In unserer Reihe „Offene Bildungsinfrastrukturen“ wollen wir Einblicke in erfolgreiche Bildungsprojekte geben, die mit Nutzung von Open-Source-Technologien offene und datenschutzfreundliche Lösungen entwickeln. Für dieses Interview haben wir mit Stefan Kaufmann gesprochen, der in Ulm in der Geschäftststelle „Digitale Agenda“ arbeitet und Einblicke in den Aufbau eines kommunalen Videokonferenz-Systemens auf Basis von BigBlueButton gibt. Etwas mehr technische Details zur Aufbau der Infrastruktur gibt es in diese Skizze.
netzpolitik.org Du bist bei der Stadt Ulm zuständig für Fragen rund um die Digitalisierung. Kannst du genauer erklären, was du machst?
Stefan Kaufmann Ich arbeite in der Geschäftsstelle „Digitale Agenda“. Das ist eine Einheit, die in der Zentralstelle beim Oberbürgermeister angesiedelt ist. Ursprünglich war mein Auftrag, das Verschwörhaus aufzubauen – als Austauschort für Menschen, die im digitalen Ehrenamt, also im Civic Tech, aktiv sind. Jetzt betreue ich auch andere Projekte der Stadt, in denen wir die Nutzung von Open Data sowie Freier Software vorantreiben und weiterentwickeln. Unter anderem auch, um Menschen aus der Civic-Tech-Szene anzulocken und im Rahmen eines Fellowships in die Anstellung bei der Stadtverwaltung zu bringen.
netzpolitik.org Warum beschäftigt die Stadt Ulm dich, um eine solche Digitalisierungsstrategie zu entwickeln?
Stefan Kaufmann In meiner Wahrnehmung ist unser derzeitiger Oberbürgermeister digitalen Themen schon seit vielen Jahren sehr aufgeschlossen gegenüber steht. Am Anfang wurde er auch ein bisschen als „Digitalbürgermeister“ belächelt. Aber das ist ihm ein Anliegen und er war da immer recht weitsichtig. Er hat auch erkannt, dass in der Civic-Tech-Szene schon seit Jahren viel weiter gedacht wird als das normalerweise in der Verwaltung üblich ist. Da haben wir versucht anzudocken und daraus zu lernen – und dann auch bestimmte Dienste anzubieten.
netzpolitik.org Du hast auf Twitter darauf hingewiesen, dass ihr in Ulm eine kommunale Plattform für Videokonferenzen für Schulen aufbaut. Kannst du mir dazu mehr erzählen?
Stefan Kaufmann Unsere Geschäftsstelle ist jetzt seit fünf Wochen in der Remote-Arbeit, was bei uns recht gut funktioniert hat. Der Nebeneffekt war natürlich, dass wir uns dann auch die Fragen gestellt haben, wie wir jetzt mit Videokonferenzen weiter machen und unseren Austausch sicher stellen können. Der positive Effekt der laufenden Fellowships ist, dass wir Leute im Team haben, die sich gut mit solchen Systemen auskennen und die auch selber schon mal ein Jitsi hochgezogen haben.
Wir haben eine gute Serverinfrastruktur bei uns im Haus stehen, eine 10-Gigabit-Anbindung, und können auch schnell mal was zum Ausprobieren aufsetzen. Dann sind wir bei BigBlueButton gelandet und haben darüber erst mal unsere eigenen Videokonferenzen gemacht. Schnell ergab sich dann die Idee, das auch für Schulen nutzbar zu machen. Man muss jetzt gleich vorweg sagen: Man kann nicht eins zu eins Unterricht transferieren in die Videokonferenz – das ist ganz klar. Aber die Frage war einfach, ob wir den Schulen unter die Arme greifen können, damit sie das nicht selber stemmen müssen. Wir haben mitbekommen, dass das Datennetz der wissenschaftlichen Einrichtungen in Baden-Württemberg für die Schulen, das Forschungsnetzwerk Belwue, Moodles hochgezogen hat. Dann haben wir erfahren, dass das Zentrum für Lehrerfortbildung in Baden-Württemberg auch über digitales Lernen spricht und BigBlueButton favorisiert, weil es sich gut mit anderen Werkzeugen verknüpfen lässt. Da haben wir gesagt, dass wir einfach einen eigenen Pool in Ulm aufbauen. Damit entlasten wir den Gesamtpool und auch die Schulen, die jetzt nicht selbst mit Moodle einsteigen können.
netzpolitik.org Warum habt ihr euch für BigBlueButton und nicht für eine kommerzielle Lösung entschieden?
Stefan Kaufmann Grundsätzlich ist es so, dass wir uns gerne knie- und ellenbogentief in Freie Software reinstürzen. Als Grundsatzentscheidung einfach – es ist immer schön, wenn man Dinge auf einer eigenen Maschine betreiben kann. Natürlich ist es praktisch, dass wir auch die Features entsprechend entwickeln und so anpassen können, wie wir sie haben möchten. Wir folgen intern dem Grundsatz „Public Money, Public Code“. Wenn wir selber Dinge beschaffen oder Dinge in Auftrag geben, dann ist es nur gut und sinnvoll, dass dabei Freie Software entsteht, die dann auch von anderen genutzt werden kann. Wenn eine Kommune etwas macht, sollen andere Kommunen das transferieren und adaptieren können. Anfangs war es einfach der Spieltrieb, dass wir BigBlueButton ausprobiert haben. Daraus hat sich dann fast folgerichtig und logisch entwickelt, das auch für Schulen anzubieten. So wie ich es verstanden habe, gibt es auch Pläne, auf Landesebene BigBlueButton einzusetzen, weil es gut für Online-Lehre funktioniert. Und wenn die Landesstrategie in die Richtung geht, ist es ja nur sinnvoll, sich da einzubringen und auch ein Teil des Puzzles zu sein.
netzpolitik.org Welche Vorteile hat denn BigBlueButton zum Beispiel gegenüber Jitsi, was ja auch eine Open-Source-Alternative wäre?
Stefan Kaufmann Wir haben Jitsi auch ausprobiert. Wir hatten dabei aber Probleme mit größeren Konferenzräumen. Da war die Performance einfach nicht so gut, wie wir es uns gewünscht hätten. Ich habe mitbekommen, dass die letzten Tage und Wochen da auch Einiges vorangegangen ist. Ich spreche insgesamt jetzt von dem Stand, den wir vor einigen Wochen hatten. Was BigBlueButton gegenüber Jitsi sonst mitbringt ist zum Beispiel eine Whiteboard-Funktion, auf der ich Präsentationen hochladen kann. Ich muss also nicht meinen Bildschirm teilen, sonder kann mich stattdessen da durch Folien klicken, die dann auch in einer besseren Qualität dargestellt werden. Ich kann auch live in den Folien zeichnen. Da merkt man einfach, dass das Tool für die Lehre entwickelt worden ist. Der einzige Problempunkt ist, dass BigBlueButton offenbar für die Universitätslehre entwickelt worden ist, wo der Spieltrieb der Teilnehmenden nicht so hoch ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass Leute, wenn sie irgendwie Moderatorenrechte erlangen, diese zum Nachteil der anderen ausnutzen, ist in Unis nicht so groß wie es bei einer Schulklasse vielleicht der Fall wäre.
netzpolitik.org Was habt ihr denn für eine Infrastruktur zu schaffen und wie viele Schulen könntet ihr abdecken?
Stefan Kaufmann Wir haben anfangs eine Abschätzung gemacht und dann ein Angebot an die Abteilung Bildung und Schule abgegeben, die einen sehr entscheidungsstarken Leiter hat. Seine Ansage war, dass wir aus den vorhanden Resourcen das beste machen sollten. Unser Plan ist deshalb jetzt, das Ganze Schritt für Schritt technisch hochzuskalieren. Wir bauen einen Pool an Servern auf und schauen, dass wir die Schulen nach und nach onboarden. Es war also nie so geplant, dass wir am Montag, 20. April, alle Schulen abdecken könnten – das wäre mit so einem kleinen Team auch gar nicht leistbar gewesen. Wir lernen jetzt beim Machen, was funktioniert und was nicht
Damit sind viele Sachen verbunden, die zum Teil nicht bei uns sondern beispielsweise beim Zentrum für Lehrerfortbildungen liegen – etwa wie gute Didaktik mit so einem Werkzeug funktioniert. Wir stehen auch im Austausch mit der Universität Ulm, die einen eigenen BigBlueButton-Pool vorbereitet.
netzpolitik.org Kannst du etwas dazu sagen, wie Lehrer:innen ermächtigt, informiert und motiviert werden, sich die Plattform zu nutzen zu machen? Ich kann mir auch vorstellen, dass viele einfach zu Zoom greifen, weil es einfach zu nutzen und bekannt ist. Wie geht ihr damit um?
Stefan Kaufmann Es gab natürlich auch andere Angebote, die an uns herangetragen wurden, beispielsweise Microsoft-Teams. Wir haben uns jetzt einfach auf BigBlueButton konzentriert. Wenn andere Zoom nutzen wollen, ist das ihre
Verantwortung. Was ich von Seiten des Landes weiß, ist dass es eine offizielle Meinung von der Bildungsministerin gibt, dass solche Dienste aufgrund von datenschutzrechtlichen Bedenken von oben nicht freigegeben sind.
Wie die Lehrerinnen und Lehrer motiviert werden, das Angebot zu nutzen, kann ich selber kaum sagen. Wir sind ja eher der Bereich, der den Maschinenraum betreut und die Infrastruktur bereitstellt. Was da an Didaktik im Hintergrund läuft ist meines Wissens nach in der Abteilung für Bildung und Sport aufgehängt.
netzpolitik.org Habt ihr selber Unterlagen erstellt oder greift ihr auf einen Pool von offenen Bildungsmaterialien zurück, in denen andere schon erfolgreich die Nutzung von BigBlueButton beschrieben haben?
Stefan Kaufmann Wir sind selber nicht in der Lage, Bildungsmaterialien auszuarbeiten. Es gibt aber zum Beispiel über das Zentrum für Lehrerfortbildung auch schon eigene Sammlungen. Die sind zum Teil von Lehrerinnen und Lehrern, die eine digitale Affinität haben und die Werkzeuge kennen. Da gibt es dann auch eigene Wikis, die auch Schritt für Schritt konsolidiert und für andere Lehrerinnen und Lehrer bereitgestellt werden sollen.
netzpolitik.org Welche learnings habt ihr gemacht, die andere vermeiden sollten?
Stefan Kaufmann Man muss auf jeden Fall von Anfang an klar machen, dass wir nicht wirklich ein virtuelles Klassenzimmer erschaffen können. Die Situation im Klassenzimmer ist nicht eins zu eins ins Netz übertragbar. Zu Beginn gab es auch Fragen und Wünsche von Leherinnen und Lehrern, dass sie alle Schülerinnen und Schüler auch per Video live sehen möchten. Zum Teil stecken da Annahmen hinter, dass sie Aufmerksamkeit kontrollieren können – und natürlich geht es dabei auch einfach um das Gefühl, eine Klasse vor sich zu haben. Da muss man klarmachen, dass es sich um eine grundsätzlich andere Form der Lehre handelt, die eigentlich auch eigene didaktische Formate bräuchte.
Ebenso herausfordern sind natürlich die ganzen grundlegenden Sachen: dass die Technik funktioniert, dass man ein Headset benutzt und so weiter. Also alles, was für Menschen, die viel Videokonferenzen benutzen, längst klar war. Das muss man trotzdem nochmal vermitteln und lehren. Auch wir selber müssen uns da nochmal neu rein denken – am besten eins zu eins mit experimentierwilligen Lehrerinnen und Lehrern. Sonst gehen wir mit unseren eigenen Annahmen rein und nicht mit denen von echten Benutzerinnen und Benutzern.
netzpolitik.org Ihr habt ja in Ulm eine Sonderstellung: Ein Bürgermeister, der den ganzen neuen Civic-Tech-Themen offen gegenüber steht. Was kannst du anderen Aktivist:innen und Befürworter:innen freier Software in anderen Kommunen empfehlen? Wie kann man dafür werben, dass andere Kommunen den selben Weg gehen wie ihr?
Stefan Kaufmann Man kann das vielleicht analog sehen zu Universitäten, wo es auch eine große Bandbreite gibt, wie gut die mit Online-Lehre zurecht kommen. Manche waren lange vorbereitet und erfahren, bei anderen ist es eher so gewesen, dass sie von einem Tag auf den anderen neue Lizenzen für die entsprechenden Anwendungen kaufen mussten und jetzt komplett ins kalte Wasser springen. Da zeigt sich: je besser man grundsätzlich schon aufgestellt war – und es wäre vermessen zu sagen, dass wir in Ulm hier die Spitze der Fahnenstange gewesen wären – desto besser kann man natürlich jetzt in der Krise reagieren.
Eine Stadtverwaltung muss so aufgestellt sein, dass sie nicht nur das IT-Tagesgeschäft bewältigen kann, sondern auch immer Kapazität hat, weiter zu denken und auch die nächsten Jahre zu planen. Die öffentliche Hand ist in den letzten Jahren sehr gut darin gewesen möglichst viel über outgesourcte Dienstleister zu machen. Aber je besser Kommunen und Verwaltungen aufgestellt sind, selber Dinge zu tun, desto schneller und effizienter können sie auch Krisensituationen bewältigen. Wir verschriftlichen auch im Moment so viel wir können, damit andere das transferieren können.
So, jetzt wird der Druck natuerlich noch groesser ;)
Ganz dicke Dankeschoens gehen schon jetzt an das Landesforschungsnetz Belwue, die Uni Ulm und das Zentrum fuer Lehrerfortbildung BaWue, die jeweils auch jede Menge Infrastruktur hochziehen und mit denen wir intensiv Dokumentation und Erfahrungen austauschen durften – das LFB tatsaechlich auch in sehr grossem Umfang fuer das ganze Land. Und nicht zuletzt wird gerade auch bei den KollegInnen im Bereich Bildung und Sport viel geroedelt – wir von Z/DA spielen jetzt quasi „nur“ Feuerwehr, um den Bereich zu unterstuetzen und zu entlasten.