Frankreich: Netzneutralität bald Gesetz?

Aus Frankreich kommt ab und zu auch mal etwas Gutes. Am vergangenen Mittwoch haben die beiden Abgeordneten Corinne Erhel (PS) und Laure de la Raudière (UMP) dem Wirtschaftsausschuss der Nationalversammlung einen 87-seitigen Berichtsentwurf zum Thema Netzneutralität vorgelegt. Sobald die Übersetzung ins Englische im Netz ist, verlinken wir sie hier.

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags erklärt den Begriff der Netzneutraliät mit der “neutralen Übermittlung von Daten im Internet, das bedeutet eine gleichberechtigte Übertragung aller Datenpakete unabhängig davon, woher diese stammen, welchen Inhalt sie haben oder welche Anwendungen die Pakete generiert haben.” Dies bedeutet, das im offenen und freien Netz gleiches Recht für alle Datenpakete gilt, in einer Ende-zu-Ende-Architektur – egal, ob es sich dabei um Onlinetelefonate, die Nutzung sozialer Netwerke, Videos, P2P oder Onlinespiele handelt.

Markus schlägt hier bei netzpolitik.org folgende Definition vor:

Nutzer eines neutralen Netzes

* bekommen einen Internetzugang, der frei von Diskriminierung ist, unabhängig von den verwendeten Anwendungen, Diensten, Inhalten, und ungeachtet des Absenders oder Empfängers
* erhalten einen Internetzugang
* * der sie jeden Inhalt ihrer Wahl senden und empfangen lässt
* * Dienste und Anwendungen ihrer Wahl nutzen lässt
* * Hardware und Software ihrer Wahl nutzen lässt
* müssen darüber informiert sein, welche Formen von Netzwerkmanagement durch ihre Provider ausgeübt werden
* bekommen den Internetzugang mit der Verfügbarkeit und Geschwindigkeit, die ihnen in der Werbung versprochen wurde (…)

Internetprovider müssen

* Vor jedem Eingriff in ihr Netzwerk dokumentieren, dass es nachprüfbare Beweise für Datenstau gibt oder dass es eine unabwendbare Notwendigkeit für das Funktionieren des Netzwerkes gibt
* Beweisen können, dass solche jede Priorisierung der Qualitätssicherung dient, unabhängig davon, ob für Endverbraucher oder Firmenkunden.
* Ihre Netzwerkeingriffe und ihre Eingriffskriterien detailliert dem Regulierer und der Öffentlichkeit zugänglich machen (…)

Internet ist neutral (gemäß Definition oben),

* lässt jeden IP-basierten Verkehr zu,
* greift nicht in diesen ein
* und führt kein anlassunabhängiges Monitoring des Datenverkehrs durch.

Die Diskussion wird vor allem angeheizt durch die Forderungen einiger Telekommunikationskonzerne, die schon seit Längerem über wachsende Datenmassen und Verstopfungen klagen. Da die Konzerne ihre Leitungen immer weiter ausbauen, wollen sie von den Gewinnen der “Webriesen” wie z.B. Google profitieren und entscheiden, was sie wie schnell durch ihre Leitungen transportieren.

In vier Schwerpunkten und anhand von neun konkreten Vorschlägen möchte der französischen Bericht dem entgegenwirken und die Bedingungen für einen diskriminierungsfreien Internetzugang für alle schaffen:

Der Gesetzgeber muss den privaten und öffentlichen Akteuren ein klares Signal senden, der seinen Einsatz für den Schutz des Internets zeigt; hier ist die Verankerung des Prinzips der Neutralität eine gute Verfahrensweise.

Für die Ausarbeitung dieses vorläufigen Berichts konsultierten die Politikerinnen mehr als 100 Personen aus Organisationen, Behörden und Unternehmen.

Wir haben mal die vier Schwerpunkte und neun Vorschläge des Berichts übersetzt:

Erster Schwerpunkt: Netzneutralität als wichtiges politisches Ziel festlegen

Vorschlag Nr. 1: Das Prinzip der Neutralität definieren.

Vorschlag Nr. 2: Die Neutralität als politisches Ziel festlegen und den Regulierungsbehörden die Befugnisse geben, Verpflichtungen aufzuerlegen oder die Netzneutralität zu fördern.

Zweiter Schwerpunkt : Strenge Rahmenbedingungen für Internet-Sperren

Vorschlag Nr. 3: Infragestellung der Rechtfertigung der rechtlichen Sperrmaßnahmen, ungeachtet ihrer anscheinenden Legitimität, aufgrund ihrer Ineffizienz und möglichen negativen Auswirkungen.

Vorschlag Nr. 4: Die sofortige Einführung eines einheitlichen Verfahrens, welches das Prinzip der Richterentscheidung beinhaltet.

Dritter Schwerpunkt : Der Schutz der Universalität und die Garantie der Qualität des Internets

Vorschlag Nr. 5: das Label/Siegel “Internet” nur für die Angebote, die das Prinzip der Netzneutralität respektieren.

Vorschlag Nr. 6: die Einrichtung eines Observatoriums für die Qualität des Internets.

Vorschlag Nr. 7: die Erweiterung der Kompetenzen der ARCEP [Regulierungsbehörde für Telekommunikation ähnlich der US-amerikanischen FCC] auf die Qualitätsgarantie des Internetzugangs

Vierter Schwerpunkt : Die Sicherung der nachhaltigen Finanzierung des Internets

Vorschlag Nr. 8: Die Studie der wirtschaftlichen Herausforderungen des Internets.

Vorschlag Nr. 9: Die gründliche Evaluierung des Schaffung einer sogenannten “Data Call Terminierung” auf europäischer Ebene.

Dies bedeutet also Folgendes:

Ablehnung von Internetsperren

Der zweite Schwerpunkt (S. 72) befasst sich mit den erst kürzlich in Frankreich eingeführten Internetsperren. Artikel 4 des Gesetzespakets Loppsi 2 wurde gerade erst im letzten Monat vom Verfassungsrat als verfassungsgemäß erklärt. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Kinderpornografie sieht dieser Artikel Websperren ohne richterliche Kontrolle vor.

In der Einführung des Berichts heißt es nun, dass

das Ziel des zweiten Schwerpunkts ist, so gut wie möglich zu vermeiden, dass die Provider elektronische Kommunikation sperren. Denn Filter haben negative Auswirkungen, sowohl direkte (Einschränkung der Meinungs- und Kommunikationsfreiheit) wie auch indirekte (Gefahr der Ausweitung der Sperren, Weiterentwicklung der Verschlüsselung etc.).

Es wird dafür plädiert, dass in jedem Fall eine Richterentscheidung notwendig ist, dass die genauen Auswirkungen von Internetsperren erst analysiert werden müssen und die Meinungsfreiheit zu schützen ist.

Die Vorschläge des Berichtsentwurfs würden also dafür sorgen, dass Art. 4 des Loppsi 2-Pakets niemals umgesetzt oder angewendet werden kann.

Ein Qualitätssiegel für Netzneutralität

Im dritten Kapitel (S. 76) werden die sogenannten Angebote in Frankreich für “unbegrenzte Internet-Anschlüsse” kritisiert, bei denen die P2P-Anwendungen, VoIP oder weitere Dienste zugunsten anderer beschränkt werden.

Sollte der fünfte Vorschlag Gesetz werden, dürften sich eine Menge Angebote im mobilen Bereich – mit schnelleren oder langsameren Verbindungen, je nachdem ob man sein Facebook-Profil pflegt oder Katzen bei YouTube anschaut – sich nicht mehr „Internet“ nennen.

Wenn ein Verbraucher ein Angebot für einen Internetzugang unterschreibt, erwartet er natürlich den Zugang zum kompletten Internet, ohne jegliche Priorisierung und von ausreichender Qualität

heißt es in dem Bericht.

Daher möchten die beiden Abgeordneten die Regulierungsbehörde ARCEP zur Hüterin der Netzneutralität machen: Sie soll das Prinzip der Neutralität wahren, die Geschäftspraktiken der Konzerne überwachen und die Möglichkeit haben, gewisse „Verpflichtungen aufzuerlegen“.

Wirtschaftliche Herausforderungen

Um den wirtschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden, schlägt der Bericht zunächst vor, gründliche Marktanalysen durchzuführen, die sich auf den Ausbau des Netzes und die angebotenen die Dienste konzentriert. Der neunte Vorschlag erörtert die mögliche Schaffung einer sogenannten europäischen “Data Call Terminierung”, die auf dem klassischen Modell der Anrufzustellung und des „Terminierungsentgelts“ basiert.

Wie geht es weiter?

In Frankreich wurde der Berichtsentwurf im Wirtschaftsausschuss zwar positiv aufgenommen, der Sitzungskalender der Nationalversammlung ist aber bis zum Dezember durch die Präsidentschaftswahlen 2012 bereits komplett voll. Vorher kann man also nicht mit einem Gesetzgebungsvorschlag rechnen.

Die konservative Abgeordnete Laure de la Raudière muss sich vor allem noch in ihren eigenen Reihen für die Idee der Netzneutralität einsetzen. Denn in der Regierungspartei UMP ist gerade der Begriff „zivilisiertes Internet“ sehr in Mode. Auch darf man nicht vergessen, dass die Unterhaltungsindustrie bei den UMP-Mitgliedern starke Lobby betreibt.

Wie es jetzt mit der Netzneutralität in Europa weitergeht, hängt vor allem vom Bericht der Europäischen Kommission ab – die Debatte ist hier längst noch nicht vorbei! Im letzten Jahr rief die Europäische Kommission in einer Konsultation zu Beiträgen zum Thema “offenen Internet und der Netzneutralität” auf. Die Resultate und Antworten kann man sich bereits hier anschauen. Der Bericht der Kommission zur Netzneutralität sollte bereits Ende 2010 veröffentlicht werden, der Termin wurde aber bisher immer wieder aufgeschoben.

(Crossposting von vasistas?)

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9 Ergänzungen

  1. Das ist durchaus progressiver als die Netzneutralitätsverwässerung, die unsere Bundesregierung im Moment plant. Vor allem freut es mich, dass offensichtlich meine Forderung nach einem Qualitätssiegel für „Nur wo neutrales Internet drin ist, darf auch Internet drauf stehen“ dort enthalten ist. Dafür wird man hier in Deutschland immer noch blöd angeschaut, wenn man das fordert.

  2. Wieso verlinkt ihr nicht das französische Original? Soll ja auch Leute geben, die das lesen können… ;)

  3. Ich habe keine Ahnung wie man das mal nett visualisieren kann, aber vielleicht gebe ich einem kreativen Kopf einen Anstoss:
    Wie wäre es, wenn man fehlende Netzneutralität anstatt immer im selben Netz (Internet) erklärt, folgende Netz-Analogie verwendet:
    In der DDR (Planwirtschaft!) gab es Doppel- und Mehrfachanschlüsse. Soweit mir bekannt, funktioniere das so, daß wenn ein Nachbar mit einem Doppelanschluß telefonierte, man selbst mit dem eigenen Telefon blockiert war. Übertragen auf das Internet ist leicht ersichtlich, daß die gleiche / ähnliche Technik, dazu führt, dass der Anbieter/Privatwirtschaft die Kontrolle darüber hat, wer Telefoniert / Daten überträgt und wer nicht.

  4. Das ist wunderbar, nur auf der anderen Seite wird auch eine Neutralität zur Judikative erwartet. Insofern, dass alle Daten unkodiert abgelegt und vom Gesetzgeber transparent verarbeitet werden können. Ob das im Sinne eines Kunden ist, wenn zusammen mit allen EC-Karten-Abrechnungen und Telefonkontakten nun das Bewegungsprofil quasi auch im Internet erstellt werden kann – bleibt für mich fraglich.

  5. Mit größtem Respekt vor allen, die sich Gedanken zum Thema Netzneutralität machen; die obige Definition ist schon ziemlich schlecht. Und warum die in einem Artikel über einen Berichtsentwurf für’s französische Parlament auftaucht leuchtet mir nicht recht ein.
    Hier mal konkret was ich meine:
    Der erste Satz ist gut.
    Der Abschnitt
    * erhalten einen Internetzugang
    * * der sie jeden Inhalt ihrer Wahl senden und empfangen lässt
    * * Dienste und Anwendungen ihrer Wahl nutzen lässt
    * * Hardware und Software ihrer Wahl nutzen lässt

    ist redundant.

    * müssen darüber informiert sein, welche Formen von Netzwerkmanagement durch ihre Provider ausgeübt werden
    Das ist doch Quatsch Netzwerkmanagment und Netzneutralität widersprechen sich! Durch eine Informationspflicht wird der Widerspruch nicht aufgelöst.

    * bekommen den Internetzugang mit der Verfügbarkeit und Geschwindigkeit, die ihnen in der Werbung versprochen wurde (…)
    Das ist reiner Populismus. Werbung die mehr verspricht als gehalten wird ist illegal (!). Nur haben wir (oft) den Eindruck uns würde mehr versprochen als es tatsächlich der Fall ist. Das ist eine Frage der Medienkompetenz nicht der Netzneutralität.

    Der Abschnitt Internetprovider müssen
    besteht nur aus Ausnahmen und Ausreden, mit deren Hilfe Provider die Netzneutralietät mit Füßen treten können.

    Der Abschnitt Internet ist neutral ist wieder redundant, bis auf den letzten Satz: * und führt kein anlassunabhängiges Monitoring des Datenverkehrs durch.
    Der zwar eine wünschenswerte Forderung darstellt, aber mit Netzneutralität nichts zu tun hat, sondern mit Überwachungsfreiheit. Das sind zwar verwandte Themen, da es sich um Freiheitsrechte handelt, aber man sollte hier nicht alles in einen Topf werfen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.