Kultursoziologe Andreas Reckwitz hat für seine Gegenwartsanalyse „Die Gesellschaft der Singularitäten“ den Bayerischen Buchpreis gewonnen. Seine Kernthese: Allgemeine Kriterien verfallen zugunsten einer stärkeren Orientierung am Besonderen und Individuellen.
In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur setzt er seine Theorie nun auch in Bezug zum Wandel der Öffentlichkeit:
Da kann man, denke ich, tatsächlich sagen, dass die Digitalisierung auch dazu führt, dass in jeder Hinsicht so was wie eine allgemeine Öffentlichkeit erodiert und es viele Partikularöffentlichkeiten gibt. Also, einfach gesagt: Auch die alte Industriegesellschaft war ja eine, in der es eine gemeinsame Öffentlichkeit in mancher Hinsicht gab, über – zum Beispiel – die großen überregionalen Zeitungen oder über das staatliche Fernsehen. Das waren ja gewissermaßen Medien, die sich an alle gewandt haben, die auch sehr hohe Einschaltquoten hatten, wo man sagen kann, die verschiedensten Milieus der Gesellschaft haben das rezipiert und hatten, könnte man sagen, eine gemeinsame Debattengrundlage.
Diese gemeinsame Debattengrundlage sei in den digitalen Medien verloren gegangen, so Reckwitz. Die entstehenden Partikularöffentlichkeiten würden die Mobilisierung von Gruppen erleichtern. Das sei nicht ausschließlich problematisch, allerdings ginge dadurch der für eine Demokratie notwendige Kommunikationsraum verloren.
Ein Raum zum Debattieren allein hilft leider nicht. Was auch fehlt ist eine Debatten-Kultur, in der man sich mit Respekt und Wertschätzung begegnen kann (z.B. weil fundierte Argumente vorgetragen werden in welchen es um _beweisbare_ Fakten geht). Heute zählt aber nur noch wer lauter schreien kann, sich angegriffen & verletzt fühlt usw.
Mit Rationalität braucht man auch nicht mehr diskutieren im Zeitalter in welchem Emotion Trumpf ist und alles andere zunichte macht.
Die mangelnde Fähigkeit, „Fake-News“ zu erkennen (die es gibt seit der Mensch kommuniziert), gepaart mit einer Ignoranz gegenüber fachlich kompetenten Leuten macht es teilweise unmöglich noch sinnvoll zu debattieren.
Insofern würde uns auch eine „gemeinsame Debattengrundlage“ nicht weit helfen.
Das ist ja nicht vollstaendig unabhaengig. Die derzeitigen Medien, privat wie OeR, optimieren auf Quote und neoliberal-transatlantisches Weltbild. Fuer beides ist das Ansprechend von Gefuehlen wesentlich profitabler als das Darlegen oder gar Diskutieren von Fakten, also wird letzteres erst garnicht mehr vorgefuehrt. Und nur kleine Teile des Buergertums, die Elite, bekommt die Faehigkeit dazu im familiaeren Umfeld mit. Auch die haben aber primaer die eigenen Interessen im Kopf und damit kein Interesse an konkurenzfaehiger breiter Bevoelkerung, zeigt unser Schulwesen wie auch die soziale Herkunft der allermeisten Journalisten.
Danke für die Linkschleuder!
Interessante Analyse, denke aber Reckwitz verfehlt die Ursache.
Ohne die Wichtigkeit einer „allgemeinen Öffentlichkeit“ (in der demokratischer Konsens zumindest möglich ist) in Frage stellen zu wollen, denke ich nicht das die Existenz von „Partikularöffentlichkeiten“ diesen Konsens unmöglich macht bzw. die Ursache des Problems ist.
Partikularöffentlichkeiten, durch dieses sog. Internetz ermöglicht, stellen an sich erstmal nur die Meinungsmonopole der grossen Medien in Frage! Denn an welchen Partikularöffentlichkeiten man gerade teilnimmt, kann man sich im Netz theoretsich aussuchen. Das ist erstmal nicht undemokratisch, richtig?
Deshalb: ja, „Digitalisierung führt dazu, dass die allgemeine Öffentlichkeit erodiert“ (ich denke mal mit Digitalisierung ist gemeint: „öffentlicher Raum verschiebt sich ins Internet“), aber ist das zwangsläufig schlecht?
Erstens denke ich, dass die traditionnellen Medien, etabliert in einer „allgemeinen Öffentlichkeit“, weit davon entfernt waren und sind „sich an alle gewandt“ zu haben.
Zweitens denke ich, das Sensationalismus und Hetze in einer „allgemeinen Öffentlichkeit“ nicht weniger existieren.
Schaut man sich die kommerziell-motivierte Ausformung des Netzes an, fängt dieses Verprechen von Dezentralisierung allerdings an zu bröckeln.
Denn der Grund wieso das Netz heute eben kein wirklich öffentlicher Raum ist, ist eben nicht seine grundlegende, technische Struktur (die Partikularöffentlichkeiten ermöglicht).
Sondern vielmehr die automatisierte Regulierung öffentlicher Debatten, ausgerichtet an den wirtschaftlichen Interessen von FB/GOOG etc. (https://netzpolitik.org/2017/interview-mit-frank-pasquale-wie-facebook-und-google-die-digitale-oeffentlichkeit-dominieren/). Es geht eben nicht darum, Nutzer*innen zu informieren, sondern deren Aufmerksamkeit zu vermarkten.
Kurz gesagt: sollten wir die Hoffnung in das demokratische Potential des Netzes aufgeben, weil FB/GOOG etc. aktuell alles auffressen, auskacken und dann verkaufen?
Ich hoffe nicht.
Ups, ganz schön lang geworden ^_^
Die „grossen ueberregionalen Zeitungen“ in einem Atemzug mit dem staatlichen Fernsehen als millieuuebergreifend zu nennen zeugt schonmal von Filterblase: bis auf die Bild-Zeitung haben die nur die intellektuelle Elite und Grossbuerger gelesen. Danach will man schon garnicht mehr weiterlesen, was natuerlich ein Fehler sein koennte…
Ergaenzend: der Vorwurf der „Mainstreammedien“ und der dortigen Gleichstimmung von neoliberalem Gesellschaftsbild, oft verbunden mit strikter Transatlantischer Orientierung, ist ja nun nicht ganz unbegruendet. Das ist natuerlich auch ein aktiver Abschied von „allgemeiner Oeffentlichkeit“ seitens der dort Agierenden: sie erzaehlen und propagieren ihre Weltsicht, und nur ihre Weltsicht…das ist nicht „allgemein“ sondern „partikular“.
Dass die etablierten Medien das nicht nicht sehen oder nicht sehen wollen und jedenfalls nicht thematisieren, demonstriert’s direkt am besten.
Die Pressefreiheit ist bekanntlich die Freiheit von 200 Reichen, ihre Meinung zu publizieren. Aber der oeffentlich-rechtliche Rundfunk hat explizit einen anderen Auftrag, und das Internet schafft darueber hinaus unendlich viel Platz und Moeglichkeit. Leider positioniert sich der OeR zZt zu Gunsten seines eigenen Niedergangs…