Verlierer, Liebhaber, JunkiesIn diese absurden Schubladen steckt dich die Werbeindustrie

Ob du es willst oder nicht – die Werbeindustrie verpasst dir beklemmend ungeschönte Labels über deine Persönlichkeit. 650.000 davon haben wir in unserer Exklusiv-Recherche untersucht. Die absurdesten findest du hier. Und ja: Es gibt wirklich eine eigene Kategorie für Loser.

Zeichnung von Midjourney. Man sieht im Querschnitt eine Art Schrank mit vielen Fächern, in denen sich Menschen tummeln.
651.463 Kategorien für Menschen hat die Werbeindustrie, die für „Leidenschaftliche Liebhaber:innen“ könnte fast ein Kompliment sein (Symbolbild) – CC0 Midjourney („minimalistic drawing of a huge cabinet with open drawers, outlines, many people, hilarious“)

Wenn jemand selbst absurde Details über dich wissen möchte, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder du wirst von jemandem aufrichtig geliebt. Oder jemand möchte dir etwas verkaufen. Möglicherweise interessiert sich die Werbeindustrie sogar noch mehr für deine Eigenheiten als dein liebster Lieblingsmensch.

Seit Jahren arbeitet diese Branche hart daran, möglichst viel über dich zu erfahren, damit sie dich besser mit zielgerichteter Werbung beeinflussen kann. Wann immer du eine App nutzt, eine Website besuchst, mit einer Kreditkarte zahlst oder an einer Umfrage teilnimmst – deine Daten können in einer Sammlung landen. Hunderte Firmen horten Informationen und stecken dich auf dieser Grundlage in Kategorien. In 651.463 Kategorien, um genau zu sein.

Das zeigt die Angebotsliste eines der größten Datenmarktplätze der digitalen Werbewelt. Dort werden die sogenannten „Audience Segments“ gehandelt. Die Werbeindustrie steckt dich in riesige Container für Gruppen mit angeblichen Eigenschaften, die dir Datensammler zugeschrieben haben. Unsere große Recherche zeigt, dass auch zahlreiche deutsche Firmen an diesem Geschäft verdienen.

Zu den naheliegenden Kategorien gehören zum Beispiel „Männer in Deutschland“, „Alter: 20 – 29“ oder „Besuchte Orte: Edeka“. Problematisch wird es bei Kategorien wie: Homosexuelle, Jüd:innen, Muslim:innen, Menschen mit Depression oder Krebs. Und dann gibt es da noch einige Bezeichnungen, bei denen wir uns erstmal am Kopf kratzen mussten.

Schon klar: Viele von uns werden auch irrtümlicherweise in solchen Kategorien landen. Die Werbeindustrie kann keine stichhaltigen Geheimdienst-Akten über uns erstellen. Es genügt ihr, in der Masse genügend passende Menschen zu erreichen. Die Datenhändler selbst sagen sogar, sie würden gar keine sensiblen Daten verarbeiten, sondern nur „allgemeine Interessen“. Macht euch selbst ein Bild. Hier kommen die absurdesten zehn Werbekategorien aus unserer Recherche.

1. Fragile Senior:innen

Name: Conexance > FR > Households > Typology > Typology Conexance G > G2 Fragile Seniors Retirees over 65 Medium-s
Segmentnummer: 13715805
Anbieter: Adsquare

Alten Leuten kann man gut das Geld aus der Tasche ziehen – auf diese Hoffnung setzt man zumindest auch beim Tele-Shopping, bei Kaffeefahrten und beim Enkel-Trick. Solcher Vorurteile zum Trotz lassen sich aber nicht alle Senior:innen über den Tisch ziehen. Wie praktisch, dass die Werbeindustrie hierfür eine weitere Eingrenzung parat hält: Mit einer eigenen Kategorie für fragile Senior:innen. Wir können nur spekulieren, was der wahre Anlass für diese Werbekategorie war. Aber irgendwer in einer Firma hat sich hingesetzt und sie erstellt.

2. Shoppping-versessene Mamas

Name: Alliant > Composite Segment > Moms Who Shop Like Crazy
Segmentnummer: 412843
Anbieter: Nielsen Marketing Cloud

Die Werbeindustrie liebt Mütter. Bei unserer Recherche fanden wir Kategorien zu Fußball-Mamas, Großstadt-Mamas, alleinstehenden Mamas, trendigen Mamas und natürlich werdenden Mamas. Am meisten erstaunt hat uns jedoch die Kategorie für Shopping-versessene Mamas: „Moms who shop like crazy“. Es ist ein Beispiel für die schonungslose Direktheit der Werbeindustrie. Wenn Verkäufer:innen bei einer Kategorie Dollar-Zeichen in den Augen haben, dann wohl hier.

3. Abhängige von Opiaten

Name: Opiate Addiction (Proximic Agent)
Segmentnummer: 4849510
Anbieter: comScore Inc.

Opiate sind besonders starke Schmerzmittel, die leicht süchtig machen. In den USA ist die Opioidkrise dramatisch: Menschen bekommen die Schmerzmittel im Krankenhaus, einige werden danach süchtig, manche sterben später an Überdosen. Stellt sich die Frage, was Händler:innen mit einer entsprechenden Werbekategorie anstellen. Wollen Sie damit vielleicht gezielt Werbung für Suchttherapie verbreiten – oder aber den Menschen noch mehr Schmerzmittel andrehen? Vielleicht passiert beides. Wir wollen lieber nicht wetten, was häufiger vorkommt.

4. Deutsche Soldat:innen

Name: International_EU > Germany Military (Lotame)
Segmentnummer: 4074072
Anbieter: Lotame

Bei dieser Werbekategorie kann praktisch nichts schiefgehen. Viele Menschen hätten gerne einen direkten Draht zu Angehörigen des Militärs, einfach um mal ein paar harmlose Ideen zu tauschen. Spontan fallen uns da der russische Geheimdienst ein – oder Reichsbürger:innen, die Kamerad:innen für einen Putsch suchen.

5. Menschen, die weniger Tabak konsumieren wollen

Name: Nielsen Lifestyle > Health > Trying to cut down on tobacco (VDNA)
Segmentnummer: 10899540
Anbieter: Nielsen Marketing Cloud

Sehen wir’s positiv: Es könnte schlimmer sein. Immerhin heißt die Kategorie nicht: Menschen, die mehr rauchen wollen. Oder gar: Tabak-versessene Mamas. Mulmig wird einem hier trotzdem. Wer möchte schon gern als Raucher:in mit schlechtem Gewissen auf dem weltweiten Werbemarkt gehandelt werden? Es ist eine Industrie, die gnadenlos unsere Schwächen kennen und zu Geld machen will. Ähnliche Kategorien hat die Firma Nielsen übrigens für Leute im Angebot, die weniger Süßigkeiten, Fastfood oder Alkohol konsumieren wollen.

6. Essstörungen

Name: Eating Disorder
Segmentnummer: 16237498
Anbieter: LiveRamp Data Store

Unter dieser Kategorie können Werbetreibende offenbar gezielt Menschen erreichen, die nach Einschätzung der Werbeindustrie eine ernste, psychische Störung haben oder damit in Verbindung stehen. Recherchen zeigen: Mitunter sind es gerade werbefinanzierte soziale Netzwerke, die zu einer Essstörung beitragen können, weil sie Inhalte mit problematischen Schönheitsidealen fördern. Durch gezielte Werbung lässt sich die Notlage von Betroffenen also direkt dort zu Geld machen, wo sie besonders getriggert wird. Dazu fällt uns einfach nichts weiter ein.

7. Menschen, die heftig viele Schwangerschaftstests kaufen

Name: US IRI > Intent > Heavy Purchaser > Pregnancy Test Kits
Segmentnummer: 24839314
Anbieter: Eyeota

Ja, diese Kategorie gibt es wirklich. In den USA kann man gezielt Nutzer:innen ins Visier nehmen, die heftig viele Schwangerschaftstests kaufen, „Heavy Purchasers“. Andere Kategorien beziehen sich etwa auf Menstruations-Tracker, Verhütung und die politische Einstellung zu Abtreibungen. All diese Kategorie beziehen sich nicht nur auf die Intimsphäre von Nutzer:innen, sie können auch gefährlich werden: Seit 2022 in den USA das Recht auf Abtreibung gekippt wurde, können Betroffene staatlich verfolgt werden. Dabei kann die Polizei auch Datenspuren nutzen. Wer nicht zum Hilfssheriff einer Staatsgewalt werden möchte, die reproduktive Rechte verletzt, sollte solche Daten also am besten gar nicht erst erfassen.

8. Viagra: Ungesunde Orte

Name: Viagra – Unhealthy Place Visits
Segmentnummer: 19369226
Anbieter: Adsquare

Wir haben so viele Fragen: Was hat das Arzneimittel Viagra mit ungesunden Orten zu tun? Was genau ist ein ungesunder Ort? Sollen die Menschen in dieser Werbekategorie Viagra kaufen – oder haben sie es bereits getan und sich danach einen „ungesunden“ Burger gegönnt? Wir haben diese Ungewissheit nicht ausgehalten und bei der Berliner Firma Adsquare nachgefragt. Antwort: „Hierbei handelt es sich um ein Custom Segment eines unserer Kunden aus Großbritannien.“ Custom Segment heißt, den Namen dieser Kategorie hat ein bestimmter Werbekunde selbst bestimmt, andere können das Segment nicht nutzen. Mehr haben wir zwar nicht erfahren – aber immerhin wissen wir, selbst für die Werbeindustrie ist diese Kategorie eine Ausnahme.

9. „Ich komme immer zu kurz“

Name: Consumer Profiles > Demo > General Attitudes > I generally get a raw deal out of life
Segmentnummer: 18059364
Anbieter: Eyeota

Ja, es gibt tatsächlich eine Werbekategorie für Loser. Beziehungsweise für Menschen, die sich als Verlierer empfinden. „Ich komme immer zu kurz“, heißt diese Kategorie, und sie zeigt einmal mehr, wie zynisch die Werbeindustrie auf menschlichen Schwächen abzielt. Der Überbegriff hier ist „General Attitudes“, Grundeinstellungen. Es gibt auch eigene Kategorien für Leute, die sich gerade in der Scheidung befinden, für Spielsüchtige und für Menschen mit Schlafstörungen. Unsere „general attitude“ nach der Recherche lautet übrigens: „Überwachungswerbung gehört abgeschafft“.

10. Leidenschaftliche Liebhaber:innen

Name: VisualDNA Personality > Personality > Love > Passionate Lovers
Segmentnummer: 25850661
Anbieter: Nielsen Marketing Cloud

Nicht alle Werbekategorien ziehen einen derart runter wie die Kategorie für Verlierer. Im Vergleich dazu erscheint „Leidenschaftliche Liebhaber:innen“ geradezu wie ein Kompliment. Verwandte Kategorien beziehen sich etwa auf sexuelle Orientierung oder Sex-Sucht. Bleibt die Frage, was die Werbeindustrie all das eigentlich angeht.

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6 Ergänzungen

  1. Man mag ja über manche Kategorien schmunzeln. Nützlicher wäre es aber allemal, wenn wir die hostnames dieser „Anbieter“ in DNS-Blocklists einpflegen würden.

    Wer arbeitet daran?

  2. Gute Frage mit den DNS!
    Möchte mich auch bei Euch sehr bedanken, dass Ihr das aufgedeckt und aufgearbeitet habt, liebe Netzpolitik! Das ist ein wirklich wichtiger Schritt zum Empowerment gegen die übermächtigen Gierschlunde!

    Was mich interessiert wäre, ob es irgendwelche Möglichkeiten gibt, meine eigenen Cookies zu manipulieren und zu beschreiben; sozusagen selbst auf irgendeine Weise wählen zu können, welcher Kundengruppe ich zugehörig bin, um die Inhalte/Angebote einer bestimmten Gruppe im Internet sehen zu können.

  3. Waren es nicht die Lyder, die (Midas) das Geld erfanden? Sagte nicht Goethes Gretchen „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach wir Armen!“

    „Money can’t by me love“ sangen die Beatles.

    Ich nenne es (nach Janov) symbolisches Verhalten. Da es das, was sie haben wollen nicht zu kaufen gibt, weichen sie auf Ersatz aus. Es ist einfach einfacher, sich mit Geld (und Macht) zu beschäftigen, als mit den Realen Bedürfnissen.

    Ein Spruch aus meiner „Das darf doch nicht wahr sein Phase“: Irgendwann zwischen 13 und 20:

    Der Mensch hat sich eine Umwelt geschaffen, die nicht für Menschen geeignet ist.

  4. Kann es sein, dass manche Kategorien dazu da sind, bestimmte Gruppen auszufiltern, indem man die Liste nach einem gewünschten Kriterium mit dieser abgleicht? Wer will schon unnötig Geld ausgeben, um Abhängige zu umwerben, wenn man nicht Drogen verkauft?

    1. > Kann es sein, dass manche Kategorien dazu da sind, …

      Es geht in erster Linie ums Geschäfte machen, weniger darum, Geschäfte zu verhindern.
      Letzteres wäre bei einer (hier nicht vorhandenen) Kategorie „Schlechter Schuldner“ vorstellbar.

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