Wenn Digitalisierung in der Berliner Verwaltung im Eiltempo passiert, dann muss es sich schon um eine ziemliche Ausnahmesituation handeln. Genau so eine Situation herrschte rund um Ostern in vielen Gesundheitsämtern der Stadt. Mehr als zwei Monate nach Ausbruch der Corona-Pandemie waren die Ämter am Anschlag und ihr fortschrittlichstes Werkzeug im Kampf gegen Covid-19 war eine selbstgebaute Excel-Datei.
Das Amt in Reinickendorf hatte die Vorlage ursprünglich erstellt, um damit den Überblick über die Kontaktpersonen von Infizierten zu wahren. Mitte und andere Bezirke nutzten sie ebenfalls. Doch am Osterwochenende drohte das Provisorium zusammenzubrechen. Mehr als 5.000 Datensätze waren zu diesem Zeitpunkt in der Tabelle von Berlin-Mitte, erzählt der Amtsarzt des Bezirkes Lukas Murajda. Das Programm drohte in die Knie zu gehen. „Wir brauchten eine akute Lösung, ein professionelles Tool, um die Nachverfolgung zu organisieren“, sagt Murajda. Und so entschied sich das Amt zu einer lebenserhaltenden Maßnahme: dem sofortigen Umstieg auf ein neues Programm.
Jeder Infizierte ist ein Schneeball an Informationen
Dieses Programm heißt SORMAS. Entwickelt wurde es am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), ursprünglich um damit den Ebola-Ausbruch 2014 in Westafrika zu stoppen. Nun ist eine andere Krankheit bis nach Deutschland vorgedrungen und praktischerweise kann SORMAS genau das, was bei der Eindämmung einer Pandemie so wichtig ist: den Überblick über sehr viele Informationen zu einzelnen Fällen wahren.
Denn bei einer Infektion mit Covid-19 kommen schnell sehr viele Daten zusammen. „Jeder Infizierte ist ein Schneeball, der neue Informationen mitbringt“, sagt Lukas Murajda. Laborbefunde, in welche Kategorie Kontaktpersonen fallen, wer wann angerufen wurde, all das muss erfasst werden. Derzeit betreuen mehr als 20 Mitarbeiter:innen allein im Bezirk Mitte immer noch rund 100 Personen in Quarantäne. „Wir nutzen das Programm jetzt täglich, ich glaube nicht, dass wir schnell auf etwas anderes umsteigen wollen und können, denn das ist immer ein organisatorischer Aufwand und wir haben zur Zeit andere Probleme.“
Beschleunigung für die Meldekette
Unterstützung bei der Umstellung auf SORMAS bieten diejenigen, die es am besten kennen: Gérard Krause und sein Team am Helmholtz-Zentrum haben sich das System ausgedacht und gemeinsam mit Partnern in afrikanischen Staaten weiterentwickelt. Die eigentliche Software-Programmierung übernimmt die IT-Firma Symeda. Der Vorteil von SORMAS, sagt Krause, sei die Übersichtlichkeit: „Was ist alles zu tun ist im Zusammenhang mit so einem Fall? Kontaktpersonen, Laborbefunde, Überwachung der Symptome, die Konsequenzen, wenn Kontaktpersonen Symptome bekommen. Genau dafür ist das System ja gebaut worden und das ist eine enorme Arbeitserleichterung.“
SORMAS funktioniert dabei wie eine Drehscheibe, in die die beteiligten Personen aus unterschiedlichen Winkeln reinschauen und dabei unterschiedliche Informationen sehen. So können mehrere Mitarbeiter:innen im Amt gleichzeitig an verschiedenen Fällen arbeiten. Die Software erkennt auch Muster, etwa welche Verbindungen zwischen Kontaktpersonen und Infizierten bestehen. Und vor allem erleichtert es die Kommunikation mit anderen Ämtern. „Ich suche mir meine Kontaktpersonen ja nicht nach Landkreis aus,“ sagt Krause. Infizierte haben Menschen aus anderen Stadtteilen, Städten, manchmal anderen Ländern getroffen. Soll die Kontaktverfolgung funktionieren, müssen all diese Personen von ihren zuständigen Behörden ebenfalls in die häusliche Quarantäne geschickt und betreut werden. Bei wenigen Fällen kann das von Hand und via Telefon passieren, in der Masse geht das nicht. Künftig kann ein Amt eine solche Kontaktperson einfach einem anderen zuständigen Amt zur Bearbeitung frei geben.
Weiterer Baustein: Quarantäne-App
Dass Labore und Krankenhäuser die Software mitnutzen, wie das in anderen Ländern der Fall ist, sei in Deutschland erst mal nicht geplant. Dafür ist aber das Weitermelden der Fälle an die nächsten Ebenen schon Teil des Systems: Im selben Moment, in dem eine Fallaufseherin im Gesundheitsamt einen neuen Fall eingibt, ist dieser pseudonymisiert auch auf Landesebene zu sehen. Auch eine Schnittstelle bis zum Robert-Koch-Institut ist geplant. Der Vorteil ist ziemlich offensichtlich, gleicht man ihn mit dem Ist-Zustand ab: Statt tagelanger Verzögerungen durch die Meldung von Hand und via Fax hätte auch das RKI einen besseren Überblick über die Entwicklung der Infektionszahlen im Land.
Zugleich bekommen die verschiedenen Ämter entlang der Meldekette im Programm jeweils nur die Informationen, die sie für ihre Arbeit brauchen. So sehen die Gesundheitsämter als einzige die Namen und Kontaktdaten der Erfassten, das Landesgesundheitsamt bekommt nur noch pseudonymisierte Daten auf den Bildschirm: Welche bestätigte Fälle gibt es im Bundesland, welche Verdachtsfälle?
Künftig soll es zu SORMAS auch noch ein weiteres Modul geben: eine Quarantäne-App, die derzeit entwickelt wird und mit der Kontaktpersonen selbst täglich ihre Symptome festhalten können. Diese Informationen würden direkt in der Datenbank des Programms auftauchen, kein Telefonieren mehr notwendig. Die App würde den Ämtern damit enorm viel Arbeit ersparen. Doch wann sie zur Verfügung steht, ist noch unklar. Das Gesundheitsministerium hat parallel eine eigene Quarantäne-App in Auftrag gegeben.
Die Datenschutzprüfung fehlt noch
Am besten würde all das funktionieren, wenn möglichst viele Gesundheitsämter das System nutzen, sagt Amtsarzt Murajda. Bislang 17 von bundesweit knapp 400 Gesundheitsämtern verwenden SORMAS bereits – neben Berlin etwa in Niedersachsen und Baden-Württemberg. In Berlin-Mitte ist SORMAS seit Karfreitag im Einsatz, auch Friedrichshain-Kreuzberg, Pankow Steglitz-Zehlendorf und weitere Bezirke haben umgestellt. Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci hatte Ende April die geplante Einführung in ganz Berlin angekündigt.
Doch davon sind anscheinend noch nicht alle überzeugt. Nachfragen von netzpolitik.org haben ergeben, dass etwa in Marzahn-Hellersdorf bislang nicht geplant ist, auf das System umzusteigen, „da es noch datenschutzrechtliche Fragen zu klären gibt“. Und tatsächlich: Die Prüfung durch die Berliner Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk steht noch aus.
Dazu müsste die zuständige Gesundheitsbehörde eine Datenschutzfolgenabschätzung erstellen, zuletzt berichtete der Tagesspiegel, dass diese noch fehlt. Wie so oft zeigt sich in der Krisensituation, dass die Einführung neuer Technologien in einem Spannungsfeld stattfindet: Wenn der Leidensdruck der Behörden so groß und Menschen in Gefahr sind, müssen formale Vorgaben dann trotzdem eingehalten werden?
Elke Steven, Geschäftsführerin der netzpolitischen Organisation Digitale Gesellschaft, sagt ja. Klar bräuchten die Behörden digitale Werkzeuge. Aber gerade eine Software wie SORMAS, mit der hochsensible Gesundheitsdaten bearbeitet werden, müsse vor dem Einsatz datenschutzrechtlich geprüft werden. „Klinische und diagnostische Parameter der Covid-19-Erkrankung werden ausgetauscht und eine große Anzahl von Personen wird Zugriff erhalten.“ Es gehe um die Frage, „ob der Einsatz verhältnismäßig ist, ob die Verarbeitung von Daten darin erforderlich, geeignet und angemessen geregelt ist“. Eine Datenschutzfolgenabschätzung, die diese Fragen klärt, müsse vor dem Einsatz erstellt und veröffentlicht werden. Sie kritisiert vor allem das Timing: „Die Berliner Datenschutzbeauftragte hätte längst einbezogen werden können. Datenschutzrechtliche Prüfungen werden oft viel zu sehr hinausgezögert.“ Tatsächlich gab die Behörde von Smoltzcyk Anfang Mai an, erst seit wenigen Tagen von der geplanten Einführung zu wissen.
Kritik äußert auch Rainer Rehak vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF): „Es ist verstörend, dass für ein solch grundrechtssensibles Server-App-System weder die nötige Datenschutz-Folgenabschätzung vorgelegt noch die verantwortliche Datenschutzaufsichtsbehörde eingebunden wurde, bevor es in Betrieb geht. Bei Medikamenten oder Fahrzeugen würden wir niemals eine nachträgliche Zulassung akzeptieren, warum also hier? Offensichtlich sehen die Behörden Datenschutz als nettes Beiwerk und nicht als den Garanten der Grundrechte, der er in der digitalen Gesellschaft ist.“
Krause ist zuversichtlich, dass SORMAS kompatibel mit der Datenschutz-Grundverordnung und anderen gesetzlichen Auflagen ist. Ein Pluspunkt: Die Software ist nicht nur kostenlos, sondern seit dem Jahr 2016 auch quelloffen, der Quellcode auf GitHub frei einzusehen.
Die derzeitige Situation ist ohnehin nur eine Übergangslösung. In Zukunft soll SORMAS nicht von den einzelnen Bezirken betrieben werden. Besser wäre es, wenn die Bundesländer einen zentrale Lösung bauen, die jeweils im ganzen Bundesland funktioniert, sagt Krause, und genau das ist in Berlin auch geplant. Die einzelnen Ämter hätten dann jeweils nur Zugriff auf die für sie notwendigen Fälle und Informationen, die Abstimmung untereinander wäre noch reibungsloser. Wann dieser Zustand in Berlin erreicht sein wird? Das kann nur die Senatsverwaltung für Gesundheit beantworten, die die Einführung koordinieren soll. Die hat sich auf konkrete Nachfragen zum Zeitpunkt bislang nicht geäußert.
Na klasse, das haben die Verantwortlichen ja wieder toll hingekriegt. Es gab ja schon Studien, in denen ein Erreger eine globale Pandemie erzeugt. Die haben deutlich gezeigt, das kein Land wirklich auf sowas vorbereitet ist. Natürlich kann niemand alle Eventualitäten bedenken und für alles einen passenden Plan in der Schublade haben, aber manches wäre möglich gewesen. Dazu gehört zunächst einmal, überhaupt zu wissen, das es ein Programm wie SORMAS gibt. Dann rechtzeitig vor Ausbruch (und damit ohne Zeitdruck) eine Datenschutzprüfung durchführen, und zu guter letzt dafür sorgen, das sinnvollerweise gleich bundesweit damit gearbeitet werden kann. Ich kann mir gut vorstellen, das mancher Sachbearbeiter heil froh wäre, wenn er mit SORMAS arbeiten könnte. Da hätte vieles von Anfang an erheblich effizienter laufen können.