Im Februar veröffentlichte die Digital-NGO Access Now ihren Jahresbericht der #KeepItOn-Koalition, die Netzsperren und Abschaltungen von Internetzugängen in der Welt dokumentiert. Wir sprachen mit Berhan Taye, Senior Policy Analystin bei Access Now und Leiterin des #KeepItOn-Projekts, über die Entwicklungen der letzten Jahre.
Von Indien bis zum Vereinigten Königreich
netzpolitik.org: Ihr kommt zu dem Schluss, dass Indien derzeit der schlimmste Übeltäter bei Internetabschaltungen ist. Welche Methoden setzt die indische Regierung ein, wie verändern sich diese Methoden im Laufe der Zeit und wie werden sie gerechtfertigt?
Berhan Taye: Bei den eigentlichen Abschalttechniken des Internets schaltet die indische Regierung in der Regel mobile Daten und manchmal sowohl mobile Daten als auch Breitband- oder Festnetzanschlüsse ab. Meistens ordnet sie den Netzanbietern an, die Internetverbindung zu unterbrechen, und oft sind die Anbieter gezwungen, dem nachzukommen. Während sie diese Anweisung an die Netzanbieter erteilen, ist es durchaus üblich, dass die Regierung die Abschaltung rechtfertigt. Die am häufigsten beobachteten Rechtfertigungen in Indien sind Fake News und Hassrede oder Fehlinformationen und Vorsichtsmaßnahmen. Die indische Regierung verwendet diese beiden Rechtfertigungen seit vielen Jahren.
netzpolitik.org: Ihr erwähnt in eurem Bericht das Vereinigte Königreich als Täter. Von Netzblockaden in Europa hört man weniger oft. Was geschieht hier?
Berhan Taye: Im April 2019 schaltete die British Transportation Police das Internet (Wifi) in den U-Bahnsystemen ab, um Demonstranten davon abzuhalten, sich zu organisieren und zu protestieren. Das Vorgehen der Transportation Police fällt unter die Definition von Internet-Stilllegungen („Shutdowns“). Es ist in der Tat nicht üblich, dies in Westeuropa zu beobachten, und dieser Fall sollte nicht zum Präzedenzfall für andere Teile des Kontinents werden. Dieser Fall sollte jedoch als Warnung für die Bürger dienen, dass ihre Regierungen das Internet abschalten könnten, selbst unter den unerwartetsten Umständen wie im Vereinigten Königreich. Sie müssen immer wachsam sein und sich auf solche Situationen vorbereiten.
Mehr als fünf Monate Shutdown in Kashmir
netzpolitik.org: Ihr arbeitet mit 210 Organisationen aus 75 Ländern an Eurer Kampagne mit dem Namen #KeepItOn. Wie geht Ihr bei der Zusammenstellung der Daten vor?
Berhan Taye: Wir haben eine robuste Arbeitsmethodik, die unseren Prozess der Datenerfassung, -verifizierung und -bestätigung leitet. Wir haben auch eine Mailingliste, in der diese 210 Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenkommen, um die Gemeinschaft über bevorstehende Abschaltungen zu informieren und Vorfälle zu identifizieren und zu verifizieren. Außerdem sind wir in hohem Maße auf Nachrichten und Medienberichte über Shutdowns, Proteste und andere Ereignisse angewiesen, die üblicherweise Shutdowns auslösen.
Sobald wir die ersten Informationen darüber erhalten, dass eine Abschaltung stattgefunden hat, fragen wir verschiedene Plattformen, die Nutzungsdaten sammeln. So können wir sehen, ob sie einen Einbruch bei den Zugriffszahlen feststellen konnten oder, in anderen Fällen, einen Komplettausfall. Wir geben dieselben Informationen auch an unsere lokalen Partner weiter, um zu sehen, ob sie dieselben Abschaltungen dokumentiert haben, und erkundigen uns auch nach dem Kontext, der die Abschaltung ausgelöst hat. Nachdem wir den Vorfall überprüft und den Kontext verstanden haben, geben wir die Daten in unser System ein.
netzpolitik.org: Welches ist im repressiven Sinne die effektivste Art einer Netzsperre, auf die Ihr gestoßen seid (ohne die Häufigkeit des Vorkommens)?
Berhan Taye: Die tiefgreifenste Abschaltung des Internets, die viele Menschen in die Dunkelheit gebracht hat, ist die Abschaltung in Kaschmir. Da die Abschaltung mehr als fünf Monate dauerte, war es für Journalisten, Menschenrechtler, Aktivisten und andere schwer, die Welt über die grausamen Menschenrechtsverletzungen zu informieren, die in Jammu und Kaschmir begangen wurden. Angesichts der Situation vor Ort ist dies wahrscheinlich die tiefgreifendste Abschaltung, die wir seit langem erlebt haben. Wichtig ist jedoch, dass wir, seit wir 2011 mit dieser Arbeit begonnen haben, gesehen haben, dass eine Abschaltung des Internets zwar den Wandel verzögern kann, aber niemals wirksam ist, um Proteste oder den Ruf der Menschen nach Veränderung zu unterdrücken. Wenn man sich zum Beispiel den Sudan anschaut, hat die Regierung die sozialen Medien über einen Monat lang abgeschaltet und versucht, die Proteste zu unterbrechen, aber die Menschen haben es trotzdem geschafft, sich zu organisieren und einen seit 30 Jahren herrschenden Diktator in weniger als einem Jahr zu stürzen. Shutdowns sind selten wirksam, um Menschen daran zu hindern, sich zu organisieren und Veränderungen einzufordern.
Drosseln ist weniger auffällig
netzpolitik.org: Die jordanische Regierung hat entschieden, das Netz nicht direkt zu blockieren, aber stattdessen den Live-Streaming-Videodienst „Facebook Live“ zu drosseln. Könnt Ihr raten, wie eine solche Entscheidung zustande kommt?
Berhan Taye: Die Mehrheit der Welt wusste nicht, dass Jordanien die Facebook-Live-Streaming-Dienste gedrosselt hatte, bis dieser Bericht herauskam. Hätte Jordanien jedoch Facebook blockiert, wäre es sehr leicht gewesen, diese Blockierung zu erkennen. Regierungen drosseln in der Regel Dienste, weil es schwierig ist, Vorfälle wie die Drosselung im Vergleich zu Blockierungen oder Abschaltungen nachzuweisen. Außerdem werden Menschen, die keine Ereignisse hochladen oder live streamen können, höchstwahrscheinlich annehmen, dass mit ihrem Internet etwas nicht stimmt, da jeder andere Teil des Internets gut funktioniert, anstatt ihre Dienstleister zu befragen. Also, ja, die Gründe, warum die Regierung das Internet oder bestimmte Teile des Internets drosselt, liegen darin, dass sie die Drosselung leicht verbergen kann, anstatt komplette Abschaltungen oder Blockierungen von Websites zu verhindern.
netzpolitik.org: Wie blockieren oder drosseln die meisten staatlichen Akteure einen Dienst technisch?
Berhan Taye: Hier sind einige der Techniken, die Regierungen zur Drosselung des Internets einsetzen.
- Bandbreiten- und Verkehrsmanagement: Bandbreitenmanagement, das durch Quell- oder Ziel-IP-Adressen, IP-Subnetze, VLANs oder MAC-Adressen erfolgen kann.
- QoS: Netzwerktechnologien wie QoS (Quality of Service) werden manchmal verwendet, um bestimmte Kommunikationsarten (Protokolle) gegenüber anderen zu priorisieren, was sich auf den Verkehr der depriorisierten Kommunikationsprotokolle drosselnd auswirken kann.
- Inline-DPI: Inline-DPI (Deep Packet Inspection)-Geräte auf Layer 5 und darüber können zur Einführung von Latenzzeiten verwendet werden.
- NIC/Port-Partitionierung: NIC (Network Interface Card) / Portpartitionierung auf Layer 2, die sich auf den gesamten Datenverkehr auswirkt.
- Routing-Pfad: Der Routing-Pfad kann so geändert werden, dass er länger ist oder eine geringere Kapazität durchläuft.
netzpolitik.org: Ihr geht im Detail auf die Blockierung von Social-Media-Diensten ein, da diese weltweit immer beliebter werden. Ist die Verwendung von Tor oder VPNs eine praktikable Option zur Umgehung dieser Blockierungen? Oder bringt man sich selbst in Gefahr?
Berhan Taye: Die meisten Menschen können die Blockierung sozialer Medien durch die Verwendung von Tor und VPNs umgehen. Ob sich Menschen jedoch in Gefahr bringen oder nicht, hängt vom Land und dem Kontext ab, in dem sie sich befinden. Einige Staaten erklären die Umgehung oder die Nutzung von VPNs und Tor für illegal, während andere die Umgehung nicht kriminalisieren. Außerdem besteht eine hohe Chance, dass die Regierung, die soziale Medien blockiert, oft diejenigen überwacht, die versuchen, die Zensur zu umgehen, und wahrscheinlich auch Überwachung einsetzt. Man sollte also vorsichtig sein, sich nicht weiter zu gefährden.
Das Interview wurde per Mail in der englischen Sprache geführt.
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