Jamaika: Breites Bündnis fordert Ende der Vorratsdatenspeicherung

Grüne und FDP treten in ihren Wahlprogrammen für ein Ende der Vorratsdatenspeicherung ein. Ein Bündnis aus Bürgerrechts-, Journalisten-, Berufs- und Wirtschaftsverbänden fordert, dass die möglichen Partner der Union dieses in den Koalitionsverhandlungen auch durchsetzen.

Sollten FDP und Grüne auf der Abschaffung der VDS bestehen, dürfte das der Union nicht schmecken. (Symbolbild) CC-BY-SA 2.0 dtype

FDP und Grüne sollen in den Jamaika-Koalitionsverhandlungen ein Ende der Vorratsdatenspeicherung durchsetzen. Das fordern fast zwei Dutzend Bürgerrechts-, Journalisten-, Berufs- und Wirtschaftsverbände in einem offenen Brief an die Bundesvorsitzenden der beiden Parteien.

Die Speicherung der Verbindungs-, Standort- und Internetdaten sei die „schädlichste Altlast der Großen Koalition“ und die am „tiefsten in die alltägliche Privatsphäre eingreifende und unpopulärste Massenüberwachungsmaßnahme, die der Staat jemals hervorgebracht hat“. Die Verfasser weisen zudem auf die Probleme der Vorratsdatenspeicherung für die Arbeit von Ärzten, Rechtsanwälten, Psychologen, Beratungsstellen und Journalisten hin. Unterzeichnet haben den Brief unter anderem der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der eco-Verband der Internetwirtschaft und Reporter ohne Grenzen.

Ende der Vorratsdatenspeicherung im Wahlprogramm

Sowohl FDP als auch Grüne verstünden sich als Verteidiger von Freiheit und Bürgerrechten, deswegen sei es ihre Aufgabe, die möglichen Koalitionspartner von CDU/CSU „in die Spur zu setzen“. Beide bisherigen Oppositionsparteien fordern in ihren Wahlprogrammen ein Ende der verdachtslosen Datensammlung.

Der Offene Brief im Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Lindner,

Sehr geehrte Frau Peter, sehr geehrter Herr Özdemir,

mit unzähligen Überwachungsgesetzen hat die „Große Koalition“ die Grund- und Freiheitsrechte schwer beschädigt. Von einem Jamaica-Koalitionsvertrag mit FDP und Bündnis90/Die Grünen erwarten wir eine Beseitigung der schädlichsten Altlast der „Großen Koalition“, nämlich der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten in Deutschland:

  • Die verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung ist die am tiefsten in die alltägliche Privatsphäre eingreifende und unpopulärste Massenüberwachungsmaßnahme, die der Staat jemals hervorgebracht hat. Das 2015 beschlossene Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet Telekommunikationsgesellschaften Informationen über die Verbindungen ihrer sämtlichen Kunden aufzuzeichnen. Wochenlang soll nachvollziehbar sein, wer mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail in Verbindung gestanden hat. Bei Smartphone-Nutzung ist auch der jeweilige Standort des Benutzers festzuhalten. Die Vorratsspeicherung von Internetkennungen (IP-Adressen) soll in Verbindung mit anderen Informationen nachvollziehbar machen, wer was im Internet gelesen, gesucht oder geschrieben hat.
  • Eine derart weitreichende Registrierung des Verhaltens der Menschen in ganz Deutschland ist für viele Bereiche der Gesellschaft höchst schädlich. Ohne jeden Verdacht einer Straftat sollen sensible Informationen über die sozialen Beziehungen (einschließlich Geschäftsbeziehungen), die Bewegungen und die individuelle Lebenssituation (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Psychologen, Beratungsstellen) von über 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern gesammelt werden. Damit höhlt eine Vorratsdatenspeicherung Anwalts-, Arzt-, Seelsorge-, Beratungs- und andere Berufsgeheimnisse aus und begünstigt Datenpannen und -missbrauch. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und beschädigt damit die Pressefreiheit im Kern. Sie beeinträchtigt insgesamt die Funktionsbedingungen unseres freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens. Die enormen Kosten einer Vorratsdatenspeicherung sind ohne Erstattungsregelung von den Telekommunikationsunternehmen zu tragen. Dies zieht Preiserhöhungen nach sich, führt zur Einstellung von Angeboten und belastet mittelbar auch die Verbraucher. Auch unter Bezeichnungen wie „Quick Freeze Plus“ ist eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung inakzeptabel.
  • Es hat sich herausgestellt, dass eine verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung zur Aufdeckung, Verfolgung und Bestrafung schwerer Straftaten überflüssig ist. Untersuchungen belegen, dass bereits die gegenwärtig verfügbaren Kommunikationsdaten ganz regelmäßig zur effektiven Aufklärung von Straftaten ausreichen. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass eine Vorratsdatenspeicherung besser vor Kriminalität schützte. Dagegen kostet sie Millionen von Euro, gefährdet die Privatsphäre Unschuldiger, beeinträchtigt vertrauliche Kommunikation und ebnet den Weg in eine immer weiter reichende Massenansammlung von Informationen über die gesamte europäische Bevölkerung.
  • Die verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung hat sich als grundrechtswidrig erwiesen und gerichtlicher Überprüfung wiederholt nicht standgehalten. Im Juni 2017 wurde die gesetzliche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen bereits für europarechtswidrig befunden und ausgesetzt (Az. 13 B 238/17). Die Bundesnetzagentur setzt das Gesetz nicht mehr durch. Nationale Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung hat der Europäische Gerichtshof schon mehrfach verworfen (Az. C-203/15: Schweden und C-698/15: Großbritannien). Bis zu einem rechtskräftigen Abschluss der laufenden Verfahren könnten jedoch noch Jahre der Rechtsunsicherheit vergehen.

Als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger, der Medien, der freien Berufe, der Justiz und der Wirtschaft lehnen wir eine flächendeckende und verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung geschlossen ab. Wir appellieren an die in der FDP/Bündnis 90/Die Grünen politisch Verantwortlichen, in den Koalitionsverhandlungen ein klares Bekenntnis zur Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten (§ 113a ff. TKG) in Deutschland einzufordern und auch die sogenannte „freiwillige“ Vorratsdatenspeicherung der Unternehmen (§ 100 TKG) auf besondere Anlässe und verdächtige Aktivitäten zu beschränken. Die aktuelle Missachtung der europäischen Grundrechte-Charta muss beendet und die freie Kommunikation wieder hergestellt werden. Seien Sie sich unserer Unterstützung dabei versichert.

[..]

Unterzeichner:

  1. Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
  2. Aktion Freiheit statt Angst e.V.
  3. Attac Deutschland
  4. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V.
  5. Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler e.V.
  6. Campact e.V.
  7. Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
  8. Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union in ver.di
  9. Deutscher Journalisten-Verband e.V.
  10. Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V.
  11. DFJV Deutscher Fachjournalisten-Verband AG
  12. Digitalcourage e.V.
  13. eco Verband der Internetwirtschaft e.V.
  14. Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.
  15. Humanistische Union e.V.
  16. Internationale Liga für Menschenrechte e.V.
  17. Lesben- und Schwulenverband LSVD
  18. Netzwerk Recherche e.V.
  19. Neue Richtervereinigung – Zusammenschluss von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten e.V
  20. Reporter ohne Grenzen e.V.
  21. Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
  22. Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.
  23. Whistleblower-Netzwerk e.V.

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15 Ergänzungen

    1. Wir hatten beide angefragt, jedoch ohne Erfolg: Die Digitale Gesellschaft hatte Kritikpunkte benannt. Nachdem ich angeboten hatte, die Anregungen aufzugreifen, hat sie dann doch nicht mit unterzeichnet. Vom CCC kam leider keine Antwort.

  1. Müßte nicht zuerst geklärt werden, ob Jamaica eine gute Sache ist? – Alles nur, weil Merkel große Mehrheiten braucht für ihre Christliche Einheitspartei. Doch mit der SPD gibt es ja jetzt EINE starke Opposition. Herr Özdemir traut sich jetzt schon nur mit Bodyguards vor die Tür. Der lässt bestimmt mit sich reden…

  2. Müßte nicht zuerst geklärt werden, ob Jamaica eine gute Sache ist? – Alles nur, weil Merkel große Mehrheiten braucht für ihre Christliche Einheitspartei. Doch mit der SPD gibt es ja jetzt EINE starke Opposition. Herr Özdemir traut sich jetzt schon nur mit Bodyguards vor die Tür. Der lässt bestimmt mit sich reden…

  3. All diese Kritik wird mit einem der üblichen „Es kann doch nicht sein, daß…“ Phrasen erledigt und das wars!

    1. So schnell wird man ja nicht Überwacher. Das wirste erst nach langjähriger Ausbildung, und Zugang zum Datenschatz bekommste auch erst nach und nach. Also früher war das zumindest irgendwann mal so… Deswegen gibt es jetzt auch mehr Leaks.

      Wie heißt es so schön: Sei offen, aber nicht so offen, das es hineinregnen kann.

  4. Ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung weist gerade daraufhin, dass ich die Einschätzung der bisherigen Jamaika-Verhandlungen vielleicht am besten finde, wenn ich die Twitter-Meldungen von Markus Beckedahl aufrufe …

    => Kann netzpolitik.org bitte so gut wie möglich informieren, wo die Sondierer in der Parlamentarischen Gesellschaft jeweils gerade stehen ?

    Wenn ich mir die Zusammenfassung von Cem Özdemir zu gestern in YouTube anschaue, scheint noch alles ganz offen und entspannt,
    wenn ich den twitter-Beitrag vom Markus Beckedahl lese, oder in den Radionachrichten höre, was die CDU/CSU alles bekommt ( zentralisierten – bisher verfassungswidrigen! – Inlandsgeheimdienst, mehr biometrische Videoüberwachung, … ) und dann suche, was bekommt im Gegenzug die Seite der bedrohten Whistleblower + investigativen Journalisten (?) – dann sieht es plötzlich gaaaanz anders aus !

    Was nicht im Koalitionsvertrag steht, bekommen Bündnis90/Grüne auch nicht mehr nachträglich durch, das kann man als Erkenntnis der letzte 4 Jahre sehen, und das heißt:
    es entscheidet sich JETZT !

    1. Fairer Weise sollte ich hinzufügen, auf Seite 2 des Papiers von gestern unter der Überschrift
      „Darüber hinaus sprechen wir u.a. über folgende weitere Fragen: “
      findet sich als 4. letzter der Punkt :
      „die Frage eines Whistleblower Gesetzes“.

      … falls das jetzt jemand tröstlich findet.

    2. Also, ich habe noch keine Folgeregierung gesehen, die entsprechende Gesetze (nach 1945) wieder „zurück nimmt“, diese Streicht oder außer Kraft setzt, bis die nächste Regierung diese evtl. wieder reaktivieren könnte, weil sie diese eben erlassen hatte!

      Jeder ist in irgendeiner Weise kriminell, nur ist er es sich nicht Bewust, da er dieses Gesetz nicht kennt, gegen das er gerade verstößt!
      Das schaffen nicht mal Juristen und die sollten halbwegs die Gesetze kennen, die seit der Weimarer Republik gelten bzw. immer noch Gültigkeit haben, auch wenn diese nicht mehr angewendet werden, ein schönes Beispiel war das mit der Majestätsbeleidung von Erdowahn.
      http://www.dw.com/de/ab-2018-keine-strafe-mehr-f%C3%BCr-majest%C3%A4tsbeleidigung/a-37267379 , leider erst ab 2018 Straffrei!
      Bitte keine Matjestäten beleidichen tun, weil ja immer noch sträflich gültich!

      Das Urteil zur VDS in NRW ist an sich ein Meilenstein, aber wird dadurch die VDS eingestampft?
      Wohl eher nicht, die „Schwarzen“ werden ihre Geheimdienstkraken schon anstacheln, um die Hellen Farben (Grün/Gelb) zu verdunkeln, bei der SPD hat es ja auch gut geklappt, nicht?
      Der Geheimdienstkrake holt dann viele „vereitelte“ Attentate aus dem Zylinder, leider können die mit den Taten des Amri V-Manns nicht mehr so viel angeben, aber dafür gibt es andere Aufwiegler, deren Opfer sie jetzt Auffliegen lassen http://mobil.n-tv.de/mediathek/videos/politik/19-jaehriger-Syrer-stand-kurz-vor-schwerem-Anschlag-article20110179.html .
      Dann noch ein paar Bilder von Verfassungsschutz Überwachungen, die man präventiv von den Koalitionspartnern vor der Wahl machte, jetzt getarnt als Fotos von Politikern, auf die ein Anschlag verübt werden soll!
      Nunja, seit dem V-Männer jetzt ja straffrei bei Milieu üblichen Straftaten ausgehen, also im Terroristenmilieu sind es vermutlich Anschläge auf Menschen/Gruppen und Politiker, darf der V-Mann des Verfassungsschutz jetzt den schwarzen Sicherheitsgedanken in die Köpfe der Gelb/Grünen Koalitionäre Bomben, nicht?

  5. Wer einen Blick auf das angehende neue BaWue-Polizeigesetz wirft und im Auge behaelt, dass die konservativen Gruenen grosse Anhaenger des dortigen dunkelgruenen Minischterpraesidenten sind, wird von dort kein Ende der VDS erwarten. Ganz im Gegenteil.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.