Facebook, Instagram und WhatsApp weltweit für mehrere Stunden aus – das sorgt für höhnische Kommentare, auch wenn Expert:innen eher ausschließen, dass ein Zusammenhang besteht.
Nur einen weiteren Tag darauf sagt Haugen vor dem US-Kongress aus. Das Zeugnis, das sie dort über ihren Ex-Arbeitgeber ablegt, ist vernichtend. Die Konzernführung um Mark Zuckerberg wisse genau, wie sie Facebook und Instagram sicherer machen könne, doch sie verzichte auf Maßnahmen, um ihre astronomischen Profite nicht zu gefährden. Es brauche nun endlich Maßnahmen der Politik. „Die werden diese Krise nicht ohne Ihre Hilfe lösen“, lautet ihr Appell an die Kongressabgeordneten. Kommende Woche soll Haugen auch vor dem EU-Parlament sprechen.
Haugens selbstsicheres Auftreten weckte Neugier bei der Weltpresse. Wer ist die 37-Jährige?
Ein Blick auf ihren Lebenslauf zeichnet das Bild einer Insiderin mit Parade-Lebenslauf: Geboren und aufgewachsen im Präriestaat Iowa als Tochter eines Arztes und einer Priesterin, studiert Haugen Informatik, geht als Produktmanagerin zum noch jungen Google-Konzern. Nach drei Jahren wechselt sie für ein Managementstudium nach Harvard. Dann gründet sie selbst ein Startup, eine Dating-App. Der Eigengründung, bei der sie nach wenigen Monaten wieder aussteigt, folgten klassische Stationen einer Silicon-Valley-Laufbahn: Wieder Google, Yelp, Pinterest – und schließlich Facebook.
Eine Erkrankung und eine Freundschaft, die Haugen prägt
Doch hinter diesem eindrucksvollen Lebenslauf verbirgt sich auch eine private Tragödie. 2011 wird Haugen mit Zöliakie diagnostiziert, eine durch Glutenunverträglichkeit verursachte Autoimmunerkrankung, die ihre Nerven schädigt und ihr große Schmerzen zufügt. Zeitweise kann sie sich kaum bewegen, wie sie später dem Wall Street Journal erzählt. Drei Jahre später landet sie wegen Blutgerinnseln auf der Intensivstation.
Ein Freund der Familie hilft ihr damals, wieder auf die Beine zu kommen. Ein Jahr lang hilft der junge Mann ihr im Alltag. Doch dann bemerkt Haugen bei ihm eine Veränderung, so schildert sie es später. „Es war eine wirklich wichtige Freundschaft, und dann habe ich ihn verloren.“ Haugens junger Helfer verbringt immer mehr Zeit in obskuren Online-Foren, bald versinkt er in einem Morast an rassistischen Verschwörungsmythen. Haugen, die ihm helfen will, ist ratlos. Die Freundschaft endet. „Es ist die eine Sache, Desinformation zu studieren und eine andere, jemanden an sie zu verlieren.“
Als Haugen im Juni 2019 bei Facebook anfängt, hat sich die Welt gegen den Social-Media-Konzern gewandt. Der Skandal um Cambridge Analytica und die Wahl von Donald Trump, der sich massiv manipulativer Wahlwerbung in dem sozialen Netzwerk bedient, haben bleibende Schäden an Facebooks Image hinterlassen. Doch ja, der Konzern gelobt Besserung. Immer wieder versprechen Zuckerberg und sein Team, die Flut an Falschinformationen und Hetze auf den Kanälen des Konzerns einzudämmen.
„Ich habe viel Verständnis für Mark“
Den Gelöbnissen zum Trotz läuft intern ein anderes Spiel, bemerkt Haugen. „Ich habe viel Verständnis für Mark“, sagt sie später bei „60 Minutes“. Der Facebook-Gründer habe es „nie darauf angelegt, eine hasserfüllte Plattform zu schaffen. Aber er hat es zugelassen, dass Entscheidungen getroffen werden, deren Nebeneffekte darin bestehen, dass hasserfüllte, polarisierende Inhalte mehr Verbreitung und mehr Reichweite erhalten.“
Haugens Aufgabe bei Facebook ist es, als Teil des 200 Köpfe zählenden „Civil Integrity Teams“ gegen Wahlmanipulation in dem sozialen Netzwerk vorzugehen. Sie soll Tools bauen, mit denen sich schädliche Formen der Einflussnahme durch zielgerichtetes Werbe-Targeting aufspüren lassen sollen. Doch das Projekt ihres kleinen Teams scheiterte nach Angaben Haugens, weil ihr Facebook dafür einfach nicht die nötige Zeit einräumte.
Immer wieder muss sie demnach mitansehen, wie der Konzern Hinweise auf bedrohliche Entwicklungen auf seiner Plattform ignoriert. Für Herkulesaufgaben wie den Kampf gegen Sklaverei, Zwangsprostitution und Organhandel stellt Facebook nur ein paar Leute ab. Als sie gefragt habe, warum nicht mehr Leute dafür angestellt werden, habe der Konzern „so getan, als sei es nicht in seiner Macht, mehr Stellen zu schaffen“.
Fast zwei Jahre wird Haugen bei Facebook bleiben. Als ihre Bemühungen scheitern, berät sie sich mit ihrer Mutter, der Priesterin. Diese rät ihr, zu tun, womit sie Leben retten könnte, erzählt sie später dem Wall Street Journal. Wenig später kontaktiert Haugen einen Reporter der Zeitung und beginnt, massenhaft Dokumente über das Vorgehen des Konzerns von den Firmenservern zu kopieren.
Frühere Whistleblowerin nahm Enthüllungen vorweg
Haugen ist nicht die einzige Whistleblowerin, deren Enthüllungen den Facebook-Konzern entgegen seines heilen PR-Sprechs ins Rampenlicht zerren. Vor über einem Jahr veröffentlichte Buzzfeed News Auszüge aus einem internen Papier der Datenwissenschaftlerin Sophie Zhang. Darin warnte Zhang ihren Arbeitgeber eindringlich davor, die eigene Plattform werde in einigen Ländern des globalen Südens für manipulative politische Kampagnen missbraucht.
Von Zhang geleakte interne Dokumente, über die der Guardian und andere Medien berichtet, bauen medialen Druck auf. Sie nehmen einiges an Schilderungen über das interne Kontrollversagen bei Facebook vorweg, auf das auch Haugens Enthüllungen ein Schlaglicht werfen.
Die Aussagen von Zhang und Haugen könnten nicht nur mediale Konsequenzen haben: Beide Whistleblowerinnen übergaben Dokumente an die US-Marktaufsichtsbehörde SEC. Sie prüft, ob Facebooks Wegsehen strafrechtliche Folgen haben könnte.
Nach den spektakulären Enthüllungen ringt Facebook nun um Deutungshoheit. Vor wenigen Tagen kündigte der Konzern an, sich künftig Meta Platforms Inc. nennen zu wollen – ein Schritt, der mit der Umbenennung Googles in Alphabet verglichen wird. In beiden Fällen bleibt der Name des jeweils bekanntesten Produkts, Suchmaschine und soziales Netzwerk, davon unberührt.
Kurz darauf lässt Facebook wissen, dass es sein System zur Gesichtserkennung in Fotos und Videos stoppe. Damit will der Konzern auf wachsende Bedenken gegen die Technologie reagieren, wohl aber auch von den Enthüllungen Haugens ablenken.
Die Whistleblowerin muss sich inzwischen gegen Berichte wehren, sie habe sich gegen Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ausgesprochen. Das hatte das britische Blatt Daily Telegraph verbreitet, ihr dabei aber das Wort im Mund verdreht, wie sie vor dem britischen Unterhaus sagt. „Ich unterstütze den Zugang zur Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und verwende jeden Tag quelloffene Ende-zu-Ende-Verschlüsselung.“
Die kommenden Wochen tourt Haugen durch die Welt und erzählt ihre Geschichte. Brüssel, Berlin, Portugal stehen auf dem Programm, weitere Stationen werden wohl folgen. Finanziert wird ihre Reisetätigkeit von einem Schwergewicht der Technologiebranche, eBay-Gründer Pierre Omidyar, der mit seinem Vermögen auch kritische NGOs und das Investigativmedium The Intercept finanziert. Davon abhängig sei sie aber nicht, sagt Haugen der New York Times. Sie habe „rechtzeitig in Krypto[-Währungen] investiert“ und habe auf absehbare Zeit keine Geldsorgen. Der Aufregung, die Enthüllungen entfacht haben, kann Haugen daher wohl mit Gelassenheit entgegensehen.
„Eine Insiderin, die es besser machen will“ – gar nicht erst Insider:in werden?
„Sie habe „rechtzeitig in Krypto[-Währungen] investiert“ und habe auf absehbare Zeit keine Geldsorgen.“ – übersetzt: Ich habe das Geld anderer Leute in der Lotterie gewonnen.
Kann man kritisieren. Oder man kann anerkennen, dass sich dieser Mensch weiterentwickelt hat und es in Zukunft vielleicht noch weiter tut.
Um es mit Millionen-Erbin Marlene Engelhorns Worten sinngemäß zu sagen: „Man wächst in einer Bubble auf und merkt gar nicht, in welcher Welt man lebt, da man keine Berührungspunkte zur Außenwelt hat“. Haugens erster richtiger Berührungspunkt war dieser Freund, so wie sie erzählt. Wenn man in völlig anderen Lebensrealitäten aufwächst, trifft man auch teils völlig andere Entscheidungen im frühen Leben, bis man sich mit gewissen Situationen konfrontiert sieht.
Die weiteren Stationen sollten nicht nur USA und EU beinhalten, sondern die ganze Welt. Sie muss auch nicht persönlich erscheinen. Es würde schon reichen, die rohen Daten in weitere Hände als westliche Presseorgane und das SEC zu geben. Also indische oder ägyptische Hände zum Beispiel, wo Facebooks berüchtigtes Free Basics erfolgreich bekämpft wurde.