Einer der vielleicht besten Indikatoren für Reformbedarf im Urheberrecht ist eine steigende Bedeutung dieses komplizierten und trockenen Rechtsgebietes für die durchschnittliche Bevölkerung. Zum Beispiel führte die Erfindung von Tonbandgeräten und später von Kassettenrekordern dazu, dass auf einmal die breite Masse der Bevölkerung ganz einfach Urheberrechtsverletzungen begehen konnte. Mit der Einführung einer pauschalvergüteten Schranke für Privatkopie war das Thema vom Tisch, das Urheberrecht wieder eine Materie für Juristen und professionell Kreative.
Seit das Internet ein Massenphänomen ist, lässt sich wieder beobachten, wie das Urheberrecht im Alltag an Bedeutung gewinnt. Vor allem in Europa, wo die im US-Copyright eingebaute Flexibilität von Fair Use fehlt, sorgen neue Produkte und Dienste – von YouTube über Google Books bis hin zu Smartphonekameras – für Sorgenfalten allerorten. Wieder werden durchschnittliche InternetnutzerInnen mit der Spezialmaterie Urheberrecht behelligt. Wieder wäre es am Gesetzgeber, durch kluges Drehen an den Stellschrauben des Urheberrechts – den Ausnahme- und Schrankenbestimmungen – dieses für die Mehrheit der Menschen wieder unwichtig zu machen.
Europäische Lösungen für ein europäisches Problem?
Inzwischen sind die Grundzüge des Urheberrechts allerdings auf europäischer Ebene festgelegt. Es liegt also an der EU und hier insbesondere an der EU-Kommission, die dafür erforderlichen Schritte zu setzen. Und angesichts der vielfältigen neuen Nutzungsweisen durch digitale Technologien wird es kaum mit kosmetischen Korrekturen hier und dort getan sein. Wenn selbst vergleichsweise kleine Erfindungen wie Musik- und Videokassetten zu neuen Schranken geführt haben, dann wäre anzunehmen, dass der digitale Wandel mit Internet und Smartphone zu grundlegenderen Änderungen Anlass geben sollte. Zum Beispiel, durch eine Bagatellschranke um Handyvideos mit Hintergrundmusik und Meme zu legalisieren. Zum Beispiel durch eine europaweite Vereinheitlichung von urheberrechtlichen Ausnahmen. Zum Beispiel durch ein Verbot von Geoblocking innerhalb des EU-Binnenmarktes. Zum Beispiel durch eine zusätzliche, offene Schranke nach Vorbild des US-Fair-Use, gerne auch gegen pauschale Vergütung.
Die seit kurzem vorliegenden Pläne der EU-Kommission sehen jedoch nichts dergleichen vor. Wenn die Dinge im Urheberrecht aber beim Alten bleiben, dann wächst der Reformbedarf mit jedem Jahr, mit jeder neuen Technologie, mit jedem neuen Service. Oder, in den Worten des Startup-Verbandes Allied for Startups auf Twitter:
At the time of the last #copyright reform Europe’s #startups probably fit on a train. If this one goes through they will fit on a bus.
— Allied for Startups (@Allied4Startups) 1. September 2016
Weil das Urheberrecht von entscheidender Bedeutung für ein (innovations-)offenes Internet ist, engagiert sich seit kurzem auch die Mozilla Foundation für eine Reform des EU-Urheberrechts und kommentierte via Tweet:
You know what’s changed? Technology. You know what hasn’t? EU copyright law. Let’s fix that: https://t.co/t0kd0xytPd #copyfail
— Mozilla Learning (@MozLearn) 31. August 2016
Die deutsche Piraten-EU-Abgeordnete Julia Reda wiederum reagierte auf Twitter gleich mit 10 Dingen, die sie an den Reformvorschlägen der Kommission hasst, allen voran das neue Leistungsschutzrecht:
2. News publishers get exclusive right to prevent sharing of news articles for… 20 years?!? The German #ancillarycopyright lasts 1 year.
— Julia Reda (@Senficon) 31. August 2016
Andere rechtfertigen ihre alltäglich-digitalen Urheberrechtsverletzungen als „Notwehr“:
@ako_law @netzpolitik Für mich zählt Rechtsbruch im Urheberrecht längst zum Alltag. Ich nenne es Notwehr.
— Peter Hense (@peterhense) 31. August 2016
Nicht einmal professionelle Urheber sind notwendigerweise zufrieden mit den Vorschlägen, sogar die tendenziell eher reformkritischen Urheberrechtler von Ver.di beklagen bloß Brosamen abzubekommen:
Neues EU-Urheberrecht: Profit für Verlage, nur Brosamen für #Urheber https://t.co/CP9cZ5p9Vq #Urheberrecht #EU @urheber_verdi
— M Online (@Mx3_Online) 31. August 2016
Mit den von der EU-Kommission vorgeschlagenen Änderungen wird sich jedenfalls am Reformbedarf im Urheberrecht kaum etwas ändern. Die Reformlücke hingegen wird kontinuierlich wachsen. Das Ausmaß dieser Reformlücke zu quantifizieren ist schwer, weil die negativen Folgen versäumter Reformen im Urheberrecht vor allem ungenützte Chancen, nicht gegründete Unternehmen und nie geschaffene Werke sind. Bleibt als halbwegs verlässlicher Indikator für die Reformlücke die eingangs erwähnte Alltags(un)tauglichkeit des Urheberrechts. Dieser Indikator ist aber schon längst im roten Bereich.
Reformlücke? Klingt nach typisch schmierigen Versicherungsvertreter Speech beim Versuch dementen Rentnern oder Mindernemittelten Personen etwas aufzuquatschen, was die aber garantiert nicht brauchen.