SerbienWas wir über die mysteriöse Waffe wissen, die in Belgrad gegen friedliche Proteste eingesetzt wurde

Die serbische Regierung hat mutmaßlich eine unbekannte nicht-tödliche Waffe gegen eine friedliche Großdemonstration eingesetzt und dabei eine Massenpanik ausgelöst. Die Protestbewegung fordert Aufklärung und ein Verbot solcher Waffen.

Ausschnitt aus einem Video einer Überwachungskamera
Die eingesetzte Waffe teilt die Menge entlang einer Linie. Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus einem Video einer Überwachungskamera My_roman-empire / Reddit

Bei den Protesten von Hunderttausenden Menschen im serbischen Belgrad ist es am Samstagabend zu einem mysteriösen Zwischenfall gekommen. Ausgerechnet während der Schweigeminuten für die 15 Toten von Novi Sad könnten serbische „Sicherheitskräfte“ eine bislang unbekannte Waffe gegen Demonstrierende eingesetzt haben. Die Effekte dieser nicht-tödlichen Waffe  trieben Menschen auf einer Länge von mehreren Hundert Metern panisch auseinander.

In Serbien protestieren seit vier Monaten Menschen gegen die Regierung von Präsident Aleksandar Vučić. Die von Studierenden getragene Protestbewegung begann nach einem Unfall am Bahnhof von Novi Sad, wo das Bahnhofsvordach einstürzte und 15 Menschen starben. Sie ist im Verlauf immer größer und breiter geworden. Am Samstag erreichte sie ihren vorläufigen Höhepunkt mit etwa 300.000 Demonstrierenden in der Hauptstadt. Schon im Vorfeld des Massenprotestes hatte die Regierung Angst vor Gewalt geschürt, Provokationen vorbereitet und ein Ende der Proteste angekündigt.

Wie Augenzeugen gegenüber netzpolitik.org und Medien berichten, lösten die Organisatoren nach dem Vorfall die Demonstration vor dem geplanten Ende auf, weil sie nicht mehr für die Sicherheit garantieren konnten. Das serbische Innenministerium, die Armee und Präsident Vučić selbst haben den Einsatz einer Schallwaffe abgestritten.

In sozialen Medien sind zahlreiche Videos aufgetaucht, die ein panisches Auseinanderlaufen der Menschenmenge entlang einer Linie zeigen (Sammlung von Videos auf Bluesky). Videos von Überwachungskameras ohne Ton, die auf Reddit gepostet wurden und deren Echtheit netzpolitik.org nicht verifizieren konnte, zeigen wie die Menschen plötzlich auseinanderlaufen und dann schnell wieder zum Stillstand kommen.

Der Klang der eingesetzten Waffe ist auf den Videos nicht klar zuzuordnen. Menschen beschreiben ihn als angsteinflößend. Manche sagen, sie hätten einen hohen Ton gehört, andere ein nahendes Flugzeug oder einen Ton, den sie nicht einordnen konnten, es sei wie im Traum gewesen, wie ein Auto, das durch die Menge rast. In den letzten Monaten waren in Serbien immer wieder Regierungsanhänger mit Autos in Demonstrationen gerast und hatten Menschen verletzt.

Hunderte Augenzeugenberichte

Serbische Initiativen und Menschenrechtsorganisationen haben nach eigener Aussage mehr als 500 Augenzeugenberichte zu dem Vorfall gesammelt. In einem ersten Statement schreiben sie:

Zeugen zufolge gab es um 19:11 Uhr und 19:12 Uhr einen starken Schallimpuls, einen heißen oder kalten Luftstoß oder Wind. Zeugen beschrieben das Geräusch als lauten Knall, ähnlich dem eines Flugzeugtriebwerks oder eines Fahrzeugs in einem Tunnel, in Kombination mit einem hochfrequenten Glasbruch, einer Explosion oder einem Aufprall der höchsten Stufe, während viele das Gefühl hatten, dass ein riesiges Fahrzeug, eine Massenpanik oder eine unsichtbare Kraft die Menge zermalmte, was Panik und instinktiven Schrecken auslöste. (automatische Übersetzung mit deepl.com)

Laut den Initiativen und Menschenrechtsorganisationen berichtet die Mehrheit der Augenzeugen von Angst, Panik und Schock, mit schnellem Herzschlag, Zittern, Orientierungslosigkeit und einem Gefühl des Kontrollverlusts. Einige hätten über Kopfschmerzen, Druck in den Ohren, Summen, Übelkeit, Gedächtnisverlust und starken Druck im Kopf geklagt und dass sie das Gefühl eines Strudels im Körper spürten. Andere hätten das Bewusstsein verloren und sich Verletzungen zugezogen, weil sie in der Menschenmenge stürzten.

Das serbische Nachrichtenmagazin Vreme hat über 100 anwesende Personen befragt, die ähnliches berichten. Auch netzpolitik.org steht mit mehreren Menschen in Belgrad in Kontakt, die in der Nähe des „Epizentrums“ der Waffe waren und ähnliches bestätigen.

Keine Bilder der Waffe aufgetaucht

Während zahlreiche Videos von dem Vorfall aufgetaucht sind, gibt es keine Bilder von der Waffe selbst oder Angaben, von wo aus diese aktiv gewesen sein könnte. Unklar ist auch, ob die Waffe von einer oder von zwei Seiten eingesetzt wurde, was verschiedene Augenzeugen berichten.

In ersten Medienberichten war zunächst von einem sogenannten Long Range Acoustic Device (LRAD) die Rede. Ein solches Gerät des Herstellers Genasys soll Serbien laut unbestätigten Medienberichten im Jahr 2022 gekauft haben – obwohl es keine gesetzliche Grundlage für den Einsatz auf Demonstrationen gibt.

Doch die Beschreibung des Vorfalls passt nicht auf diese Art von Waffe, die zur Vertreibung von Demonstrierenden einen eher hohen, schrillen Ton von sich gibt, der einer Autoalarmanlage ähnelt. Auch halten sich die Menschen in Belgrad nicht die Ohren zu, wie dies bei Betroffenen einer solchen klassischen LRAD-Waffe der Fall ist. Eine solche Waffe wäre auch deutlich in den Videos zu hören gewesen.

Frequenzmodulierte Mikrowellen?

netzpolitik.org hat mit mehreren Sound- und Lautsprecherexperten gesprochen, deren Spezialität extrem gerichteter Schall ist. Sie haben aus einem Video einen tieffrequenten Ton extrahiert, der wie Wind klingt. Sie können aber nicht sagen, ob dieser Ton aus der Waffe stammt oder durch die Bewegung der Menschen entstanden sein könnte.

Diese Expert:innen gehen nicht davon aus, dass Schallwellen der primäre Auslöser der Panik sind. Mit frequenzmodulierten Mikrowellen könne man auch das Gefühl von Schallwellen vermitteln. Denkbar sei auch eine Kombination verschiedener Waffensysteme aus Schall- und Mikrowellen.

Dies würde die Theorien stützen, dass ein sogenanntes Active Denial System (ADS) eingesetzt wurde. Solche Systeme senden einen Hochleistungsstrahl mit 100 Kilowatt Ausgangsleistung mit 95 GHz-Wellen auf das Ziel mit einer Wellenlänge von 3,2 mm. Dadurch wird die Haut der getroffenen Personen plötzlich stark erhitzt und sie flüchten aus dem Strahl.

Doch auch diese Theorie passt nicht zum Vorfall. Denn nur sehr wenige Augenzeugen in Belgrad berichten von einer Hitzeentwicklung. Im Gegenteil gibt es Augenzeugen, die von einem kalten Hauch berichten. Eine weitere Theorie von Vreme ist, dass es sich um eine Luft- oder Wirbelkanone gehandelt haben könnte. Hierbei gäbe es einen Knall und ein starker Windstoß entstünde.

Banner mit Text: Finanziert durch euch! Journalismus mit Haltung. Garantiert nicht neutral. Nur möglich dank deiner Unterstützung. Spende jetzt.

Impuls aus der Luft?

Beim Kabelsender N1, einer Tochter von CNN, spricht der Sicherheits- und Verteidigungsexperte Ivan Miletić von einem „Hochfrequenzimpuls, den das menschliche Gehör registriert und glaubt, dass sich ihm entweder ein Fahrzeug nähert […] oder eine Rakete oder irgendeine Maschine, die eine furchterregende Wirkung hat“. Miletić geht davon aus, dass der Impuls aus der Luft aus einer Höhe von 300 bis 500 Metern verschossen wurde.

Eine weitere Theorie im Artikel von Vreme lautet, dass es sich nicht um eine Waffe gehandelt habe, sondern dass sich eine Panik von einem Ausgangspunkt ausgebreitet habe. Gegen diese Theorie spricht, dass die Menschen exakt entlang einer Linie zur Seite flüchten.

Studierendenbewegung fordert Aufklärung und Verbot

Das Bündnis von Initiativen und Menschenrechtsorganisationen, das den Vorfall untersucht, fordert Aufklärung. Es hat am Sonntag angekündigt, dass es die Berichte an zuständige nationale und internationale Stellen geben wird. „Wir fordern, dass die zuständigen Institutionen diese Vorwürfe schnell untersuchen und ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit mitteilen“, heißt es weiter in der Mitteilung.

Laute einem Bericht von N1 fordert die Studierendenbewegung eine unabhängige internationale Untersuchung des Vorfalls durch die Vereinten Nationen, den Europarat und die OSZE. Dafür haben die Studierenden eine Petition gestartet, die schon mehr als 500.000 Mal unterzeichnet wurde. Die Petition fordert zudem ein Verbot solcher Waffen.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

0 Ergänzungen

Wir freuen uns auf Deine Anmerkungen, Fragen, Korrekturen und inhaltlichen Ergänzungen zum Artikel. Bitte keine reinen Meinungsbeiträge! Unsere Regeln zur Veröffentlichung von Ergänzungen findest Du unter netzpolitik.org/kommentare. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.