Wohl kaum ein EU-Vorhaben ist derzeit so umstritten wie die sogenannte Chatkontrolle. Um Kinder vor sexualisierter Gewalt zu schützen, will die EU-Kommission etwa Messenger und Online-Plattformen wie Facebook dazu zwingen, die privaten Nachrichten ihrer Nutzer:innen zu durchleuchten. Dabei soll auch in verschlüsselter Kommunikation nach Darstellungen von sexualisierter Gewalt gesucht werden.
Immer wieder werden dabei die Zahlen angeführt. Von einer „Online-Pandemie“ spricht die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, eine der größten Verfechterinnen des Vorhabens. Die Meldungen des US-amerikanischen National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC), das Verdachtsfälle sichtet und an Ermittlungsbehörden weiterleitet, hätten sich binnen zwei Jahren verdoppelt. Auf Zahlen des NCMEC hatte sich die EU-Kommission bereits bei der Vorstellungen des Entwurfes vor zwei Jahren gestützt: von 30 Millionen Fällen im Jahr war damals die Rede.
Aus der Zahl der Meldungen leiten Johansson und andere ab, dass auch die Zahl der tatsächlich verübten Straftaten massiv gestiegen sei. Neue Zahlen des Bundeskriminalamtes deuten jedoch darauf hin, dass durch mehr Meldungen des NCMEC vor allem die Zahl der Fehlalarme wächst, nicht aber die Zahl der ermittelten Fälle von „Kinder- und Jugendpornografie“ nach deutschem Strafrecht. Das geht aus der Antwort auf eine Anfrage des Piraten-Abgeordneten Patrick Breyer hervor, die wir im Volltext veröffentlichen.
Mehr Meldungen, mehr Fehlalarme
Das NCMEC bekommt seine Meldungen vor allem von Anbietern großer Plattformen wie Facebook und Instagram oder TikTok, auch Nutzer:innen können über ein Online-Formular verdächtige Inhalte melden. Die Organisation sichtet die Meldungen und leitet sie weiter an Strafverfolgungsbehörden in den Heimatländern der Verdächtigen, sofern diese zugeordnet werden können.
An das BKA schickte das NCMEC im Jahr 2022 demnach 136.437 solcher Hinweise auf mutmaßliche Fälle mit deutschen Tatverdächtigen. Davon stellten sich 89.844 als strafrechtlich relevant heraus.
Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Meldungen auf 180.287 gestiegen, das ist ein Zuwachs von mehr als einem Drittel. Das hat allerdings laut Statistik nicht dazu geführt, dass mehr strafrechtlich relevante Fälle ermittelt wurden. Die Zahl ist vielmehr leicht gesunken auf 89.336. Was sich hingegen verdoppelte, war die Zahl der falschen Meldungen.
Abstimmung steht kurz bevor
Für Patrick Breyer sind die Zahlen ein Beleg dafür, dass die EU mit ihrem Vorhaben in die falsche Richtung rennt. „Die Zerstörung unseres Briefgeheimnisses nimmt immer dramatischere Ausmaße an“, sagt er. „Noch nie sind so viele völlig legale private und intime Fotos und Chats in Hände gelangt, in die sie nicht gehören und in denen sie nicht sicher sind.“ Kinder würden durch die Chatkontrolle massenhaft kriminalisiert, anstatt sie zu schützen.
In Deutschland gab es laut BKA im vergangenen Jahr 37.464 Ermittlungsverfahren wegen kinderpornografischer Inhalte. Fast 40 Prozent der Verdächtigen waren Minderjährige. Auch 14-Jährige, die etwa einvernehmliches Sexting betreiben mit Gleichaltrigen, machen sich in Deutschland derzeit strafbar. Fachleute kritisieren das seit langem als Fehlentwicklung. „Minderjährige im Rahmen ihrer gleichberechtigten sexuellen Entwicklung untereinander sollten nicht vom Strafrecht erfasst werden“, fordert etwa der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger.
„Upload-Moderation“ als neuer Name
Der Streit um die Überwachungspläne der EU eskaliert derzeit, weil die scheidende belgische Ratspräsidentschaft einen neuen Vorschlag vorgelegt hat und nun auf eine Abstimmung hindrängt. Frankreich, das die Pläne bislang ebenso wie Deutschland blockierte, droht nun seine Haltung zu ändern. Dann könnte eine notwendige Mehrheit im Rat zustande kommen und der Weg für weitere Trilog-Verhandlungen von Rat, Parlament und Kommission wäre frei.
Breyer kommentiert dazu: „Wenn die Chatkontrolle durchkommt, wird sie der ständigen Überwachung unserer privaten Chats für jegliche Zwecke Tür und Tor öffnen, wie es Europol bereits gefordert hat. Der Logik der Chatkontrolle folgend wäre das verdachtslose Öffnen und Scannen aller unserer Briefe der nächste Schritt.“
36 Politiker:innen aus der EU haben in einem offenen Brief an die Mitgliedstaaten appelliert, das Vorhaben zu stoppen. Auch die Betreiber der verschlüsselten Messenger Signal und Threema wenden sich mit scharfen Worten gegen das Vorhaben. Eher verlasse man den EU-Markt, sagte Signal-Chefin Meredith Whittaker, als sich den Plänen zu beugen.
Der Kompromiss der Ratspräsidentschaft sieht vor, dass Nutzer:innen nun freiwillig zustimmen sollen, dass ihre Bilder und Videos gescannt werden, bevor sie diese etwa per Messenger verschicken dürfen. Das Schlagwort dafür: „Upload-Moderation“. Mit dem Begriff „Upload Moderation“ hätte die belgische Ratspräsidentschaft der Technologie lediglich einen neuen Namen verpasst, sagt Whittaker. Das Vorhaben bleibe aber das gleiche. Sie warnt vor einer „gefährlichen Schwachstelle in der Kerninfrastruktur“, die über Europa hinaus globale Auswirkungen hätte.
Hier das Dokument
Informationsfreiheit – Meldungen des National Center for Missing and
Exploited Children (NCMEC) (#306076)
Ihr Antrag vom 15. April 2024
2114-13002/28#921
Berlin, 16. Mai 2024
Seite 1 von 2
Sehr geehrter Herr Breyer,
mit E-Mail vom 15. April 2024 haben Sie beim Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) Zugang zu folgender Information beantragt:
• Anzahl der jeweils in den Jahren 2022 und 2023 eingegangenen NCMEC-Meldungen,
• Anzahl der jeweils in den Jahren 2022 und 2023 eingegangenen NCMEC-Meldungen, die als strafrechtlich relevant eingestuft wurden-
• Gründe, Erklärungen und sonstige Informationen für die Veränderung des Anteils strafrechtlich relevanter und strafrechtlich irrelevanter Meldungen
Hierzu teile ich Ihnen folgendes mit:
Im Jahr 2022 hat das US-amerikanische Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) an das Bundeskriminalamt 136.437 Hinweise auf möglicherweise strafrechtlich relevante Sachverhalte mit deutschen Tatverdächtigen übermittelt. 89 844 Vorgänge stellten sich im Rahmen von Ermittlungsverfahren als strafrechtlich relevant heraus (Seite 21 des Berichts über die im Jahr 2022 ergriffenen Maßnahmen zum Zweck der Löschung von Telemedienangeboten mit kinderpornografischem Inhalt im Sinne des § 184b des Strafgesetzbuchs – https://dserver.bundestag.de/btd/20/070/2007050.pdf.)
Für das Jahr 2023 verzeichnete das Bundeskriminalamt 180.287 Hinweiseingänge des NCMEC, davon wurden 89 336 als nach deutschem Recht strafrechtlich relevant bewertet.
Zum dritten Anstrich Ihres Auskunftsersuchens liegen dem BMI keine amtlichen Unterlagen vor.
Ergänzung: Minderjährige machen sich sogar schon strafbar, wenn sie mit dem Handy Bilder von ihrem eigenen Körper machen. Es geht ja um Besitz, nicht Verbreitung.
Korrektur zur Ergänzung: Kinder können sich nicht strafbar machen und bei Jugendlichen ist die Strafbarkeit von einvernehmlicher Herstellung und Besitz zum persönlichen Gebrauch nach StGB 184c Absatz 4 ausgeschlossen.
Sexting etc. sollten eigentlich auch zum persönlichen Gebrauch gehören, da bewegt man sich aber schnell in eine Grauzone.
Von Kindern begangene Straftaten bleiben Straftaten mit entsprechender Strafverfolgung, sie koennen dann nur nicht dafuer bestraft werden.
Kriminalisiert werden sie trotzdem, und das oeffnet die Tuer fuer die entsprechenden Massnahmen (Durchsuchung, Beschlagnahme, etc, pp).