Das Digitale lag ihm nicht. Er schrieb bis zuletzt handschriftliche Briefe und wehrte sich in einem studentischen Projekt 2002 vehement gegen eine Internetpräsenz: „Kein Mensch braucht eine Webseite“. Extinction Rebellion und Fridays for Future kritisierte er zuletzt dafür, dass sie acht Stunden am Tag in den sozialen Medien verbringen würden anstatt die Obrigkeit in die Knie zwingen.
Für den Politologen Peter Grottian waren die reale Begegnung, das Schmieden von Bündnissen und die Aktion wichtig.
Während er dem Internet und sozialen Medien kritisch gegenüberstand, fasste er die Universität umso mehr als Ort der Demokratie, der Emanzipation und der politischen Unruhe auf. Viele seiner Seminare waren darauf angelegt, dass am Ende ein Protest herauskam. Sie waren darauf angelegt, dass die Studierenden außerparlamentarische politische Organisierung von der Pike auf erlernen. Grottian, das war Aktivismus an der Universität. Und immer wieder appellierte er dabei: „Ihr müsst Euch verbünden, sonst ändert sich nichts.“
Schule des Aktivismus
Und so prägte er in den fast drei Jahrzehnten seines Wirkens als Professor am Berliner Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft Generationen von Studierenden. Er gab ihnen das Handwerkszeug für die demokratische Rebellion mit auf den Weg, hatte ein offenes Ohr und war ein beliebter Professor, vor dessen gemütlichem Büro immer zahlreiche Studierende warteten. Manche davon auch, weil sie als Langzeitstudenten bei der berüchtigten „Zwangsberatung“ bei ihm keine Standpauke anhören mussten, sondern bei Kaffee und Keksen politisch diskutieren konnten.
Seine Prüfung bei Grottian zu machen, das hieß, dass man keine Fragestellung bekam, sondern ein leeres Blatt, auf dem man die Fragen selbst stellen sollte. Freiheit der Lehre, Freiheit der Universität, Freiheit des Denkens – ganz praktisch umgesetzt. Heute im verschulten Bologna-System wäre einer wie Grottian undenkbar.
„Wenn jemand erwischt wird, zahle ich“
Grottian, der „bemooste alte Karpfen“, war auch anstrengend, manchmal paternalistisch und dominant in der Durchsetzung seiner Ideen. Auf der anderen Seite aber eben wunderbar befreiend, weil er Dinge ermöglichte, die heute an an Universitäten nicht mehr möglich sind. Und dabei hatte er immer ein Gespür für die Provokation und die mediale Wirkung von Protesten.
Es war ein ermächtigendes Gefühl, einen Professor zu haben, der seine Studierenden anstiftet, zusammen mit ihm eine große demonstrative Schwarzfahrer-Aktion zu starten, um gegen die Streichung des Sozialtickets und die Erhöhung der Preise im Berliner Nahverkehr zu protestieren.
Ein Professor, der auch noch einfach so zusagte: „Wenn jemand erwischt wird, dann zahle ich.“ Am Ende gab es einen Strafbefehl von 3000 Euro gegen ihn, konservative Landespolitiker forderten seinen Rauswurf aus der Uni. Der Universität gelang es allerdings nie, den unbequemen Professor irgendwie zu mäßigen.
Manchmal zwischen den Stühlen
Die Schwarzfahrer-Aktion war eine der zahlreichen Aktionen, an denen Grottian als Ideengeber, als Anstifter, als Spiritus Rector, als Katalysator, Initiator und Anschieber beteiligt war.
Bei einem anderen Bündnis, gestartet in einem Seminar, versuchte Grottian im Jahr 2002 den damals schon zum Ritual verkommenen Berliner 1. Mai neu zu erfinden und zu politisieren: Die Polizei sollte sich aus Kreuzberg komplett zurückziehen, dafür sollte der komplette Bezirk ein politisches Straßenfest werden. Sowohl der Innensenator lehnte das Konzept ab, wie auch die autonome Szene.
Mal wieder war Grottian zwischen allen Stühlen, ihm wurde damals sogar sein kleines Auto abgefackelt. Später entkernte der Berliner Senat Grottians Konzept zu einem unpolitischen Straßenfest mit massiver Polizeipräsenz.
„Mehr Zivilen Ungehorsam!“
Grottian prägte mit solchen und zahlreichen anderen Aktionen und Bündnissen über Jahrzehnte die Sozialproteste in Berlin, was ihm Bezeichnungen wie „Bewegungsunternehmer“, „Krawallschachtel“ und „Bewegungsonkel“ einbrachte. Für seine Aktivitäten wurde er über Jahre vom Berliner Verfassungsschutz überwacht.
Grottians Steckenpferd war dabei immer der zivile Ungehorsam, die gezielte und gewaltfreie Regelverletzung. Für ihn war der zivile Ungehorsam „das Salz in der Suppe der Demokratie“, ein Mittel um „gesellschaftliche Nachdenk- und auch Umdenkprozesse anzustoßen“.
Er zog gegen den Berliner Bankenskandal durch das Reichenviertel der Stadt, gründete das Berliner Sozialforum mit oder rief zum Überfall auf Banken mit Schokopistolen auf. Er setzte keine Hoffnung in Parteien, weil diese ohne Druck von der Straße nicht zu sozialer Veränderung bereit seien. Seine politische Haltung wurde 2007 bei seiner Versetzung in den „Unruhestand“ treffend mit „Radikaler Reformismus“ beschrieben.
Vorreiter und Praktiker
Grottian war auch ein Vorreiter: Als Professor verzichtete er zusammen mit Wolf-Dieter Narr schon im Jahr 1985 auf ein Drittel seines Professorengehaltes, damit am Berliner Otto-Suhr-Institut eine Stelle für eine Professorin geschaffen wird. Er forderte damit mehr Feminismus an der Universität und stellte gleichzeitig professorale Privilegien infrage. Grottian war nicht der große Theoretiker, sondern der große Praktiker.
Grottian engagierte sich über Jahre im Grundrechtekomitee gegen Überwachung und für den Ausbau von Grund- und Freiheitsrechten. In diesem Zusammenhang war er auch an der Publikation des Grundrechte-Reports beteiligt.
Peter Grottian ist am Donnerstag in Bregenz im Alter von 78 Jahren gestorben.
Vielen Dank für diesen so zutreffenden Nachruf!
Mit ihm ist möglicherweise der letzte, wirklich freiheitliche Denker von uns gegangen. Die konservativen Groko-Fetischisten haben den Geist, den er verkörperte und den Deutschland samt EU heute dringender denn je brauchen, nicht nur aus der Gesellschaft, sondern auch aus der Studentenschaft komplett verdrängt. Der heutige, smartphonisierte Student ist höchst selten zu Aktionen, wie sie Grottian initiierte, bereit – geschweige denn willens, die z. B. hier auf netzpolitik.org angesprochenen Problemstellungen oder andere überhaupt zu erkennen. Stattdessen Angepasstheit und Obrigkeitshörigkeit auf allen Ebenen. Aber Demokratie lebt von Widerspruch, Diskussion, Intellektualität, Protest und zivilem Ungehorsam. Während meiner Berliner Uni-Zeit durfte ich Peter Grottian kennenlernen – sein Esprit, sein Engagement und sein Vorbild, die eben genannten, so wichtigen Zutaten zu leben und weiterzugeben, waren beispielhaft, sind es für mich geworden und sollten, ja müssen es für viele wieder werden!
Scheint ein toller Typ gewesen zu sein. Erinnert mich sehr an meinen Politiklehrer in der Oberstufe, der mich sehr geprägt hat. Der hat uns beigebracht, dass immer alles Politik ist und nicht nur das, was die Politiker machen. Und dass in einer Demokratie jeder mit gestalten kann und daher auch die moralische Verpflichtung hat, sich einzumischen. Ich mache das seit über dreißig Jahren, indem ich Briefe an Regierungsmitglieder und Abgeordnete schreibe – nicht, weil es Spaß machen würde, sondern weil ich diese moralische Pflicht so verinnerlicht habe. Und ich frage mich oft, ob ich meinem Politiklehrer dafür dankbar sein oder ob ich ihn dafür verfluchen sollte.
Danke für diesen liebevollen Nachruf!
Und Danke für die Erwähnung einiger Gedanken Grottians, die gedacht werden sollen.
Trösten wir uns mit all denen Studenten, die Grottian in ihrem Werden begleitet hat.
sehr , sehr schade…-
Dennoch vielen Dank für diesen Nachruf. Ich/ wir( er + ich)hatten
uns aus Anlass des unseligen H-Todt-4-Regimes gefunden.
Nicht zu vergessen die Veranstaltung im Bundestag mit ihm über den Offenen Kanal Berlin zu obigem Thema mit der WASG.
Er wird auf uns herabsehen und beflügeln.
..nur dieses hattet Ihr vergessen.