Bei einem Spaziergang am Strand fand ich einen von der Sonne gebleichten Plastikbrocken. Das spröde Material ließ eine helle Pulverspur auf meiner Haut zurück – und einen Gedanken: Ein System, das die physische Welt derart nachhaltig verschmutzt, muss zwangsläufig auch Spuren in unserem Geist hinterlassen.
Forscher haben Mikroplastik in den Tiefen des Marianengrabens gefunden. Und auf den Eisschollen der Antarktis. Selbst der menschliche Körper ist mit den mikroskopisch kleinen Kunststoffteilchen belastet. Im Gehirn ist die Konzentration bis zu zwanzig Mal höher als in anderen Organen.
Auch in der Netzwelt gibt es kaum noch müllfreie Orte. Sie ist voll mit billigem Content, mit Werbung und Produktplatzierungen. Unser Geist, wo sich all das zunächst unbemerkt und dafür umso hartnäckiger festsetzt, ist dem Cybermüll relativ schutzlos ausgesetzt. Und die Folgen sind deutlich und überall spürbar.
Einseitige Assoziationen
Zum Beispiel auf Instagram. In einem Trainingsvideo für Bauchmuskeln führen vier professionelle Fitness-Coaches die Übungen aus. Drei Männer mit dunkler, eine Frau mit heller Haut. In der Kommentarspalte spucken zahlreiche Zuschauer ihre erste und vielleicht einzige Assoziation zu dem Video aus: „BLACKED“. Das ist der Markenname eines bekannten „Interracial“-Pornoformates.
Ginge es den Kommentatoren beim Anblick sich bewegender und verschwitzter Körper erst einmal nur um Sex, wäre das noch nachvollziehbar. Allerdings hat der Pornokonsum offenbar die Vorstellung von Sex durch ein Abbild dessen ersetzt – vorgeführt von BLACKED und dem größten Teil der Mainstream-Pornografie.
Die Inszenierung der Inszenierung
Derweil spielen zahlreiche Content Creator virale Trends nach, ohne ihnen einen eigenen Gedanken oder Twist hinzuzufügen. Als Vorlage dient hier beispielsweise die Inszenierung der inszenierten „Morning Routine“ des Fitness-Influencers Ashton Hall, der im Rahmen seiner Videos riesige Mengen an teurem Markenwasser (rund 3 Euro pro Flasche) konsumiert.
In fortlaufenden Referenzschleifen produzieren andere Influencer Nachahmungen dieser Inszenierung, die vor allem deshalb Anklang finden, weil das ihnen zugrundeliegende Muster vertraut ist und unverändert bleibt. Die Creator folgen dabei der Logik eines weisen Sprichworts: „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.“ Produziert und konsumiert wird nur das, was ohnehin schon bekannt ist.
Click- und Rage-Bait
Influencer wie Humphrey Yang nutzen hingegen Click-Bait-Überschriften, um die Aufmerksamkeit der Nutzer auf sich zu ziehen. Dem ehemaligen „Finanzberater“ folgen knapp zwei Millionen Menschen auf YouTube. Auf dem Vorschaubild eines Videos thront der Schriftzug „DAS MACHT DICH ARM“, darunter steht ein Auto in Flammen. Das Video selbst ist als „Der #1 Wohlstandskiller, über den niemand redet“ betitelt.
Andere Creator betreiben sogenannten Rage-Bait. Sie wollen die Zuschauer gezielt wütend machen, um das Engagement mit ihren Videos zu steigern. Das geschieht oft subtil. Etwa wenn Ashton Hall eine seiner Markenwasser-Flaschen zerbricht und eine gesichtslose Hand hinter ihm die Splitter wegräumt. Der Top-Kommentar unter dem Video lautet: „Du brauchtest jemanden anderen, um die zerbrochene Flasche für dich aufzuheben?“
Auf Kosten der Nutzer
Erregung und Empörung sichern den Plattformen ihre Profite. Sie werden daher auch weiterhin Müll in Form von billigen Bildern und Werbung in die Feeds spülen, der sich unter die Nachrichten und Bilder von Freunden oder Familie und die schönen Dinge im Allgemeinen mischt.
Den Taschenspielertricks des Marketings entkommen die Nutzer dabei kaum noch. Selbst die Supermarktkette Rewe baut subtile Stöhngeräusche in Kochtutorials für vegetarische „Buffalo Wings“ ein, um dem überreizten wie abgestumpften Zuschauer das letzte Quäntchen Aufmerksamkeit abzuluchsen.
Wer nun das Argument in die Runde schmeißt „Niemand muss soziale Medien nutzen“, verkennt das Problem. Soziale Medien sind für viele Menschen keine Beiläufigkeit, sondern Lebensräume, in denen ein essenzieller Teil ihres Alltags stattfindet und der ihnen den Kontakt mit der Gesellschaft ermöglicht. Nur weil ich auf dem Weg zu meiner Lieblingsbar den Potsdamer Platz mit seinem „Boulevard der Stars“ überqueren muss, kehre ich ja auch nicht der gesamten Stadt den Rücken.
Mehr Selbstbestimmung
Das Problem liegt anderswo: Für ihre Nutzer bieten die Plattformen nur spärliche Möglichkeiten der Personalisierung und erst recht kein Mitspracherecht. Warum gibt es kein individuell anpassbares Feed-Limit, das dem endlosen Scrollen ein Ende setzt? Und warum kann ich die For-You-Pages von TikTok und Instagram nicht einfach abschalten?
Mehr Selbstbestimmung würde uns eine Balance ermöglichen zwischen der Betrachtung von eher poppigen Kurzvideos und gedankenvoll produziertem Content – ohne dass wir erst noch knietief durch eine Müllhalde aus penetranter Werbung und digitalen Wegwerfinhalten waten müssten, was uns Aufmerksamkeit und Selbstachtung raubt.
Leider können wir heute an keinem Strand der Welt mehr entlanggehen, ohne auf Plastik zu stoßen. Und das wird die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte wohl auch so bleiben. Im Netz aber haben wir eine Wahl. Eine weniger vermüllte und lebenswertere Welt wäre dort noch möglich.
Eine schöne Analogie – und mehr als das: Es ist letztlich der gleiche Geist und das gleiche Wirtschaftssystem, das die Vermüllung des analogen und des digitalen Raums produziert. Allerdings hatte ich aufgrund der Überschrift eigentlich andere digitale Beispiele erwartet. Das Bauchmuskel-Video wird ja immer noch von Menschen produziert. Immer öfter finde ich auch Youtube billige Videos mit KI-Stimme, die irgendetwas triggern sollen. Und die Google-Suche führt immer seltener zu relevanten Ergebnissen sondern immer öfter zu KI-generierten Bullshit-Seiten, die auf den ersten Blick gut aussehen aber null relevante Information enthalten. 90 des Internets ist Müll. Was kann mensch dagegen tun? Ich wünsche mir z.b. eine Kennzeichnung oder Positivliste von Inhalten, die redaktionell von Menschen erstellt wurden, damit diese Inhalte überhaupt auffindbar sind.
Die Kritik des Artikels wäre nachvollziehbarer, würde er nicht die gleichen Praktiken verwenden.
Ich bspw kenne keinen dieser Menschen, Formate und Seiten. Ich muss mich jetzt durch den „Müll“ wühlen, um überhaupt zu verstehen, was das Trainingsvideo mit BL*CKED zu tun haben könnte. … Der Autor schafft es nicht mal, das Clickbait von Humphrey aufzulösen. Ich muss das Video anklicken und schauen, um zu verstehen, worum es überhaupt geht und wie groß die Diskrepanz ist zwischen Titel und Videoinhalt. …. Um in der Metapher des Strandes zu bleiben: Im Grunde steht der Autor da, wirft Abfall auf den Boden und sagt „Wenn ihr das schon schlimm findet, kuckt mal um die Ecke. Da habe ich das her und da liegt hundertmal so viel!“ Und dann geht er weg. Natürlich ohne seinen hingeworfenen Müll aufzuheben. Denn die WIRKLICHEN PROBLEME sind um die Ecke. Er hat schliesslich „Bewusstsein geschaffen“ für den Abfall der anderen und trägt deshalb keine Verantwortung für den hingeworfenen.
Kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe den Artikel gelesen, mich ausreichend informiert und der „Müll“ ist für mich abrufbereit falls ich das überprüfen will.
Wie sollte man das anders machen? Wie stellen Sie sich denn das „Müllaufheben“ praktisch vor? Bei einer solchen Kritik erwarte ich einen konstruktiven Verbesserungsvorschlag.
Danke, exakt so.
>Wer nun das Argument in die Runde schmeißt „Niemand muss soziale Medien nutzen“, verkennt das Problem.
Mit Verlaub, nein! Das gehört sehr wohl zum Problem. Wer auf der Müllhalde leben will, gewöhnt sich an den Gestank. Aber niemand wird dazu gezwungen.
> Nur weil ich auf dem Weg zu meiner Lieblingsbar den Potsdamer Platz mit seinem „Boulevard der Stars“ überqueren muss, kehre ich ja auch nicht der gesamten Stadt den Rücken.
Was ist das denn für ein Argument? Wenn mir der Platz nicht gefällt, oder weil er zu gefählrlich ist, dann wähle ich einen anderen Weg. Und wenn zu viele Lumpen und Gauner die Stadt bevölkern, dann ist ein Umzug angesagt.
Der Artikel hat mich an dieses gut gemachte Video erinnert: https://m.youtube.com/watch?v=QEJpZjg8GuA (Technology Connections, Algorithms are breaking how we think, von echtem Menschen erstellt und mit konkreten Gegenmaßnahmen)
selbst wenn jemand in den sozialen medien den müll wenig vermeiden kann oder will (wie der autor, der uns dann auf solchen aufmerksam macht) in der anderen welt gibt es aber schon zum glück alternativen um den strand und die organe nicht noch mehr mit plastik zu vergiften, damit nicht das handtuch geworfen wie in der art: „Leider können wir heute an keinem Strand der Welt mehr entlanggehen, ohne auf Plastik zu stoßen. Und das wird die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte wohl auch so bleiben.“
Hm.
Ich finde die Analogie interessant und nachvollziehbar.
Ich wünsche mir einen zweiten Teil in dem es um die Möglichkeiten geht, die man hat sich zu schützen oder das System zu verändern…
Ein gutes Beispiel ist vielleicht das unhook plugin was es für youtube gibt:
https://unhook.app/
Das entfernt alle Vorschaubilder, related videos, frontpage etc. YouTube wird damit einfach nur zu einer Suchmaschine für Videos ohne den ganzen Plastikmüll mit dem es versucht einen zu mästen. Aber es ist wieder die individuelle Lösung für ein generelles Problem…
Wie geht man mit dem Dilemma um, dass Clickbait, Bild-Zeitungs-Überschriften, Ragebait und der ganze andere Müll, einfach besser funktionieren in einer Welt die auf Reichweite und Click-Rate optimiert werden „muss“, damit die Menschen von ihrer Arbeit leben können.
Oder wie geht man damit um dass man immer als Verlierer übrig bleibt, wenn man das Spiel nicht mitspielt?