Festung EuropaEU-finanzierter Wachturm in Libyen

In einem EU-finanzierten Projekt erhält die libysche Küstenwache neue Kapazitäten. Nach acht Jahren und Ausgaben von fast 60 Millionen Euro sollen diese nun einsatzbereit sein – jedenfalls teilweise.

Das Bild zeigt mehrere graue Container, auf denen eine Antenne montiert ist.
Die mobile Leitstelle besteht aus Containern mit Technik, Wohneinheiten und Antennen sowie einem Turm mit Kommunikationstechnik. RI Group

Nach jahrelangen Verzögerungen haben libysche Behörden offenbar eine offizielle EU-finanzierte Seenotleitstelle (Maritime Rescue Coordination Center – MRCC) installiert. Laut Informationen, die netzpolitik.org vorliegen, wurde im Oktober 2024 eine containerbasierte maritime Leitstelle im Westen Libyens in Betrieb genommen. Dazu gehört auch ein Turm mit verschiedener Technik, darunter zur Ortung von größeren Schiffen und Kommunikation.

Die Kommission in Brüssel bestätigt diese Angaben in einer aktuellen Mitteilung an die EU-Abgeordnete Özlem Demirel: Angesichts des „fertiggestellten Kommunikationsturms“ habe das MRCC seine Arbeit nun „teilweise aufnehmen“ können. Die Inbetriebnahme könnte auch ein neues Einsatzverhalten der Küstenwache begünstigt haben, wie es von zivilen Seenotretter:innen beobachtet wird: Libysche Patrouillenboote holen immer öfter auch nachts Menschen zurück, die in Booten auf dem Weg nach Europa sind.

Hintertür im Völkerrecht

Europäische Behörden oder auch Frontex dürfen auf See abgefangene Geflüchtete gemäß dem Refoulment-Verbot nicht in einen Folterstaat wie Libyen bringen. Als Hintertür im Völkerrecht hat die EU-Kommission in Brüssel deshalb den Aufbau einer libyschen Küstenwache finanziert und zur Durchführung von Such- und Rettungsmissionen ausgerüstet.

Jedoch sind Geflüchtete in Libyen nicht sicher, wie Berichte zahlreicher Menschenrechtsorganisationen belegen. Das Netzwerk „Refugees in Libya“ dokumentiert derzeit regelrechte Menschenjagden, die uniformierte Kräfte auf Schwarze Menschen durchführen. Anschließend werde die Gejagten zu Hunderten in einer entwürdigenden Prozedur abgeführt.

Ebenfalls mit EU-Unterstützung hat Libyen im Jahr 2018 seine Zuständigkeit für die Seenotrettung in einer festgelegten Zone erklärt und diese bei der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO) angemeldet. Die damit verbundene Verpflichtung, auch eine Leitstelle mit ständiger Verfügbarkeit einzurichten, erfüllte Libyen aber nicht. Seenotrettungsorganisationen wiesen wiederholt darauf hin, dass ein angeblich eingerichtetes MRCC auf Kontaktversuche nicht reagiere oder das Personal nicht wie vorgeschrieben Englisch spricht.

Neue Schiffe, Technik und Ausbildung

Diese Praxis hat sich auch seit Oktober – dem angeblichen Start des mobilen MRCC – nicht geändert, bestätigt Britta Rabe vom transnationalen NetzwerkWatch the Med Alarm Phone, das einen Notruf für Flüchtenden in Seenot auf dem Mittelmeer bereitstellt. „Die sogenannte libysche Küstenwache ist weiterhin kaum erreichbar, man kann nicht mit ihnen kommunizieren. Ich halte die Information über die angebliche Funktionsfähigkeit für eine politisch motivierte Lüge“.

In dem 2017 begonnenen Projekt „Unterstützung für integriertes Grenz- und Migrationsmanagement in Libyen“ (SIBMMIL) für den Aufbau der libyschen Küstenwache gab die Kommission 59 Millionen Euro aus dem Afrika-Fonds aus, hinzu kamen weiter Gelder aus anderen EU-Töpfen. Das Ziel ist eine „Stärkung der maritimen Überwachungs- und Überwachungsfähigkeit des Küstengürtels. Zuständig für die Umsetzung ist das italienische Innenministerium, entsprechende Maßnahmen laufen bis mindestens Ende 2025.

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Bis jetzt erhielt die zum Militär gehörende libysche Küstenwache, die für internationale Gewässer zuständig ist, im Rahmen von SIBMMIL drei Rettungsschiffe sowie zwei größere Patrouillenboote der sogenannten Corrubia-Klasse. Die Seepolizei, die dem Innenministerium in Tripolis unterstellt ist, wurde mit sechs weiteren Patrouillenbooten ausgestattet. Darüber hinaus bekamen die Behörden 14 Festrumpfschlauchboote sowie umfangreiche Schulungen an der technischen Aufrüstung.

Container waren unauffindbar

Das EU-Projekt hatte sich immer wieder verzögert: Anfangs sollte Libyen im Rahmen von SIBMMIL ein fest installiertes MRCC in Tripolis erhalten. Das Vorhaben blieb allerdings zunächst erfolglos. Die Ende 2021 als Alternative gelieferten Container waren eine Zeitlang unauffindbar, Technik musste teilweise ersetzt werden, es gab organisatorische und politische Streitigkeiten unter den libyschen Behörden, wer die Anlage betreiben soll. Zuständig dafür ist nun ein „Team der libyschen Küstenwache, das ständig vor Ort ist“, schreibt die EU-Kommission.

Das mobile MRCC besteht aus Bürocontainern sowie ein Küchen-, ein Kühlraum- und vier Unterkunftscontainer. Italien spendete darüber hinaus einen „Schulungscontainer“. An der Umsetzung waren mehrere europäische Überwachungsfirmen beteiligt, darunter die italienische Firma E-Geos (eine Tochterfirma von Leonardo) und das britische Unternehmen Telespazio. Systeme zum Empfang von Notfall- und Warnmeldungen stammen von Inmarsat aus Großbritannien, Funkgeräte von Firma Rohde & Schwarz aus Deutschland. Eigene Überwachungsanlagen sollen in den Containern nicht installiert sein, jedoch sind diese laut der italienischen Zeitung Altreconomia an den Marinestützpunkt Abu Sitta angebunden, wo unter anderem Radare und weitere Sensoren betrieben werden – auch diese Technik stammt aus Italien.

Mehr als 200 Beamte von Küstenwache und Seepolizei sollen bereits durch das italienische Innenministerium ausgebildet worden sein. 450 weitere erhielten von der Internationalen Organisation für Migration Ausbildungseinheiten für Sprach- und IT-Kurse, Erste-Hilfe-Trainings oder Missionen in der Wüste.

Mehr Überfahrten trotz gestärkter libyscher Küstenwache

Im Jahr 2024 hat die EU ihren Austausch mit den libyschen Behörden zu Migrationsfragen intensiviert. Dazu gehörten mehrere technische Missionen der Kommission und des Europäischen Auswärtigen Dienstes nach Tripolis, die auch die Fortschritte bei der Inbetriebnahme des MRCC kontrollieren sollten. Im Sommer nahm der damalige Kommissions-Vizepräsident an einem „Migrationsforum“ in Tripolis teil, Ministerien aus Libyen kamen zu einem Treffen nach Brüssel. Dabei wiederholten sie die Forderung nach weiteren Patrouillenboote und logistischer Unterstützung für die Küstenwache.

Laut der EU-Kommission wurden durch das SIBMMIL-Projekt „dank der installierten Ausrüstung“ bereits „bedeutende Fortschritte erzielt“. Gemeint ist wohl die Migrationsabwehr zugunsten der EU: Im Jahr 2024 hat die libysche Küstenwache fast 22.000 Menschen abgefangen, die meisten davon auf in internationalen Gewässern, einige auch rechtswidrig in maltesischen Gewässern. Gegenüber 2023 ist dies ein Anstieg um etwa ein Fünftel.

Die Gesamtzahl der Überfahrten auf der zentralen Mittelmeerroute in Richtung Europa nahm indes weiter zu: Bis Anfang März 2025 kamen in diesem Jahr nach EU-Angaben mehr als 7.000 Menschen in Italien und Griechenland an. Das ist eine Zunahme von 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Libyen ist laut diesen Zahlen mit 93 Prozent weiterhin das Hauptabfahrtsland, es folgen Tunesien, Algerien und die Türkei.

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