"Hotel Utopia"Wo Götterfunken im Hals stecken bleiben

Zwei Stunden dauert die interaktive Theaterreise in Absurdität und Bürokratie, ausgestattet mit einem zufälligen Pass. Das Ziel: ein Leben in Deutschland. Der Ausgang: ungewiss. Eine Rezension.

Ein Pass mit vielen Stempeln
Ist der Mensch mehr als sein Pass? – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com ConvertKit

Im Tower des ehemaligen Flughafens Tempelhof warten die Besucher:innen auf Einlass. Statt Sitzplätzen bekommen sie am Eingang einen Pass in die Hand gedrückt, der ihnen Zugang zu dem interaktiven Theaterstück „Hotel Utopia“ gibt. Der Zufall entscheidet, ob sie als Türke, Australierin, Iraker oder Staatenlose starten – und damit darüber, wie beschwerlich ihr Lauf durch die Institutionen auf sechs Ebenen des Gebäudes wird. Das Ziel aller aber lautet: in Deutschland zu leben.

Ich nehme an diesem Abend die Rolle von Ole Andersen aus Norwegen ein und habe es damit vergleichsweise leicht. Mein Pass öffnet mir viele Türen, ich brauche nur eine Wohnung und Arbeit. An den Schaltern atmen die Sachbearbeiter:innen hörbar auf, ich bin ein einfacher Fall.

Meine Wunschtätigkeit als Ingenieur ist zwar gerade nicht verfügbar, teilt mir die Frau beim Jobcenter mit. Aber bei den Verkehrsbetrieben im Wachdienst sei noch was frei. Und mit der Zeit könne ich aufsteigen, wenn ich mich weiterbilde. Einen Sprachkurs empfiehlt sie mir trotzdem. „Es ist ja schon gut die Sprache zu sprechen, wenn man hier leben will“, gibt sie mir auf den Weg.

Menschen, die zu Formularen werden

Für andere ist das mehr als eine Empfehlung. Während ich die wichtigsten Stationen hinter mir habe, irren sie noch durch die Gänge und sammeln Unterschriften.

In den Sprachkursen wiederholen sie die Sätze der Lehrer:innen, die sie nicht verstehen. Bereiten sich auf Einbürgerungstests vor. Bei der Botschaft versuchen sie Probleme mit ihren Ausweisdokumenten zu klären. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – kurz BAMF – warten sie auf die Anhörung, bei der Ausländerbehörde auf das nächste Formular. Der am Einlass mitgegebene Kugelschreiber wird neben dem Pass zum wichtigsten Requisit des Abends.

Immer wieder machen sie die gleichen Angaben auf Formulare. Und sie fragen sich: Bekomme ich Probleme, wenn ich das Kreuz an der falschen Stelle setze? Wenn mein Einkommen nicht hoch genug ist? Der Mensch selbst wird zu papiernen Formularen. Die Jagd nach der richtigen Unterschrift gerät zur Farce.

Worauf wartet ihr hier?

Am Ende sieht man im Tower immer wieder Menschen vor Schaltern anstehen. Sie wissen nicht immer genau, warum sie dort warten. Wofür sie die nächste Unterschrift, die nächste Bescheinigung eigentlich brauchen. Manche der Schlangen sind lang, die Beamt:innen hinter den Monitoren machen öfter mal Pause. Während regelmäßig Durchsagen verkünden, dass ein weiterer Monat vergangen ist, stellt sich Langeweile ein. Doch die Langeweile ist hier kein Makel der Inszenierung. Sie ist das Fenster zur Reflexion.

Unterbrochen wird sie immer wieder durch Interventionen der Schauspielenden. Kurze, auf den Treppenstufen des Towers dargebotene Szenen: die Handyauslesungen auf dem BAMF; bohrende Kaskaden von Fragen zu den Fluchtgründen, die immer persönlicher werden; vergessene biometrische Daten, die US-Militär und Bundeswehr in Afghanistan erhoben haben und die nun Menschen in Lebensgefahr bringen könnten; Frontex; Irisscans; Fiktionsbescheinigungen und Flughafenverfahren.

Die Szenen sind dokumentarisch. Wer sich mit den Entwicklungen noch nicht eingehend beschäftigt hat und die realen Vorlagen nicht kennt, kann hier leicht überfordert sein. Nimmt aber vielleicht doch jene Fragen mit nach Hause, um die fehlenden Informationen nachzuschlagen, mit denen sich die Zwischenspiele verstehen lassen.

Solche Informationen hätten auch vor Ort geholfen. Mein Alter Ego, Ole Andersen, hätte sich gern in einen Wartebereich gesetzt und sich dort weiter informiert. Auch ein Bildschirm mit Reden von Bundesinnenministerin Nancy Faeser, in denen sie eine stärkere Kontrolle der Migrationsbewegungen fordert, hätte sich nahtlos in die Szenerie eingefügt.

Unerträglich wird das Stück, wo aus den Lautsprechern „Freude, schöner Götterfunken“ durchs Gebäude hallt. Vertonte, an diesem Ort geradezu abstoßende Feierlichkeit, die bedrückender nicht sein könnte. So abstoßend und bedrückend wie es eigentlich ist, ein Asylverfahren nachzuspielen, das für andere eben kein Spiel ist. Sondern die Hoffnung auf ein Leben bedeutet – ohne Krieg, ohne Unterdrückung, ohne Verfolgung.

Doch gerade das Abstoßende zieht einen in das Stück hinein. Und es macht die Inszenierung von Christiane Mudra und ihrem Team so stark und eindrücklich. Denn dass hinter der Absurdität des Abends reale Schicksale stecken, merken die Ausländer:innen auf Zeit in jeder Minute. Wenn sie am Ausgang ihren fiktiven Pass wieder gegen den eigenen eintauschen, werden sie die Fragen wohl noch länger beschäftigen.

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