Gewalt an EU-GrenzenMenschen auf der Flucht streamen brutale Pushbacks auf TikTok

Mehr als 25.000 Fälle von Gewalt an den Außengrenzen der EU, das ist die aktuelle Bilanz des Border Violence Monitoring Projects. Grenzbeamt:innen zerstören dabei reihenweise Smartphones, berichtet Milena Zajović auf der re:publica – auch weil Geflüchtete damit die Verletzung ihrer Menschenrechte dokumentieren.

Zerstört, ausgelesen, geklaut – Lexica (Prompt: „smartphone broken screen“)

Geflüchtete berichten, wie sie im Winter nackt im Wald zurückgelassen worden seien, wie Grenzbeamte auf sie geschossen hätten oder sie ins Wasser drängten. Angetan hätten ihnen das demnach Beamt:innen der nationalen Behörden in Serbien, Bosnien oder Ungarn; einige hätten Uniformen von Frontex getragen, der europäischen Agentur für Grenzschutz. Immer wieder geht es auch um Smartphones, die Beamt:innen ihnen abgenommen oder zerstört haben sollen.

Von solchen Berichten gibt es inzwischen mehr als 25.000, gesammelt auf einer Website des Border Violence Monitoring Project. Es sind Berichte von Menschen auf der Flucht, die misshandelt, gefoltert und gewaltsam zurück über die Grenzen gejagt werden.

Der damalige Frontex-Direktor Fabrice Leggeri bestritt die Vorwürfe noch Ende 2020 vor dem Justiz- und Innenausschuss des EU-Parlaments. „Wir haben keine Beweise dafür, dass bei unseren Einsätzen eine aktive, direkte oder indirekte Beteiligung von Frontex-Beamten an Pushbacks gegeben hat“, sagte er damals. Inzwischen ist Leggeri zurückgetreten – wegen Skandalen um die gewaltsame Zurückweisung von Geflüchteten.

Milena Zajović leitet die Abteilung für politische Interessenvertretung des Border Violence Monitoring Network. Sie trägt die Berichte der Geflüchteten weiter, vor Gerichte oder ins EU-Parlament. Das Ziel: diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die Menschenrechte auf solche Art verletzen. Smartphones, berichtet sie, haben dabei eine wichtige Funktion.

Ihre Arbeit hat Milena Zajović auf der Konferenz re:publica vorgestellt, Anlass war das englischsprachige Panel „Tracked, read out, destroyed: smartphones of people on the move in the focus of state authorities“. Die Fragen stellte Andreas Grünewald von Brot für die Welt. Wir veröffentlichen eine bearbeitete und übersetzte Version des Gesprächs. Die Rolle von Smartphones bei Gewalt gegen Menschen auf der Flucht dokumentiert auch die neue Webseite „Mit dem Smartphone auf der Flucht“ von Brot für die Welt.

Milena Zajović, welche Rolle spielen Handys bei der Flucht über die Balkanroute in die EU?

Milena Zajović: Erst mal geht es um Orientierung. Wenn ich in einem Land, in dem ich noch nie war, versuche im Wald den Weg zu finden und dabei nicht gefunden werden will, dann brauche ich Kartendienste. Aber ein weiterer wichtiger Punkt ist die Dokumentation der Ereignisse. Für uns ist vor allem wichtig, dass sich die Menschen der Beweiskraft dessen bewusst werden, was sie mit ihren Telefonen aufnehmen können. Immer mehr Menschen versuchen zum Beispiel die Uniformen der Polizist:innen aufzuzeichnen, die sie festnehmen. Sie zeichnen die Innenräume der Haftanstalten auf, einschließlich der geheimen De-facto-Haftanstalten auf dem Balkan.

Wir beobachten gerade noch einen weiteren besonders bedrückenden Trend: Immer mehr Menschen zeigen ihre Grenzüberquerungen per Livestream auf Instagram oder TikTok, manchmal bis zu ihrem Tod. Sie tun das vielleicht in der Hoffnung, dass ihre Familien wissen, was ihnen passiert ist. Ich war persönlich daran beteiligt, die Leichen einiger Menschen zu finden oder zu überführen, die bei diesem Versuch ihr Leben verloren haben. Es ist herzzerreißend, ein Kind zu sehen, das seinen Weg in den Tod live auf TikTok sendet.

„Er filmte jeden seiner Versuche, Asyl zu beantragen“

Ein Smartphone, das eine Landkarte darstellt.
Wenn Menschen ohne abgeschlossenes Asylverfahren in das Land abgeschoben werden, aus dem sie fliehen, nennt man das einen Pushback. An den EU-Außengrenzen passiert das zum Teil auch ohne, dass Asylsuchende einen Asylantrag stellen können. - Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Mael Balland

Wie bekommen Sie dieses Filmmaterial in die Hände?

Milena Zajović: Wir sind 14 Organisationen, die das Gebiet von der Türkei bis Österreich abdecken. Was wir nicht leisten können, ist Hilfe im Transit selbst, das wäre illegal. Aber wir verteilen Lebensmittel, Kleidung, bieten medizinische Dienste an. Das bedeutet, dass die Menschen unsere Aktivist:innen kennen und uns vertrauen. Wann immer sie auf einen Pushback oder eine andere Verletzung ihrer Integrität stoßen, wenden sie sich in der Regel an uns. Bislang konnten wir so die Aussagen von über 25.000 einzelnen Opfern an den europäischen Außengrenzen sammeln. Wir nutzen diese Aussagen für unsere Lobbyarbeit auf nationaler, EU- und internationaler Ebene. Wir versuchen auch, strategische Klagen darauf aufzubauen.

Haben Sie ein Beispiel für einen konkreten Fall?

Milena Zajović: Ein Übersetzer, der selbst geflüchtet ist und lange Zeit mit unserer NGO in Griechenland zusammengearbeitet hat, wusste genau, welche Fragen wir stellten, wenn wir Fälle von Pushbacks dokumentieren. Irgendwann wurde er selbst von Frontex-Beamt:innen in Albanien festgenommen. Sie haben ihn den nationalen Behörden übergeben, die ihn dann zurückgeschoben haben. Er filmte seinen Pushback und sendete ihn per Livestream an uns, einschließlich jeden seiner Versuche, Asyl zu beantragen und wie sie abgelehnt wurden.

Was haben Sie mit dem Material getan?

Milena Zajović: Wir nutzten dieses Filmmaterial und die Metadaten, die wir von seinem Telefon extrahieren konnten, um zwei Beschwerden gegen Frontex einzureichen, eine wegen Verletzung der Grundrechte und die andere wegen Verstoß gegen die Datenschutzgrundverordnung. Am Ende konnten wir diese Beweise vor die Frontex-Kontrollgruppe im Europäischen Parlament bringen. Wir haben es sogar geschafft, dass er selbst vor den Mitgliedern des Europäischen Parlaments aussagen konnte – die jetzt in diesem speziellen Fall gegen Frontex ermitteln.

„Zuerst zertrümmerten sie nur den Bildschirm“

Was passiert, wenn die Grenz-Beamt:innen Mobiltelefone in die Hände bekommen?

Milena Zajović: Zuerst zertrümmerten sie nur die Bildschirme, aber dann merkten sie, dass sie Daten aus diesen Handys extrahieren können. Das ist jetzt eine systematische Praxis auf dem gesamten Balkan. Wenn jemand festgenommen wird, nehmen sie ihm das Handy ab und gehen zuerst die gesamte Korrespondenz durch. Sie suchen nach Kommunikation mit einem Schmuggler, aber auch nach Kommunikation mit Menschenrechtsaktivist:innen, die den Fall womöglich unterstützen könnten.

Die Telefone werden dann in der Regel zerstört, indem ein Schraubenzieher in die Ladebuchse gesteckt wird. Dann werden sie auf sehr zynische Weise in einer Plastiktüte an die Leute zurückgegeben, wenn sie zurückgeschoben werden. Uns ist jedoch aufgefallen, dass die wertvolleren Telefone in der Regel behalten werden, inzwischen wissen wir, dass sie weiterverkauft werden. Kürzlich traf ich eine Person, die ihr eigenes Telefon zurückkaufte, nachdem es von kroatischen Polizeibeamt:innen gestohlen worden war.

Ist das riskant, was Sie und ihre Organisation tun?

Milena Zajović: Ich würde gerne nein sagen, aber von den 14 Organisationen in unserem Netzwerk wurden mindestens acht ins Visier genommen. Entweder durch Gewaltandrohungen, administrative Hindernisse, Verleumdungskampagnen oder im konkreten Fall meiner Organisation durch Klagen, die uns zur Schließung zwingen sollten.

Irgendwann hatte ich einen Verdacht, der mein eigenes Telefon betraf und habe bei den Behörden nachgefragt. Der parlamentarische Ausschuss für die zivile Aufsicht über die Geheimdienste in Serbien hat mir später schriftlich bestätigt, dass mein Telefon tatsächlich abgehört wird. Ich tue mein Bestes, um nichts an meinem Verhalten zu ändern. Wenn jemand in Zagreb meine Korrespondenz mit meiner Freundin lesen will, dann hoffe ich, dass er Spaß daran hat. Ich habe nichts zu verbergen. Mein einziges Verbrechen besteht darin, dass ich versuche, die Behörden zur Rechenschaft zu ziehen für die Verbrechen, die sie gegen Menschen auf der Flucht begehen.

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