Ein YouTuber befürchtet, dass politische Videos wie Rezos „Zerstörung der CDU“ bald nicht mehr möglich sein könnten, sein Video bekommt eine halbe Million Aufrufe. Nichtregierungsorganisationen schreiben offene Briefe und warnen ausgerechnet im Chor mit Google vor einer Gefährdung der Meinungsfreiheit. Währenddessen warnt eine wichtige EU-Abgeordnete vor Wirkungslosigkeit.
Es geht um die Verhandlungen der EU über neue Regeln für politische Werbung, die lange unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung flogen. Doch kurz vor dem Eintritt in die entscheidende Verhandlungsphase wird es nun doch noch spannend. Was ist da los?
Eine Frage der Definition
Die EU will mit ihrer „Verordnung über die Transparenz und das Targeting politischer Werbung“ die Gefahren von zielgerichteten und verdeckt finanzierten Online-Kampagnen in den Griff bekommen. Wie unsere Analyse zeigt, ist noch unklar, ob die Verordnung diese großen Versprechen halten kann. Vieles hängt vom Europäischen Parlament ab, das noch im Januar eine Position beschließen will. Einer der größten Streitpunkte: Was verstehen wir überhaupt unter politischer Werbung?
Von dieser Definition hängt enorm viel ab. Ist sie zu eng, könnte die EU an der Praxis vorbeiregulieren und wichtige Formen der digitalen Manipulation außer Acht lassen. Ist sie zu weit, könnten auch Kommunikationsformen von den Regeln betroffen sein, die gar keine Werbung sind. Etwa Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen, die sich organisch verbreiten – oder ganz normale Posts zu Wahlen oder Abstimmungen.
Dass genau das zu passieren droht, davor warnt vor allem Google schon länger. Im Sommer 2022 verschickte die Lobbygruppe DOT Europe, an der Google beteiligt ist, Postkarten an EU-Abgeordnete. Darauf abgedruckt waren normale Tweets der Parlamentarier:innen und die Warnung, dass diese bald als politische Werbung reguliert werden könnten. Die Abgeordneten müssten verhindern, dass die Definition von politischer Werbung zu weit gefasst wird und auch unbezahlte Inhalte als Werbung gelten.
Eine ungewöhnliche Allianz
„Wir freuen uns, mit Ihnen darüber ins Gespräch zu kommen“, endet die Postkarte der Lobby-Organisation. Unsere Recherchen zeigen: Ins Gespräch gekommen ist Google seitdem nicht nur mit Abgeordneten, sondern auch mit vielen anderen, zum Beispiel mit Nichtregierungsorganisationen. Googles Warnung kam an.
Im Laufe der Zeit griffen mehr und mehr Akteur:innen die Frage nach der Definition politischer Werbung auf. Nach einem offenen Brief diverser europäischer Digital-Rights-Organisationen Ende Oktober legten Ende November mehrere deutsche Nichtregierungsorganisationen nach. Nun warnten in einem eigenen offenen Brief auch D64, Algorithm Watch, Digitale Gesellschaft, Stiftung Neue Verantwortung und andere vor der geplanten Definition.
Es sei von höchster Bedeutung, „dass es durch die Verordnung nicht zu einer Gleichstellung von bezahlter politischer Werbung und unbezahlten politischen Meinungsäußerungen kommt“, heißt es in dem Schreiben. Dafür müsse die EU klarer definieren, dass die Verordnung nur auf bezahlte Dienstleistungen abziele. „Politische Äußerungen, für deren Erstellung oder Verbreitung nicht bezahlt wird, sollten keinerlei Beschränkungen außer den bereits im Rahmen der Meinungsfreiheit geltenden unterliegen.“
Auch der YouTuber RobBubble warnt in einem knapp 500.000 Mal angeklickten Video, dass die Verordnung die Meinungsfreiheit im Netz beschränke, weil sie jegliche politische Äußerung als politische Werbung definiere. Der YouTuber, der bürgerlich Robin Blase heißt, findet dafür ein griffiges Beispiel: Das Video, mit dem sein YouTube-Kollege Rezo den EU-Wahlkampf 2019 in Deutschland aufgemischt hatte. In „Die Zerstörung der CDU“ nimmt dieser schließlich nicht nur eine politische Analyse vor, sondern ruft auch explizit dazu auf, die Unionsparteien nicht zu wählen. Derlei freiwillige Interventionen könnten künftig unmöglich werden, so Blases drastische Warnung.
Ein problematisches Verständnis von Werbung
Will die EU künftig also wirklich jede politische Meinungsäußerung im Netz wie Werbung regulieren? Verfechter:innen einer breit gefassten Definition streiten das ab. Doch die Kritik ist alles andere als aus der Luft gegriffen. Die EU-Kommission und der Rat der Mitgliedstaaten wollen nicht nur jegliche Botschaften von politischen Parteien, Bündnissen, Kandidat:innen und gewählten Amtsträger:innen als Werbung definieren. Sondern auch jede Botschaft, „die geeignet ist, das Ergebnis einer Wahl oder eines Referendums, einen Rechtsetzungs- oder Regulierungsprozess oder ein Abstimmungsverhalten zu beeinflussen.“
Gemeint sind also bewusst nicht nur bezahlte Dienstleistungen. Verboten wären unbezahlte politische Posts oder Videos wie die „Zerstörung der CDU“ damit natürlich nicht. Doch auch ganz normale politische Äußerungen würden dann den Transparenz- und Targeting-Vorgaben der Verordnung unterliegen. Sie bräuchten dann etwa eine umfassende Transparenzbekanntmachung: Was hat die Erstellung des Posts gekostet? Wer steht hinter dem Post und wie sind die Verantwortlichen zu erreichen? Sich in politische Debatten im Netz einzumischen, könnte dadurch wesentlich komplizierter werden.*
Ein Problem wäre das insbesondere auch für Google und andere Werbeplattformen. Wenn die Verordnung nicht nur für bezahlte Inhalte gilt, macht es das für sie schwieriger, zu erkennen, welche Posts unter die Verordnung fallen. Das wiegt besonders schwer, weil die neuen Regeln unter anderem beschränken sollen, wie Social-Media-Plattform die Reichweite politischer Werbung verstärken. Diese sogenannte Amplifizierung kann beispielsweise durch Empfehlungsalgorithmen passieren und gehört fest zur Funktionsweise der Plattformen.
Selbst alle Inhalte zu erkennen, die unter die neuen Regeln fallen, wäre ohne Zweifel aufwendig, teuer und fehleranfällig für die Plattformen. Sabine Frank von YouTube Germany geht sogar noch einen Schritt weiter: Sie wisse schlicht nicht, wie ihr Unternehmen die Regeln umsetzen solle, wenn unbezahlte nutzergenerierte Inhalte in den Anwendungsbereich fallen würden, sagt sie im Gespräch mit netzpolitik.org. „Die EU macht hier aus einer Regulierung politischer Werbung eine Regulierung politischer Rede, das ist eine völlig neue Dimension.“
Von Google angestoßen
Die gemeinsamen Warnungen von Zivilgesellschaft und Industrie scheinen zu fruchten. Zwar nicht beim Rat der EU, in dem sich die Mitgliedstaaten im Dezember für die weite Definition politischer Inhalte ausgesprochen haben. Aber im Europäischen Parlament. Hier zeichnet sich ab, dass die Abgeordneten die Definitionen auf bezahlte Dienstleistungen beschränken werden.
An diesem Erfolg ändert auch nichts, dass er gleichzeitig als Lehrstück über erfolgreichen Lobbyismus durch einen Tech-Konzern dienen kann. Denn wie unsere Recherchen zeigen, ist es kein Zufall, dass der YouTuber und die NGOs auf das Thema aufmerksam wurden. Weder RobBubbles kritisches Video zur EU-Verordnung, noch der Brief der deutschen Nichtregierungsorganisationen wären entstanden, wenn Google sie nicht auf das Thema aufmerksam gemacht hätte. Das bestätigen uns auf Anfrage alle Beteiligten.
YouTuber Blase erzählt uns zum Beispiel, dass er bei einem Roundtable von YouTube auf das Thema hingewiesen wurde. Die Videoplattform veranstalte dieses Format einmal im Quartal, um sich mit einigen deutschen Content Creators auszutauschen. Regelmäßig weise das Unternehmen die YouTuber:innen hier auf relevante politische Entwicklungen hin, so Blase weiter. „Das gehört seit der Upload-Filter-Sache und Artikel 17 eigentlich immer zum Programm.“ Also seit der Debatte um die umstrittene Urheberrechtsform der EU, bei der schon einmal Google gemeinsam mit YouTuber:innen und Zivilgesellschaft für eine Kurskorrektur stritt.
“Jede Kommunikation ist politisch“
„Über die Inhalte des Videos habe ich natürlich selbst entschieden, nachdem ich zum Thema recherchiert habe“, betont Bubble. Geld habe er für das Video nicht erhalten. Auch Sabine Frank betont, dass kein Geld geflossen sei. YouTube habe die Reichweite des Videos auch nicht verstärkt, bloß weil es zur politischen Agenda des Unternehmens passe. „Sowas würden wir niemals machen“, betont die deutsche Chef-Lobbyistin von YouTube. Dass man relevante gesellschaftliche Gruppen auf wichtige Gesetzesvorhaben hinweise, sei einfach Teil der alltäglichen politischen Arbeit von Google.
Auch Erik Tuchtfeld, der als Co-Vorsitzender von D64 den deutschen Brief mitinitiiert hat, betont, dass Google keinen Einfluss auf den Inhalt des Schreibens genommen habe. „Jede Kommunikation ist politisch. Wie will man da unterscheiden, was möglicherweise Einfluss auf Wahlen nimmt?“, fragt der Jurist. Um politische Werbung und politische Rede auseinanderhalten zu können, brauche es ein hartes Unterscheidungskriterium. Dafür eigne sich nun mal am besten die Frage, ob Geld geflossen ist.
Tuchtfeld ist wichtig zu betonen, dass die anderen Punkte des offenen Briefes im klaren Gegensatz zu dem stehen, was Google will. Er sagt: „Wir fordern eine weitgehende Beschränkung des Targetings bei politischer Werbung, das dürfte Google gar nicht schmecken.“ Er selbst sei für ein gänzliches Verbot von Targeted Advertising. „Dass Google auf uns zugekommen ist, macht die Argumentation ja nicht automatisch falsch.“
Warnung vor Schlupflöchern
Ist am Ende also alles gut? Einfach einer dieser seltenen Fälle, in denen es auf das gleiche hinausläuft, wenn ein Tech-Konzern sein Geschäft schützen will und die Zivilgesellschaft den freien Diskurs?
Nicht so ganz, findet Alexandra Geese. Die Grünen-Abgeordnete verhandelt die Werbe-Verordnung im federführenden IMCO-Ausschuss des EU-Parlaments mit und ist sonst oft einer Meinung mit der Zivilgesellschaft. Bei allem Verständnis für die Kritik an der weiten Definition, fürchtet sie dieses Mal jedoch, dass das Pendel nun zu stark in die andere Richtung ausschlagen könnte. Eine Definition von politischer Werbung, die lediglich auf bezahlte Dienstleistungen abzielt, lasse schließlich Schlupflöcher für einige problematische Aspekte digitaler Kampagnen.
Nicht unter die Regeln fallen würden dann etwa Anzeigen und Amplifizierungen, die Tech-Konzerne wie Meta und Google auf ihren eigenen Plattformen und im eigenen Interesse betreiben würden. Hierfür fließt schließlich kein Geld an einen Dienstleister. Wenn die Konzerne also selbst ihre mächtigen Werbewerkzeuge nutzen, würden weder Transparenzvorgaben noch Targeting-Einschränkungen gelten.
Geese macht noch auf ein weiteres Problem der engen Definition aufmerksam: Der Fokus auf bezahlte Dienstleistungen zielt vor allem auf Online-Plattformen. Doch auch die von Parteien intern organisierten Datenanalysen und Targeting-Maßnahmen können problematisch sein. Schließlich setzen Parteien in Europa nicht nur auf die Werkzeuge der Plattformen, sondern bauen auch eigene Datenbanken auf, die sie für die gezielte Ansprachen bei E-Mail- und Messenger-Kampagnen oder im Haustürwahlkampf nutzen. Sollen hier etwa keine Transparenzregeln gelten?
Darüber wird in Kürze das EU-Parlament entscheiden, das dann anschließend im Trilog einen Kompromiss mit dem Rat und der Kommission finden muss. Vielleicht gelingt es dabei, eine Definition zu finden, die nicht alle politischen Posts trifft, aber auch nicht so eng ist, dass die von Geese genannten Schlupflöcher offen bleiben.
*Korrektur, 25.01.2023:
Die EU-Abgeordnete Alexandra Geese stellt in einem Post klar, dass selbst bei der weiten Definition von politischer Werbung die Transparenzvorgaben lediglich für Dienstleistungen gelten sollen. Ein normaler politischer Post oder ein Video wie „Die Zerstörung der CDU“, das nicht beworben wird, müsste also keine Transparenzbekanntmachung erhalten. Damit entfällt ein wichtiges Argument dafür, dass der weitgefasste Ansatz die Teilnahme am politischen Diskurs erschweren würde.
Ich würde mich freuen, wenn auf den Punkt der Grauzone in Kommunikation genauer eingegangen wird, anstatt Schwarz/Weiß-Denken zu unterstützen.
Während der Anfang noch ausgewogen ist, wird im Mittelteil daraus ein „Wenn Google damit angefangen hat, muss es grundsätzlich schlecht sein“ und sofort wird allen unterstellt, bezahlt oder manipuliert zu sein.
Nachher wird es dann wieder besser, aber dieser Mittelteil nicht ausgewogen aufgelöst. Es gibt kein Wort der Erklärung, sondern der Leser mit diesen Unterstellungen allein gelassen.
Ich bitte euch, Netzpolitik.
Achtet selbstkritisch darauf, nicht in den Extremismus zu verfallen und Lobbyismus als „Arbeit der Konzerne“ zu betrachten.
NGOs betreiben Lobbyismus. Die Klimaaktivisten ebenso. Lobbyismus bedeutet nur, dass für die Interessen einer Gruppe gearbeitet wird. Das macht ihr auch. Posteo tut es. Oder der „Nachbarschaftsverein der fröhlichen Hamsterbesitzer“. Sie alle betreiben Lobbyismus.
Ja, Google hat es angestoßen.
Man kann sagen, zum Glück. Offenbar hatte sonst keiner die Mittel, sich den Vorschlag vorher durchzulesen. Manchmal braucht es eben die Rechtsabteilungen der Konzerne, um auf weitreichende Änderungen aufmerksam gemacht zu werden.
Daraus kann man dann eigene Schlüsse ziehen. Und es kann auch passieren, dass man gleicher Meinung wie ein Konzern ist.
Vielleicht erinnert ihr euch, dass ihr bei der Copyright-Directive auch zu fast 100% mit Googles Argumenten übereingestimmt habt. Oder schon vergessen?
Es gibt eben nicht nur Schwarz und Weiß. Eine Argumentation muss nicht zwingend schlecht sein, nur weil sie von Google kommt; oder jemand anderem, der nicht als „Teil der Guten“ definiert wird.
Ich bitte euch inständig, auf Argumente zu achten. Anstatt ad hominem zu betreiben, den Glauben an Verschwörungen zu bestärken, sowie extremistisches Schwarz/Weiß-Denken mit voranzutreiben.
Bitte!
@con2epa Schwarz/weiß ist immer falsch. Aber man kann auch nicht ignorieren, dass Google eine Macht und Reichweite besitzt, an die keine NGO auch nur im Promillebereich aus eigener Kraft heranreicht. Das sind ganz andere Größenordnungen. Google hat sich in den Protest gegen Uploadfilter aktiv eingeschaltet, Ergebnis: Über 200 000 Menschen an 1 Tag auf der Straße. In die noch viel weitreichendere Chatkontrolle-VO hat sich Google nicht eingeschaltet, Ergebnis: 20 Leute auf der Straße. Und das, obwohl hier genauso die Zivilgesellschaft sturm läuft (!)
Auch sollte man den Begriff der Kunstrasenbewegung in diesem Kontext erwähnen (Astroturfing). Das ist keine abstrakte Gefahr, hier bieten sich weitere Schlupflöcher.