Zypries II: Ein Leben voller Missverständnisse?

Ich bin gerade irritiert. Kann es wirklich sein, dass wir unsere Bundesjustizministerin all die Jahre missverstanden haben? Da wäre zum Beispiel die Sache mit den Stoppschildern und der Zensur. Laut Heise Online verteidigt Zypries das kürzlich durch den Bundestag geschleuste Gesetz zur Etablierung von Internetsperren auf Zugangsebene gegenüber der Tagesszeitung „Die Welt“ mit folgenden Worten:

„Es gibt eine Gruppe von Internet-Usern, die glaubt: Im Netz darf man alles, das Internet ist ein Ort unbegrenzter Freiheit, jede Regel verletzt unsere Identität. Das ist falsch: Meine Freiheit, mein Recht endet auch im Netz dort, wo sie die Freiheit und das Recht von anderen verletzt. […] Das ist keine Zensur, sondern eine simple Erkenntnis, die auch juristischen Laien verständlich sein sollte.“

Bitte wie? Welche Gruppe von Internet-Usern mag da wohl gemeint sein? Die Initiatoren und die über 134.000 Mitzeichner der „Petition gegen Internetsperen“ wohl kaum. Die warnen nämlich vor der Etablierung einer Zensurinfrastruktur. Das ist interessanterweise genau das, was die Ministerin noch Ende April als Szenario skizzierte …

Nach der Verständigung auf ein Gesetz zur Blockade von Kinderpornografie im Internet hat Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) vor weiteren Beschränkungen des Datennetzes gewarnt. […] „Ich gehe davon aus, dass dadurch Begehrlichkeiten geweckt werden, auch Inhalte ausländischer Anbieter zu reglementieren, die keinen Bezug zu Kinderpornografie aufweisen“, erklärte Zypries.

… [NACHTRAG] und auch gegenüber Welt Online noch einmal anspricht:

[…] deshalb verstehe ich diejenigen Kritiker sehr gut, die sich Sorgen machen, dass wir mit dem neuen Gesetz eine Infrastruktur schaffen, die auch für andere Zwecke als den Kampf gegen Kinderpornografie genutzt oder missbraucht werden könnte.

(via KeenTech)[/NACHTRAG]

Das Entfernen von kinderpornografischen Inhalten hingegen hat interessanterweise niemand* als Zensur bezeichnet (Nicht einmal das Filtern. Auch hier dürfte es zumindest so etwas wie einen Minimalkonsens geben). Ganz im Gegenteil: Die von der Regierungskoalition zwischenzeitlich assimilierte Forderung des AK Zensur lautet bekanntlich „Löschen statt Sperren (bzw. Verstecken)“.

Frau Zypries weiß das alles nur zu gut. Zum einen aus persönlichen Gesprächen mit Vertretern des AK Zensur auf dem Wahlparteitag der SPD am 14. Juni in Berlin – und darüber hinaus natürlich aus der anschließenden Arbeit in ihrem Landesverband (Hervorhebung von mir):

Auf ihrem Bezirksparteitag in der diesjährigen Hessentags-Stadt Langenselbold forderte die südhessische SPD am Samstag die Rücknahme des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes. Netz-Sperren seien ineffektiv und wahrscheinlich grundgesetzwidrig, heißt es in einem Beschluss des Bezirksparteitags. Der SPD-Bezirk appellierte an die Bundestagsfraktion, nach der Bundestagswahl eine entsprechende Gesetzesinitiative einzubringen.

SPD-Bezirk gründet Arbeitsgruppe

Zu diesem Zweck wurde in Langenselbold eine Arbeitsgruppe gebildet. Ihr gehören auch prominente Namen wie Bundesjustizministerin Brigitte Zypries und der hessische Landesvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel an.

Was denn nun, Frau Zypries? Hü oder hott? Oder ist das ihr ganz persönlicher Beitrag zum „Projekt 18 Prozent“?

*Mag sein, dass es irgendwo ein paar Spinner gibt, die ein Recht auf die freie Verbreitung von Kinderpornographie halluzinieren. Die können aber wohl kaum der Maßstab sein. Wie gesagt, die Petition und die anschließenden Forderungen der Netzgemeinde geben so einen Unsinn nicht her.

22 Ergänzungen

  1. Ach, nicht wundern. Das ist das übliche Spiel der Frau Zypries und anderer Spitzenpolitiker der etablierten Parteien. Irreführen, Nebelkerzen werfen, in flasche Kontexte setzen oder einfach mal deftig flasche Fakten und Unwahrheiten verbreiten. Gehört zum Handwerk solcher Leute.

    Leider funktioniert das bei unseren Qualitätsjournalisten nur zu gut.

  2. Ist doch aber vielleicht ein Zeichen, dass es uns nicht so ganz gelungen ist, unser Anliegen für alle zu erklären.
    Vielleicht kann Scholz&Friends da weiterhelfen, die haben sich doch jetzt total auf die Bedürfnisse der Generation Upload spezialisiert, und sollen sehr preiswert arbeiten.

  3. Eine alte Strategie: Nimm eine kriminelle Form der Sexualität, und benutze sie, um andere Interessen durchzusetzen, indem Du Dich als Saubermann/frau inszenierst.

  4. Also ihr seid mir ja welche!
    Welch hohes Gut ‚informationelle Selbstbestimmung‘ für unsere Dame ist, hat sie doch beim ‚Kuckucksgesetz‘ bewiesen:
    Der Nachweis der Straftat ‚Personenstandsfälschung‘ wurde selbst strafbar!
    Und ihr zweifelt an ihren lauteren Absichten!

  5. Welche Netzgemeinde? Es gibt keine Netzgemeinde und auch nicht die vielbeschworene Internetcommunity!

    Woher soll denn auch ein x-beliebiger MdB oder Minister wissen, ob der Vollpfosten, der im Internet irgendwas fordert nun zu dieser „Gemeinde“ gehört oder nicht?

  6. Parteienpolitik ist doch wirklich eine ekelhafte Angelegenheit.

    Mal ganz hypothetisch …
    Hätte sich vor vier Jahren eine schwarz-gelbe Mehrheit ergeben und die SPD wäre heute nicht in der Regierungskoalition, hätte diese wahrscheinlich gegen die Zensurgesetze opponiert. Dabei hätte sie sich die Argumente der Netzgemeinschaft zu eigen gemacht und der Regierungskoalition die Aushöhlung der Grundrechte mit größter Empörung vorgeworfen.

    Die FDP würde dann mit der CDU zusammen argumentieren, dass es nicht um die Einführung einer Zensurinfrastruktur gehe, sondern um den Schutz der Kinder. usw. usf.

    Diese Unaufrichtigkeit und Verlogenheit sind die Dinge, die bei mir laufend Brechreiz auslösen, wenn ich an die denke, die in diesem Land Regie führen.

  7. Der Artikel in der Zeit ist sogar noch peinlicher, als man annehmen könnte…

    „Sind sie gelegentlich im Internet unterwegs?“

    (Browser? Was war nochmal ein Browser?… Ok, das war Fr.Künast, aber würd mich nicht wundern, wenn Fr.Zypries das auch nicht so genau weiß….)

    „Zypries: Schon in meiner Jugend war das Mitschneiden von Musik aus dem Radio üblich, damals auf Tonbändern oder Kassetten. Es gibt also eine gewisse Tradition zu glauben: Man darf das.“

    Tja, Frau Zypries…. Man darf das tatsächlich. Für den Eigengebrauch ist das Mitschneiden erlaubt. Bloß verkaufen darf ich es nicht.

    „Zypries: Das ist Unsinn. Es geht nicht um Zensur. Es geht darum, strafbare Inhalte aus dem Netz zu entfernen.“

    Tja, Frau Zypries…. aber genau DAS tun sie ja nu nicht. Das Problem ist sogar nicht mal das Sperren an sich. Sondern, daß diese Sperren von einem Organ der Exekutive ohne Kontrolle der Judikative stattfindet. Und – soweit ich das sehe – ist der Bundesdatenschutzbeauftragte kein Teil der Judikative. Abgesehen davon ist „alle drei Monate stichprobenartig“ in der Netzwelt nicht nur völlig unzureichend sondern effektiv gar keine Kontrolle.

    …nur meine zwo Cent…

    Tokay

  8. Also „Löschen statt Sperren“ hat die Regierungskoalition nicht übernommen, bei denen heißt es „Löschen *vor* Sperren“ (was im Gesetz jedoch nicht bzw. unzureichend umgesetzt ist).

    Daß Zypries mit in der Arbeitsgruppe sitzt, heißt noch nicht, daß sie jetzt gegen das ZugErschwG oder Internetsperren allgemein ist.

    Beim *Löschen* von „KiPo“-Seiten würde *ich* übrigens von legitimer Zensur sprechen.
    Zensur als negativ besetzten Kampfbegriff haben die Politiker selbst im Kontext Iran und China etc. eingeführt bzw. benutzt; meiner Meinung nach ein (nachträgliches) Eigentor, denn zumindest Nachzensur ist hierzulande erlaubt.

  9. Was oft in Bezug auf Frau Zypries übersehen wird: Es war unsere geliebte Justizministerin, die in der Entwurfsphase des Sperrgesetzes als Hardliner aufgetreten ist:

    http://www.heise.de/ct/SPD-sieht-bei-Kinderporno-Sperren-noch-zahlreiche-Fragen-offen–/news/meldung/139530
    Gestrichen werden solle der von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) eingefügte Absatz, wonach Daten der Nutzer der geplanten Stopp-Seite zur Strafverfolgung verwendet werden dürften.

    Sie war also diejenige, die ursprünglich das Gesetz noch verschärfen wollte und durch die automatische BKA-Überwachung der gesperrten Seiten eine „Schere im Kopf“ provozieren wollte. Genau jenen Aspekt also, der durch „Klickangst“ bei allen Usern eine Zensurinfrastruktur von diktatorischen Ausmaßen geschaffen hätte.

  10. @12 und @13: Mea maxima culpa.
    War tatsächlich Frau Zypries selbst.
    Eine Entschuldiging an Frau Künast.

    I stand corrected!

    Tokay

  11. @6, sumo_su:
    Ich bezweifle, daß Zypries – zumindest zu diesem Zeitpunkt – die technischen Zusammenhänge klar waren.

    Aus juristischer Sicht ist es nicht hinnehmbar, daß man Straftaten beobachtet (oder beobachten kann), aber nicht verfolgt.

    Auch der Beschaffungsversuch ist nach § 184b strafbar.
    Würden also tatsächlich nur Leute am StopschildTM landen, die gerade versuchen, sich „Kinderpornographie“ zu beschaffen, stellten die an den StopschildTM-Servern gesammelten Daten mindestens Indizien dar.

    Daß dem nicht so ist, wissen *wir*.

  12. @20, Konrad:
    Deine Frage stammte vom Februar, die Antwort vom März (wenn der Link korrekt ist).

    Hier bezieht sich Zypries auf die Zensurverträge zwischen den ISPs und dem BKA, nicht auf ein damals selbst im Entwurf nooch nicht vorhandenes Zensurgesetz.

    Die Antwort ist aber interessant und gibt auch Hinweise auf verfassungsrechtliche Bedenken einer (damals) eventuellen gesetzlichen Regelung, beispielsweise zur Zuständigkeit des BKA (und damit indirekt auch des Bundes als Gesetzgeber).

    Außerdem ist hier gut zu erkennen, daß Zypries FQDNs offenbar mit URLs verwechselt.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.