Es ist an der Zeit, die Rechtsstaatlichkeit auf der Welt wiederherzustellen und der Massenüberwachung ein Ende zu bereiten

Dieser Beitrag von Katitza Rodriguez ist zuerst in unserem Buch „Überwachtes Netz“ erschienen, das als eBook für 7,99 Euro und als gedrucktes Buch für 14,90 Euro zu kaufen ist.

UeberwachtesNetz-square_5112pxViele der US-Medienberichte über Edward Snowdens NSA-Enthüllungen haben sich auf deren Einfluss auf die Grundrechte amerikanischer Internetnutzer konzentriert. Das Problem ist aber viel weitreichender als das. Die NSA hat die Kommunikationsdaten von Milliarden Internetnutzern gesammelt und tut es weiterhin. Die persönlichen Informationen von „Nicht-US-Bürgern“, die auf Servern in den USA gespeichert sind oder durch die Netzwerke amerikanischer Firmen laufen, gelten als Freiwild für ungeprüfte Sammlung und Analyse. Dieses unvorstellbare Ausmaß an Überwachung setzt die Rechte jedes Einzelnen gegenüber einer wahllosen und missbrauchten Übermacht des Staates aufs Spiel. Indem das Internet als globaler Spähapparat genutzt wird und jegliche nationalen Datenschutzgesetze über Bord geworfen werden, sind die Grundfesten einer jeden demokratischen Gesellschaft, deren Bürger online kommunizieren, in Gefahr.

Die USA sind nur einer der Übeltäter in der grotesken, unkontrollierten Überwachung. Vor kurzem hat der Kreml seine neueste Überwachungsinfrastruktur in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele aufgedeckt. Indiens neues Überwachungssystem bietet zentralisierten Regierungszugriff auf alle Kommunikationsmetadaten und -inhalte, die durch das Telekommunikationsnetz des Landes laufen. Durch die gleichen Leaks, die die Überwachungssysteme der USA ans Licht gebracht haben, wurde auch enthüllt, dass Großbritannien mehr als 200 Glasfaserkabel anzapft, was ihnen Zugriff auf eine riesige Menge an Daten unschuldiger Nutzer gibt. Die Versuche, die Überwachung in den USA zu reformieren, schneiden ein globales Problem bloß an: Alle Länder ignorieren Menschenrechte, die ihre Spähkapazitäten beeinflussen.

Katitza Rodriguez ist Direktorin für internationales Recht bei der Electronic Frontier Foundation. Ihr Augenmerk liegt auf dem Schutz der Privatsphäre im internationalen Kontext, Überwachung durch Regierungen und internationale Datenflüsse.

Die Konzepte existierender Menschenrechte haben nicht mit den entstehenden staatlichen Überwachungskapazitäten Schritt gehalten, das schließt die Fähigkeit des Staates ein, einen ganzen Sturzbach an Informationen zu kombinieren und organisieren, um immer detailliertere und feingranular zusammengesetzte Profile von Einzelnen zu erstellen. Entweder fehlt den Regierungen das volle Verständnis der Eingriffstiefe neuer Technologien oder sie nutzen diese Überwachungswerkzeuge wohlweislich aus, um hinter der Fassade der nationalen Sicherheit ihre Kontrollmöglichkeiten zu verstärken.

Um das Problem mit Nachdruck und ganzheitlich anzugehen, haben EFF, Privacy International, Article 19, Access, CIPPIC, Human Rights Watch, CIS India und ein Zusammenschluss von über 275 NGOs versucht, sich auszumalen, wie bestehende Menschenrechtsstandards auf diese neuen, digitalen Überwachungsparadigmen angewendet werden können. Wir haben uns die folgenden Schlüsselfragen gestellt:

  • Welche Grundsätze braucht es, um Privatsphäre in der modernen Gesellschaft zu schützen?
  • Wie können diese Anforderungen mit den sich ständig entwickelnden Überwachungstechnologien umgehen?
  • Was ist unsere Antwort auf das massive, weltweite Aufkommen neuer Überwachungsgesetze und -praktiken?
  • Als Ergebnis dieser Diskussion haben wir 13 Richtlinien entwickelt, um Staaten auf der ganzen Welt zu erklären, wie existierende Menschenrechte auf Überwachungsgesetze und -praktiken angewendet werden sollten. Die 13 Richtlinien sind in internationalen Menschenrechtsgesetzen begründet und beziehen sich sowohl auf Überwachung innerhalb eines Staates als auch exterritorial. Man findet sie unter necessaryandproportionate.org.

    Die 13 Richtlinien verdeutlichen, dass Privatsphäre nur in Ausnahmefällen eingeschränkt werden sollte und das selbst dann jeder Eingriff gesetzmäßig sein muss. Sie sind darauf ausgelegt, politischen Entscheidungsträgern, Richtern, Gesetzgebern, Juristen und der Allgemeinheit Hilfestellung dabei zu geben, über die Begrenzung und Verwaltung solcher Systeme nachzudenken. Die 13 Richtlinien sprechen eine wachsende weltweite Einigkeit darüber an, dass die Überwachung zu weit gegangen ist und zurückgefahren werden muss.

    Die Schlüsselelemente der 13 Richtlinien sind im Folgenden skizziert.

    Kritische Internet-Infrastruktur schützen

    Eine zentrale Richtlinie fordert Staaten dazu auf, die Integrität von Kommunikation und Systemen sicherzustellen. Gesetze, die einer Technologie Sicherheitslücken auferlegen, um Überwachung durchführen zu können, sind grundsätzlich überzogen, sie beeinträchtigen die Privatsphäre und Sicherheit eines Jeden, ganz egal, ob er in irgendein Verbrechen verwickelt ist.

    Eine der bedeutendsten Enthüllungen aus dem geleakten NSA-Ausspähprogramm war, wie weit die Behörde gegangen ist, um im Geheimen die sichere Kommunikationsinfrastruktur der Menschen zu unterlaufen. Die NSA ist aggressiv vorgegangen, um die privaten Schlüssel kommerzieller Produkte zu erhalten — das hat es ihnen ermöglicht, unglaubliche Mengen an Internetverkehr zu entschlüsseln, der durch diese Produkte erzeugt wurde. Außerdem haben sie daran gearbeitet, Backdoors in kryptographische Standards einzubauen, die eigentlich die Kommunikation ihrer Nutzer sichern sollten.

    Datensammlung auf das Nötigste beschränken

    Die überstürzte Wandlung hin zu einem Überwachungsstaat gründet sich oft auf dem Glauben, dass Ausspähen ursprünglich auf Terroristen oder Geheimdienstspione abzielte und in jeglicher Rechtsdurchsetzung als Hilfe herangezogen werden sollte. (Ein gutes Beispiel für eine schleichende Ausweitung dieser Ziele ist das Vereinigte Königreich, wo ein Überwachungsgesetz am Ende einer großen Bandbreite an Regierungsinstitutionen, auch Gemeinderäten und Nahrungsmittelaufsichtsbehörden, Ausspähbefugnisse erteilte.) Die 13 Richtlinien konstatieren, dass Kommunikationsüberwachung[*], einschließlich der Datensammlung, nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden kann, wenn gezeigt wurde, dass sie zum Erreichen eines rechtmäßigen und festgeschriebenen Ziels notwendig ist. Kommunikationsüberwachung darf nur durchgeführt werden, wenn andere, weniger invasive Methoden vermutlich fehlschlagen würden.

    Metadaten schützen

    Es ist nicht mehr akzeptabel, sich auf künstliche technische Unterscheidungen wie ‚Inhalt‘ und ‚Nicht-Inhalt‘ zu verlassen, die als Basis für das massenhafte Zusammentragen persönlicher Daten dienen.

    Während schon lange Einigkeit darüber herrscht, dass der Inhalt von Kommunikation sensibel ist und wirksamen Schutz durch Gesetze benötigt, ist heute klar, dass andere Informationen, die durch Kommunikation anfallen — beispielsweise Metadaten und andere Arten von Nicht-Inhaltsdaten — möglicherweise sogar noch mehr über einen Einzelnen aussagen als der Inhalt selbst und deshalb die gleichen Schutzmaßnahmen verdienen.

    Zum Beispiel gibt es Werkzeuge, die unsere Zugehörigkeiten herausfinden können, indem sie Stückchen vermeintlich nicht-persönlicher Daten benutzen, um uns zu identifizieren und unsere Onlineaktivitäten nachzuverfolgen — so wie: Wer kommuniziert mit wem? Für wie lange? Von wo aus? Die Überwachung von Daten die plausiblerweise Metadaten sind — in etwa der Standort unseres Mobiltelefons, Clickstream-Daten, die erkennen lassen, welche Webseiten man besucht und Search Logs, die anzeigen, nach was man mit einer Suchmaschine wie Google gesucht hat — ist genauso ein Eingriff wie das Lesen von Mails oder das Zuhören bei Telefongesprächen.

    Was zählt ist nicht, welche Art von Daten gesammelt wird, sondern ihr Effekt auf die Privatsphäre des Überwachungsgegenstandes. Die 13 Richtlinien verlangen, dass eine gut begründete richterliche Anordnung vorliegt, wann immer eine Suche vormals nicht-öffentliche Informationen über die Kommunikation einer Einzelperson hervorbringen wird.

    Beenden von Massenüberwachung

    Es ist Zeit, Verhältnismäßigkeit wiederherzustellen und dem Kern der Überwachungsgesetze und der Jurisprudenz einen fairen Prozess zu machen. Autoritäten brauchen vorherige Berechtigung durch eine unabhängige und unparteiische richterliche Instanz, die feststellt, dass eine bestimmte Überwachungsmaßnahme mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit Beweise für ein schwerwiegendes Verbrechen liefern wird.

    Jegliche Überwachungsentscheidung muss die Vorteile aus dem Informationsgewinn gegenüber den Kosten der Verletzung von Privatsphäre und freier Meinungsäußerung abwägen. Da der Eingriff durch staatliche, elektronische Überwachung derart massiv ist, sollte Verhältnismäßigkeit erfordern, einen unparteiischen Entscheidungsträger davon zu überzeugen, dass der in Frage stehende Eingriff in die Privatsphäre zu Informationen führen wird, die zur Beseitigung oder Vorbeugung einer ernsthaften Bedrohung beitragen.

    Die Rücksicht auf einen fairen Prozess bedeutet auch, dass jeder Eingriff in Grundrechte im Gesetz aufgeführt sein muss und in konsequenter Weise der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden muss. Das bedeutet, dass ein Richter sicherstellen muss, dass Grundfreiheiten berücksichtigt werden und Einschränkungen angemessen angewandt werden. Richter müssen immer unparteiisch, unabhängig und kompetent sein, das trifft in besonderer Weise auf Überwachungsmaßnahmen zu. Sie oder er sollte unabhängig von politischer Einflussnahme sein und in der Lage, effektive Kontrolle über den Fall auszuüben.

    Bekämpfung einer Kultur der Geheimhaltung

    Die Grundlage und Auslegung von Überwachungsbefugnissen müssen öffentlich zugänglich sein und ausnahmslose Aufzeichnungs- und Benachrichtigungspflichten sind notwendig. Das Fehlen von Transparenz in geheimen Regierungsgesetzen und -praktiken zur elektronischen Überwachung spiegeln die fehlende Befolgung von Menschenrechten und geltenden Gesetzen wider.

    Geheime Überwachungsgesetze sind nicht hinnehmbar. Der Staat darf keine Überwachungspraktiken übernehmen oder einführen, ohne dass es ein öffentliches Gesetz gibt, dass ihre Grenzen klar absteckt. Darüber hinaus muss das Gesetz ausreichend durchsichtig und präzise sein, sodass der Einzelne über seine Ankündigung Bescheid weiß und seinen Anwendungsbereich einschätzen kann. Wenn Bürger sich eines Gesetzes, seiner Interpretation oder seiner Anwendung nicht bewusst sind, ist es praktisch geheim. Ein geheimes Gesetz ist kein rechtmäßiges Gesetz.

    Benachrichtigung muss die Regel sein und nicht die Ausnahme. Einzelne sollten über eine Überwachungsanordnung früh und ausführlich genug informiert werden, damit sie Einspruch gegen die Entscheidung geltend machen können. Sie sollten Zugriff auf die Materialien bekommen, die den Antrag auf die Durchführung der Überwachung unterstützen sollten.

    Das Benachrichtigungsprinzip ist wesentlich geworden, um geheime Überwachung zu bekämpfen. Vor dem Internet hat die Polizei an der Tür des Verdächtigen geklopft, die richterliche Anordnung vorgezeigt und dem Betroffenen den Grund für die Hausdurchsuchung genannt. Elektronische Überwachung hingegen ist wesentlich verstohlener. Daten können abgefangen oder direkt von Drittparteien wie Facebook oder Twitter abgerufen werden, ohne dass der Einzelne davon erfährt. Daher ist es oftmals unmöglich zu wissen, dass jemand unter Beobachtung stand, es sei denn die Beweise haben zu einer Anklage geführt. Daher ist es für die Unschuldigen am unwahrscheinlichsten, vom Eindringen in ihre Privatsphäre zu erfahren. Tatsächlich wurden neue Technologien entwickelt, die das Durchsuchen von Heimrechnern aus der Ferne verschleiern.

    Die Umstände der Zusammenarbeit von Regierungen und privaten Institutionen müssen öffentlich gemacht werden. Wir kennen die Art des Verhältnisses zwischen Technologieunternehmen oder Internet Service Providern und der NSA nicht. Die 13 Richtlinien verdeutlichen, dass es keinen Spielraum für die freiwillige Zuarbeit von Unternehmen gibt, es sei denn, eine richterliche Anordnung hat den Test auf Verhältnismäßigkeit bestanden.

    Schutz des grenzüberschreitenden Zugriffs

    Jeder Zugriff auf Daten eines Einzelnen muss in einer Art und Weise stattfinden, die den 13 Richtlinien gerecht wird. Es ist nicht mehr akzeptabel, nationale Datenschutzvorkehrungen zu umgehen, indem man sich auf geheime, informelle Datenaustauschabkommen mit Fremdstaaten oder internationalen Privatunternehmen verlässt. Einzelnen sollten ihre Datenschutzrechte nicht vorenthalten werden, bloß weil sie in einem anderen Land leben.

    Die übrigen Richtlinien führen Aufsichts- und Schutzmaßnahmen für formelle internationale Zusammenarbeit ein und etablieren Strafen für unrechtmäßigen Zugriff im Allgemeinen. Das beinhaltet Strafen für gesetzwidrigen Zugriff und einen starken und wirksamen Schutz von Whistleblowern. Diese Mechanismen sind wesentlich, wenn man die verborgene Natur elektronischer Überwachungsmaßnahmen betrachtet.

    Wir müssen der ungeprüften, anlasslosen, massenhaften Onlineüberwachung ein Ende setzen. Wir müssen die Anwendung von Menschenrechten in die Diskussion über die Kommunikationsüberwachung einbringen. Privatsphäre ist ein Menschenrecht und muss genauso wild entschlossen verteidigt werden wie alle anderen Rechte auch.

    [*] Die 13 Prinzipien definieren „Kommunikationsüberwachung“ im modernen Umfeld als Beobachten, Abfangen, Sammeln, Analysieren, Nutzen, Vorhalten und Zurückhalten, Beeinflussen von oder Zugreifen auf Informationen, die vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Kommunikation einer Person enthalten, widerspiegeln oder hervorheben. „Kommunikation“ beinhaltet Aktivitäten, Interaktionen und Transaktionen, die über elektronische Medien übermittelt werden, wie z.B. Kommunikationsinhalte, Identitäten der Kommunikationsparteien, Standort-Daten wie z.B. IP-Adressen, Zeitpunkt und Dauer der Kommunikation und Informationen der verwendeten Endgeräte.

    Dieser Text wurde von der Redaktion ins Deutsche übersetzt.

    3 Ergänzungen

    1. Grosse Strukturen haben noch nie die Freiheit der Massen gefördert. Das Internet, die EU, überhaupt alles, was grösser als eine Gruppe von 120 Personen ist wird automatisch zu Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Ausbeutung führen. Auch das Internet.

    Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.