Im September stimmt Chile über eine neue Verfassung ab. Die zuerst blutig niedergeschlagenen Proteste gegen die Erhöhung der U-Bahnpreise im Jahr 2019 und 2020 entwickelten sich zu einer generellen Kritik an der alten, neoliberalen Verfassung aus Pinochets Zeiten. Der Erfolg der Proteste war eine frei gewählte, verfassungsgebende Versammlung.
Der Verfassungsentwurf (PDF) setze Maßstäbe, schreibt der deutsche Republikanische Anwaltsverein (RAV), er sei „ein leuchtendes Beispiel für einen modernen, inklusiven und demokratischen Rechtsstaat“.
Zahlreiche digitale Grundrechte
Auch in Sachen digitaler Grundrechte würde das Land mit dieser Verfassung neue Wege gehen. Die lateinamerikanische Digital-NGO „Derechos Digitales“ schreibt, dass Chile mit dem Entwurf bei Datenschutz und Privatsphäre die fortschrittlichste Verfassung der Region bekäme.
Juan Carlos Lara, Geschäftsführer von Derechos Digitales, sagt gegenüber netzpolitik.org: „Der Vorschlag für eine neue Verfassung stellt einen Sprung nach vorn beim Schutz der digitalen Grundrechte dar, sowohl für individuelle als auch für kollektive Interessen.“
Mehrere Artikel der Verfassung garantieren den Bürger:innen den Zugang zur digitalen Infrastruktur. Wenn es Versorgungslücken gibt, ist der Staat dafür verantwortlich, sie zu schließen. Gleichzeitig muss der Staat für digitale Beteiligung und ein gewaltfreies digitales Umfeld sorgen.
Doch nicht nur der Zugang zur Infrastruktur wird geregelt, sondern im Artikel zum Thema Arbeit auch das Recht, sich zu erholen und von der digitalen Infrastruktur der Arbeit abzukoppeln. Dieses Recht auf eine Art „Digital Detox“ dürfte ein Novum in Verfassungstexten sein.
Schutz von privaten Dokumenten und Metadaten
Schützen wird die die neue chilenische Verfassung auch die Privatsphäre sowie private Dokumente, Mitteilungen sowie deren Metadaten. Einen eigenen Artikel hat auch die informationelle Selbstbestimmung. In Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht dieses Grundrecht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitet.
Nicht zuletzt soll die neue Verfassung die Computersicherheit garantieren. Zudem wird eine unabhängige Datenschutzbehörde auf Verfassungsebene festgeschrieben.
Anerkennung von digitalen Menschenrechten
Im Vergleich zu anderen Verfassungen in der Region ist der Vorschlag aus Chile detaillierter, was den Umfang des Schutzes und der Anerkennung verschiedener Rechte speziell in Bezug auf digitale Aspekte angeht.
Enttäuscht zeigt sich Lara im Hinblick auf das geistige Eigentum, hier hätte sich der Bürgerrechtler als Gegengewicht mehr kulturelle Rechte gewünscht. Und trotz der starken Verankerung der Privatsphäre wäre hier noch Raum gewesen für einen stärkeren Schutz vor staatlichen Übergriffen, so Lara weiter.
Dennoch ist Juan Carlos Lara überzeugt, dass der Verfassungstext unabhängig von seiner Annahme oder Ablehnung beim Referendum für andere Länder von Bedeutung sein könne, weil er eine Zäsur im Bezug auf die Anerkennung von digitalen Menschenrechten darstelle.
Verfassungsrang für Naturschutz
In Sachen Grundrechte könne man aus Deutschland nur mit Neid auf diese Verfassung schauen, schreibt der RAV. Der Text räumt dem Schutz der Natur erstmals Verfassungsrang ein und stellt gleichzeitig das gute Leben der Menschen in den Mittelpunkt, so die Organisation weiter.
Nach der neoliberalen Pinochet-Verfassung kommt im Entwurf dem Staat nun eine aktive und wichtige Rolle im Bereich Bildung und Soziales zu. Gleichzeitig würde das Land föderaler und partizipativer. Es gibt aber auch kritische Stimmen am Verfassungsentwurf, der mit 388 Artikeln einer der längsten der Welt ist. Konservative und Liberale fürchten wegen des starken Umweltschutzes Investitionshemmnisse.
Am 4. September wird die chilenische Bevölkerung über den Entwurf abstimmen – bislang ist alles andere als klar, ob der Entwurf eine Mehrheit bekommt. Ist das Referendum erfolgreich, müssen Gesetze angepasst, Institutionen reformiert oder neu geschaffen werden. Die Arbeit an Chiles Zukunft ist noch lange nicht vorbei.
Sieht ja erst mal gut aus. Dann mal fröhlichen Regime-Change!
Die Bestrebungen sind durchaus glaubwürdige, zu male Chile auch ein sehr restriktives Anti-Diskriminierungsgesetzt besitzt.
Es ist auch erstaunlich da ansonsten es in Lateinamerika eher zu Rückwärtsentwicklungen kommt, allen voran Brasilien aber auch Argentiniern das inzwischen anfällig wurde.
Dahingehend sollten wie Chille in Europa sehr genau unter Rader behalten, es könnte das werden was in Europa Schweden, Finnland und Norwegen ist.
Für Chile und der Bevölkerung selbst kann nur der Tipp geben, nehmt die Verfassung an, es ist kein Selbstzweck sondern der Garant für Fortschritt und Entwicklung.
Peter: Wohingegen Norwegen aus meiner Sicht zumindest digitalisierungsbezogen einen Rückschritt einleitet, vgl. hier:
https://netzpolitik.org/2022/datensammelwut-norwegen-will-wissen-was-die-buergerinnen-im-supermarkt-kaufen/
und Schweden ebenfalls:
https://www.teltarif.de/schweden-prepaid-registrierungspflicht-nachtraeglich/news/88974.html
An Freidenker, 13. August 2022 um 15:43 Uhr
Es ist so das die nordischen Staaten zu den höchst entwickelten Staaten der Welt zählen. Alles ist dort sicher auch nicht perfekt.
Ebenso wird es noch einige Jahre dauern bis das auch Früchte trägt und sich in den globalen Indizes auswirkt. Die Chancen stehen gut das Chile mit der Verfassungsreform nach Neuseeland der 2. Top Staat außerhalb von Europa wird.
Persönliche Anmerkung, vielleicht kapieren es die autokratischen Staaten doch noch das ihr System nur einen Weg kennt – jenen nach unten und eine Rohrkrepierer ist.
Rohrkrepierer
https://de.wikipedia.org/wiki/Rohrkrepierer
„Alles ist dort sicher auch nicht perfekt.“
Nein, sicher nicht. Aber es mutet schon seltsam an, wenn Norwegen Maßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung richtigerweise ablehnt und jetzt auf einmal in Sachen Datensammelwut abdriftet. Für Schweden fast analog zu sehen.
Was Chile angeht, bin ich ganz Ihrer Meinung.