Funkzellenabfrage: Allein in Nordrhein-Westfalen finden jeden Tag mehr als zehn Handy-Rasterfahndungen statt (Update)

Mobilfunkantennenanlage. Bild: Erwin Krauß. Lizenz: Creative Commons BY-SA 3.0.
Bei einer Funkzellenabfrage werden sämtliche Handy-Verbindungen innerhalb einer oder mehrerer dieser Funkzellen an die Polizei gegeben. Bild: Erwin Krauß. Lizenz: Creative Commons BY-SA 3.0. - CC-BY-SA 3.0 Erwin Krauß

Auch in Nordrhein-Westfalen werden jeden Tag Handy-Verbindungen von hunderttausenden Menschen an Polizeibehörden übermittelt und gerastert. Das geht aus einer Antwort der rot-grünen Landesregierung hervor. In ganz Deutschland dürften demnach jeden Tag dutzende Funkzellenabfragen stattfinden – statistisch ist jeder Einwohner betroffen.

In meinem Vortrag auf der SIGINT-Konferenz habe ich hochgerechnet, dass wahrscheinlich mindestens zehn Funkzellenabfragen pro Tag in Deutschland durchgeführt werden. Ich habe mich geirrt – es sind noch viel mehr. Das Problem ist, dass die offiziellen Statistiken zur Telekommunikationsüberwachung nicht zwischen individualisierten und massenhaften Abfragen unterscheiden.

Daher haben wir bei netzpolitik.org schon vor einem Jahr mehreren Landtags-Fraktionen ein paar detaillierte Fragen über Funkzellenabfragen geschickt, die diese an ihre Regierung stellen können. Neben der Piratenfraktion Schleswig-Holstein hat auch die Piratenfraktion in Nordrhein-Westfalen um den Innenausschuss-Sprecher Frank Herrmann unsere Fragen aufgenommen und eine kleine Anfrage gestellt. Jetzt ist die Antwort der Landesregierung Nordrhein-Westfalen eingetroffen, die wir an dieser Stelle exklusiv veröffentlichen.

Täglich zehn Funkzellenabfragen in Nordrhein-Westfalen

Und die Zahlen sind krass:

Für den Zeitraum vom 7.12.2010 bis 22.8.2013 sind 10.330 Funkzellenabfragen der Polzei Nordrhein-Westfalen erfasst.

Das sind mehr als zehn Funkzellenabfragen pro Tag – nur im Bundesland Nordrhein-Westfalen.

Zusammen mit den existierenden Zahlen aus Berlin und Schleswig-Holstein ergibt das folgende Tabelle an offiziell bestätigten Zahlen für Funkzellenabfragen in Deutschland:

Jahr   Berlin  SH    NRW
2009 302 151
2010 338 158
2011 568 228 3211
2012 ~342 256 4272
2013 2722

 

Während in Schleswig-Holstein also jährlich eine Funkzellenabfrage auf 12.311 Einwohner stattfindet, ist es eine auf 5.942 in Berlin und eine auf 4.109 Einwohner in Nordrhein-Westfalen. Statistisch ist damit jeder mindestens einmal pro Jahr betroffen.

Täglich 50 Funkzellenabfragen in Deutschland?

Wenn ich diese Zahlen völlig unwissenschaftlich mit den offiziellen Zahlen der Verkehrsdatenüberwachung hochrechne, komme ich auf die unglaubliche Zahl von 54 Funkzellenabfragen in Deutschland – jeden Tag. Das ist keinesfalls exakt – bestätigt aber die Aussage des Berliner Datenschutzbeauftragten, dass die massenhafte Handy-Rasterfahndung „zum alltäglichen Ermittlungsinstrument geworden, das routinemäßig und ohne hinreichende Beachtung der gesetzlichen Vorgaben eingesetzt wird.“

Keine Straftaten gegen Leib, Leben oder sexuelle Selbstbestimmung

Auch die Anlässe, zu denen zehntausende Handys gerastert werden, ähneln den Begründungen anderer Bundesländer. Nur fünf Prozent der Funkzellenabfragen (325 von 5.889) wurden wegen Tötungsdelikten oder Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung durchgeführt. Gegen 66 Fälle wegen Drogen sind sieben Fälle zu Waffen und zwei zu Kinderpornografie schon vernachlässigbar. Der weitaus größte Teil der Handyüberwachung wird jedoch wegen Eigentumsdelikten durchgeführt: Diebstahl, Bandendiebstahl, Raub und Erpressung. Sicherlich unangenehmen Straftaten, aber keine „schwersten Straftaten gegen Leib, Leben oder die sexuelle Selbstbestimmung“, mit denen die Maßnahme politisch begründet wird.

Zur jeweils abgedeckten Fläche oder der Anzahl der jeweils übermittelten Verkehrsdaten konnte SPD-Innenminister Ralf Jäger leider keine Auskunft geben, weil das nicht erfasst wird. Komisch, dass es in Schleswig-Holstein ging – der politische Wille muss nur da sein.

Keine Information der Überwachten

Bezeichnend ist auch die Antwort auf die Frage, wie viele der hunderttausenden betroffenen Personen jemals über die Überwachung ihrer Mobilfunk-Kommunikation informiert worden sind: Dazu werden keine Erhebungen geführt. Aber wie in allen anderen Bundesländern gehen auch die Behörden in NRW einfach davon aus, dass die Betroffenen „kein Interesse an einer Benachrichtigung“ haben. Zudem betreibe man keine „Anschlussinhaberfeststellung“, um die Menschen hinter der Telefonnummer zu informieren. Braucht man auch nicht, man könnte ja einfach anrufen. Aber das ist politisch nicht gewollt, denn damit würde man ja Menschen über das unglaubliche Ausmaß der verdachtslosen Handy-Überwachung informieren. Dass die Datenschutzbeauftragten eine Nicht-Informierung für einen klaren Gesetzesbruch halten – egal.

Für andere wichtige Fragen war in der kleinen Anfrage leider kein Platz mehr: Erfolgt im Einzelfall eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit? Liegt jeweils auch eine Straftat von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung zugrunde? Müssen Verdächtige ein Handy benutzt haben? Wie viele Funkzellenabfragen führten zu einer Verurteilung? Werden die Löschbestimmungen eingehalten? Werden Benachrichtigungs- und Löschpflichten protokolliert? Hier ist noch Raum für konkrete Nachforschungen.

Funkzellenabfrage abschaffen

Mit jeder neuen Auskunft verschlimmert sich das Gesamtbild über die massenhafte Handy-Überwachung in Deutschland noch. Ich zitiere daher mal mein eigenes Fazit über den Bericht des Berliner Datenschutzbeauftragten:

Erstaunlich, dass er nach all diesen Gesetzesverstößen der Behörden einfach neue Gesetze vorschlägt. Zumal die Praxis derzeit einfach fortgesetzt wird, als wäre nichts gewesen. Für netzpolitik.org ist die Konsequenz klar: Die Funkzellenabfrage gehört ersatzlos abgeschafft.

Update: Jetzt ist auch die Pressemitteilung der Piratenfraktion da: Millionenfache Standortabfragen in NRW – Bürger werden nicht nur von Prism & Co. ausgespäht:

Diese skandalöse Menge an Funkzellenabfragen ist kaum zu glauben. Bei jeder dieser 10.330 Abfragen wurden Mobilfunkdaten aller der in der Zelle befindlichen Handys an die Polizei übermittelt. Das können pro Abfrage und Zelle schnell weit über tausend Handys sein. So kommen schnell millionenfache Daten von unbescholtenen Bürgern zusammen, die durchsucht und ausgewertet werden.

Jeder ist hier betroffen. Wer zur falschen Zeit in der falschen Funkzelle war, gegen den wird ermittelt, ohne Grund und ohne Verdacht.

7 Ergänzungen

  1. Hallo zusammen,

    an welche Behörde muss ich mich denn konkret wenden, wenn ich Auskunft bekommen möchte? Auch wenn die Behörden davon ausgehen, dass “kein Interesse an einer Benachrichtigung” besteht, würde ich sie gerne vom Gegenteil überzeugen.
    Vielen Dank.

    1. Dem würde ich mich anschließen wollen. Wer massenhaft Daten heranzieht, soll auch die betroffenen Informieren.
      Auch bei mir besteht das Interesse.
      Von wo also stammt konkret die Aussage, es bestünde kein Interesse?
      Der Behörde würde ich gerne mal ein Brieflein schreiben.
      Dankeschön.

  2. Hi,

    Auch ich wüsste gern ob es möglich ist, z.b. Im Rahmen des Informationsfreiheitsgesetzes eine Auskunft zu erfragen und ob dieser dann auch nachgegangen werden muss?

    Viele Grüße und Danke für die Arbeit.

      1. Wie ist das mit der Bestandsdatenauskunft eigentlich? Nach dem TKG §112 Absatz 4 muss die Bundesnetzagentur protokollieren welche Behörde unter welchem Aktenzeichen an welchem Datum (usw.) meine Daten abgefragt hat.

        Kann man im(ähnl. wie bei der Schufa) einen Auszug seiner Daten aus der Protokolldatenbank verlangen? Gibt es darauf einen Rechtsanspruch?

        Ich meine die Provider sind ja verpflichtet nichts von den automatischen Abfragen auf ihre Datenbanken mitzubekommen (wie krass ist das eigentlich?) – aber die Netzagentur muss alles penibelst protokollieren!

        Diese Daten sind doch auch meine Daten, oder? Ich sehe keine andere Möglichkeit einen Missbrauch aufzudecken.

  3. Hey, das ist ja schimm.. wozu brauchts dann noch nsa & co. I n der Schule hatte ich mit einer Freundin eine Geheimsprache, die B- Sprache, die man beim telefonieren anwenden könnte… -;)
    Sie geht so: Es ist kalt heute. Jedesmal wenn ein Vokal vorkommt wird er in vor und nachher mit eingeschobenem b gedoppelt.
    Ebes ibist kabalt hebeubutebe. Virl Spaß@

  4. Natürlich wird die FZA nur zur Aufklärung der schwersten aller schweren Schwerstkindervergewaltigungsgewalthassraubmordkopieanschlagsterrorkriminalitätkriegsverbrechen verwendet, und dabei jede rechtstaatliche Vorgabe und die Verhältnismäßigkeit gewahrt.
    Als da sind:
    Falschparken, Wechselgeldbetrug, illegale Verpackungsendlagerung, Pupsen in der Fußgängerzone, bei Rot über Ampel Laufen, Fahrrad auf Gehsteig Fahren, Nasebohren, Feiertagstanz, Kehrwoche Vergessen, Seifenkisten ohne TÜV-Plakete und Vollkaskoversicherung, in Grünanlagen Urinieren, Gepäckstücke Verlieren, Niesen in geschlossenen Räumen, beim Menschärgerdichnicht Schummeln, Falsche Telefonnummernwahl, Schrittkratzen, Lautes Fluchen, Ungemähter Rasen, Zigaretten selbst Drehen, Mangelnde Autoritätshörigkeit, Verdächtig Gucken, Verdächtig Aussehen, (Verdächtig) Denken, Verdächtig Atmen.

    FAZIT: Die ganze Gesellschaft, vom jüngsten Säugling bis zur gerade noch atmenden, greisen Dame, sind ein einziger Sündenpfuhl unvorstellbaren Ausmaßes.

    „Die Täter haben wir schon. Die Taten werden sich noch finden.“

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.