Kampf gegen die VorratsdatenspeicherungKein Appetit auf noch eine blutige Nase

Der Kampf gegen die Vorratsdatenspeicherung läuft seit mehr als einem Jahrzehnt, eine ganze Siegesserie vor Höchstgerichten inklusive. Doch es gibt immer wieder Rückschläge – und vielleicht wird alles noch viel schlimmer. Über den Widerstand gegen Massenüberwachung sprechen Ralf Bendrath, Katharina Nocun, Constanze Kurz und Anna Biselli.

Vorratsdatenspeicherung: Man kommt sich vor wie Don Quichote. (Diffusion Bee)

Das Ende des Jahres ist oft ein Anlass für einen Blick zurück. Wenn es dabei um Netzpolitisches geht, könnte man einiges zur Vorratsdatenspeicherung schreiben: wie sich Höchstgerichte in Europa wieder an dem Vorhaben abgearbeitet haben, wie die Ampelkoalitionäre danach ihre politischen Claims öffentlich absteckten oder welche Alternativen diskutiert werden.

Wir blicken allerdings diesmal auf mehr als ein ganzes Jahrzehnt zurück, denn so lange dauert der Kampf gegen die anlasslose Massenüberwachung der sogenannten Verbindungsdaten schon an. Zeitweise gab es unter dem Schlagwort „Freiheit statt Angst“ die größten Datenschutzproteste gegen die Speicherung der Telekommunikations- und Bewegungsdaten seit der Volkszählung in den 1980er-Jahren.

Nach einer pandemiebedingt langen Zeit ohne Veranstaltungen hatte netzpolitik.org Ende September in die Raumstation c-base in Berlin geladen. Unter dem Eindruck des kurz zuvor ergangenen EuGH-Urteils fand ein Kamingespräch mit dem Titel „Der Kampf gegen die Vorratsdatenspeicherung: The End of the Living Dead?“ statt.


Der aus Brüssel zugeschaltete Ralf Bendrath im Gespräch mit Katharina Nocun, Anna Biselli und Constanze Kurz.

Ralf Bendrath ist Politikwissenschaftler und Referent für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres bei der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament. Er hat sich von Beginn an im AK Vorrat engagiert und war in diversen anderen netzpolitischen Zusammenhängen aktiv.

Katharina Nocun hat Wirtschafts- und Politikwissenschaften studiert und ist Autorin und Bürgerrechtlerin, sie hat die Proteste gegen die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland mitorganisiert.

Anna Biselli ist Informatikerin und gehört zur Chefredaktion von netzpolitik.org. Sie begleitet den Kampf um die Vorratsdatenspeicherung seit mehr als einem Jahrzehnt.

Constanze Kurz arbeitet als Redakteurin bei netzpolitik.org und ist Sprecherin des Chaos Computer Clubs. Sie war technische Sachverständige beim Bundesverfassungsgericht bei der Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung.

Das transkribierte Gespräch ist eine verdichtete und leicht editierte Fassung. Anna Biselli hat es moderiert.

Ein prinzipielles Nein, aber …

Anna Biselli: Wir wollen über den Kampf gegen die Vorratsdatenspeicherung sprechen. Der Anlass ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der gesagt hat, was eigentlich schon alle wussten: Eine anlasslose pauschale Vorratsdatenspeicherung geht nicht. Wir wollen darüber reden, was in den letzten fast zwanzig Jahren passiert ist, wie die Kämpfe gegen die Vorratsdatenspeicherung geführt worden sind. Was war das erstes Gefühl nach dem Urteil des EuGH?

Constanze Kurz: Ich glaube, kaum jemand war überrascht. Das liegt zum einen an dem Prozedere beim EuGH, da man aus der Stellungnahme des Generalanwalts schon einiges ablesen konnte, und zum anderen daran, dass es zwischendurch schon andere EuGH-Urteile gab, die die Vorratsdatenspeicherung in anderen Staaten betrafen. Die Argumentationslinie, dass man prinzipiell Nein sagt, aber enge Ausnahmen zulässt und die Datensammlung auf das Notwendigste beschränkt, war schon in anderen Urteilen zu lesen. Auch das nur wenige Wochen davor ergangene Urteil zu Passagierdaten wies in diese Richtung.

Ohnehin war auch vor dem Urteil schon klar, dass die Hardliner gleich wieder rufen würden: Wir müssen die Vorratsdatenspeicherung neu einführen. Die politische Diskussion bleibt festgefahren. Man kann letztlich bei diesem Höchstgericht nicht politisch gewinnen. Man kann nur nicht verlieren. Ich glaube, man muss das Ende der Vorratsdatenspeicherung politisch erkämpfen. Und ich habe das immer noch vor.

Anna Biselli: Wir haben jetzt eine Situation, dass der Europäische Gerichtshof gesagt hat: anlasslos und pauschal alles, das geht nicht. Das hat er auch vorher schon ein paar Mal gesagt und das ist nicht überraschend. Jetzt ist es eben eine politische Frage. Aber wie ist denn gerade die politische Situation in Deutschland bei der Vorratsdatenspeicherung?

Constanze Kurz: Wir haben jetzt die Ampelkoalition. Die Position der FDP ist klar, auch beim amtierenden Justizminister, nämlich gegen eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Bei den Grünen ist die Position ebenfalls klar: zum einen aus dem Votum beim letzten Parteitag, aber zum anderen auch durch zuständige Spitzenpolitiker, namentlich Konstantin von Notz.

Wir haben zudem den Koalitionsvertrag. Da steht ganz klar, dass es eine anlasslose Speicherung nicht mehr geben soll, sondern nur anlassbezogen.

Wir haben aber auch eine sozialdemokratische Innenministerin. Sie hat sich unmittelbar nach dem Urteil dahingehend geäußert, dass sie sich eine Vorratsdatenspeicherung weiter vorstellen könnte, natürlich nur in dem engen Rahmen, den das Urteil noch erlaubt. Der koalitionäre Konflikt ist aber aus meiner Sicht gar nicht so klar, denn auch in der SPD gibt es Stimmen, die sich gegen eine anlasslose Massendatenüberwachung von Telekommunikationsdaten wenden.

In Europa sieht es anders aus: Es gibt eine ganz klare Mehrheit für die Vorratsdatenspeicherung.

„Man darf sich nicht auf die juristische Auseinandersetzung verlassen“

Anna Biselli: Wird es einen neuen Versuch der EU-Kommission geben, wieder eine Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene einzuführen?

Ralf Bendrath: Nein, seitdem die EU-Richtlinie im Jahr 2014 vom Europäischen Gerichtshof abgeschossen wurde, ist das eine reine nationale Regelung gewesen, die dann eben – wie jetzt in Deutschland und vorher schon in Schweden, Großbritannien, Frankreich, Belgien und anderswo – wieder weggeschossen wurde. Die EU-Kommission hat seit 2010 keinen großen Appetit mehr darauf, sich nochmal eine blutige Nase zu holen. Ich glaube, hier haben wir inzwischen genug Urteile vom Europäischen Gerichtshof, dass die Kommission ganz klar weiß: Das bringt nichts, da nochmal einen Vorschlag zu machen.

Ich sehe auch nicht, dass in Deutschland eine Vorratsdatenspeicherung, auch von IP-Adressen, noch kommen wird, wenn Marco Buschmann das Sagen hat.

Anna Biselli: Beim ersten Versuch, die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland einzuführen, gab es ganz viel Straßenproteste. Beim zweiten Versuch hatte ich das Gefühl, die Auseinandersetzung wird eigentlich nur noch auf der juristischen Ebene geführt. Wo war der Unterschied oder was hat dich vielleicht am Anfang motiviert, auf die Straße zu kommen, und was hat sich seitdem geändert?

Katharina Nocun: Ich vermute, dass teilweise die Hoffnung war, dass das einfach gerichtlich geklärt wird und man sich damit quasi auf der Straße nicht mehr befassen muss. Ich bin da vollkommen anderer Meinung: Das muss politisch erstritten werden.

Es haben sich damals bundesweit Ortsgruppen vom AK Vorrat gebildet. Ich war zu der Zeit in Münster und bin zu so einem Stammtisch hingegangen. Dann war direkt das Erste, was wir gemacht haben: eine Demo organisieren. Dann haben wir Unterschriften gesammelt für Verfassungsbeschwerden. Für mich war klar: Man darf sich nicht auf die juristische Auseinandersetzung verlassen. Ich setze große Hoffnungen darauf, dass sich die Vorratsdatenspeicherung in dieser Koalition nicht durchsetzen wird.

Aber was ich sehr beängstigend fand, war die Auseinandersetzung in den letzten Monaten mit dem Thema Kriminalität, Hass, Drohungen, Morddrohungen aus dem verschwörungsideologischen und rechtsextremen Milieu. Ich bin Betroffene und ich habe regelmäßig bei Interviews die Frage bekommen: Wird eine Vorratsdatenspeicherung nicht Ihnen als Betroffene helfen? Da muss ich ganz klar sagen: Leute, die in ihren Telegram-Gruppen dazu aufrufen, gegen mich und meinen Ko-Autoren vorzugehen, die sind namentlich bekannt. Dafür braucht man nicht Massenüberwachung. Es ist aber bequemer, diese Karte Vorratsdatenspeicherung zu ziehen. Es scheint auch eine gute Ausrede zu sein, ist aber tatsächlich sicherheitspolitische Esoterik.

Als Schäuble noch Innenminister war

Anna Biselli: Es ging es bei den Protesten nicht nur um Vorratsdatenspeicherung, sondern auch um Biometrie oder um Patientendaten. Was löste die Massenproteste aus?

Ralf Bendrath: Ich glaube, das waren zwei Sachen, die zusammenkamen. Das eine war, dass die Vorratsdatenspeicherung ein Paradigmen-Bruch ist, ein Element des Polizeistaates. Ein Polizeistaat zeichnet sich dadurch aus, dass gesellschaftliche Bereiche nach polizeilicher Logik strukturiert werden. Das ist genau hier zu erkennen: Die Provider haben kein Interesse daran, die Verkehrsdaten aufzubewahren. Sie sollten dazu gezwungen werden. Das war für ganz viele Leute damals ein Unding und ein Dammbruch.

Dazu kam, dass wir, als das losging mit dem AK Vorrat Ende 2005, gerade in einer Phase waren, wo es plötzlich im Netz ganz viele Mitmach-Elemente gab, die man auch ohne Informatik-Diplom benutzen konnte: Wikis und solche Sachen. Im Heise-Forum gab es an dem Tag, als das Europäische Parlament die Vorratsdatenspeicherung 2005 beschlossen hatte, mehrere hundert Kommentare. Alle waren stinkesauer und haben rumgetobt.

Irgendwer hatte dann ein Wiki rumliegen, es gab eine Mailingliste. Ich habe zwei Wochen später dafür gesorgt, dass sich die etablierten Datenschutz-Aktivistinnen und -Aktivisten von CCC, FifF, damals noch FoeBuD, Netzwerk Neue Medien und ein paar andere, dann auf dem CCC-Congress mit den Leuten von der Mailingliste zusammenhockten. Dann ging es los. Und ein Jahr später hatte plötzlich jemand die Idee für dieses „Stasi 2.0“. Schäuble war Innenminister damals, und dann gab es auf einmal T-Shirts mit seinem Gesicht und diesem Motto.

stasi-2.0-shirt

Dann hat es aber schon noch eine Weile gedauert, bis das so groß wurde. Es hat ein, zwei Jahre gebraucht, bis die Journalisten verstanden haben, dass es sie auch betrifft. Das wurde am Anfang immer auf Seite 23 im „Technik und Computer“-Teil behandelt. Irgendwann haben die Journalisten aus den Politik-Redaktionen verstanden, dass das auch um Quellenschutz und solche Sachen geht. Dann wurde es plötzlich auch größer in den Medien berichtet.

Constanze Kurz: Es war auch der Beginn der ersten großen „Erklärbär“-Aktion: Technische Sachverhalte mussten an den Mann gebracht werden. Dazu kam die erste Massen-Verfassungsbeschwerde: An das deutsche Bundesverfassungsgericht gingen tausende Briefe. Die Tatsache, dass dort eine mündliche Verhandlung durchgeführt wurde, war wichtig, aber auch die Entscheidung, technische Sachverständige anzuhören. Es wurde eben nicht nur juristische Expertise eingeholt, sondern auch mehrere technische Sachverständige geladen. Die mündliche Verhandlung brachte unglaubliche mediale Verstärkung. Das hat diesem Massenprotest auch ein bisschen „seriöser“ gemacht.

Im Jahr 2015, als der zweite Anlauf kam, war es eine vollkommen andere Zeit. Das war schon zwei Jahre nach Snowden, es war klar, dass noch ganz andere Massenüberwachung-Datensammlungen existieren. Wir haben ja bei netzpolitik.org damals intensiv den NSA-BND-Untersuchungsausschuss abgebildet.

Man musste nicht mehr viel erklären, es war schon klar, was Menschen-Profilierung bedeutet und wie man menschliche Leben anhand von Metadaten abbilden kann. 2015 war auch die politische Situation nicht so gegeben, denn die erste Riesen-Demo war im Jahr der Bundestagswahl, wo Proteste politisierter sind. Die Argumente, was an dieser Idee der anlasslosen Massenüberwachung eigentlich so abstoßend ist, waren schon dargelegt worden, es gab auch sieben Regalmeter juristische Literatur.

Die Ernüchterung nach Snowden

Anna Biselli: Ich würde auch sagen, dass nach Snowden eine Ernüchterung eintrat. Auch ein Aufgeben bei vielen Leuten: Ich kann ja nichts ändern. Diese Haltung fand ich wirklich fatal. Und ich glaube, dass zu Beginn der Proteste auch eine andere Stimmung in der Netz-Community war. Man hatte noch diese großen Utopien: Das ist unser Netz! Wir haben in Wikis gearbeitet, ganz viel Mitmach-Struktur, wir wollten mit freier Software die Welt gerechter und besser machen.

Und Jahre später war das Internet zugepflastert von großen Konzernen, die ihre eigene Überwachungsinfrastruktur ausrollen. Das hat bei vielen Leuten auch was verändert.

Ich glaube allerdings auch, dass in Deutschland der geschichtliche Bezug eine besondere Rolle spielt. Einerseits hat man hier eine ganz andere Datenschutz-Gesetzgebung, andererseits hat man auch eine andere Geschichte von staatlicher Überwachung. In den Argumentationen, in der Auseinandersetzung mit der Politik wird auch aus der Geschichte heraus argumentiert. Und zwar aus unterschiedlichen Zeitperioden: Stasi 2.0 war ja nicht der Slogan, um jemanden zu ärgern, sondern das war schon eine ernst gemeinte politische Warnung in Bezug auf das, was viele Menschen ganz real erlebt haben.

Ralf Bendrath: Proteste haben immer dann eine Chance, groß zu werden, auch auf der Straße, wenn eine Entscheidung erst noch ansteht. Ob das damals über das Vorratsdaten-Gesetz in Deutschland ging oder um ACTA oder jetzt die Chat-Kontrolle: Wenn es noch ansteht, kann man auch Leute mobilisieren, vielleicht auf der Straße, vielleicht auch anders zu protestieren. Wenn es einmal durch ist, ist es schwierig, denn dann ist es eigentlich nur noch mit gerichtlichen Mitteln zu kippen.

Bei Snowden war es ja so ähnlich: Es kam ein unglaublicher Überwachungsskandal heraus. Aber der war halt schon im Gange. Der war nicht mehr zu stoppen, weil der schon seit Jahrzehnten lief.

Können wir die Protestkarte überhaupt zücken?

Anna Biselli: Aber jetzt geht es um die Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung oder darum, zu verhindern, dass sie wiederkommt.

Constanze Kurz: Ich habe wenig Optimismus, was derzeit organisierte Proteste angeht. Meine Befürchtung wäre, dass wir die Protestkarte derzeit nicht zücken könnten, weil die Leute schlicht andere Sorgen haben: Preissteigerungen, der Ukrainekonflikt. Ich habe nicht den Eindruck, dass Protest gegen Massenüberwachung Leute derzeit auf die Straße locken würde.

Insofern muss man sich überlegen, wie man anders dagegen vorgeht. Wir haben eine Ampel, da wird der Konflikt innerhalb der Koalition ausgetragen. Man kann sich strategisch überlegen: Wie kann man diejenigen in der Koalition stärken, die sich gegen die Vorratsdatenspeicherung aussprechen und auch noch an den Hebeln der Macht sitzen. Und das ist die FDP mit dem FDP-Justizminister Marco Buschmann. Man könnte sich auch an die SPD ranmachen, wo das Spitzenpersonal ja nicht unbedingt die Mitglieder-Meinung abbildet. Denn ich erinnere mich an zehn Jahre Proteste auch innerhalb der SPD. Und die Grünen neigen zu einem gewissen Opportunismus, wenn es denn sein muss. Insofern müsste man die drei Parteien mit unterschiedlichen Strategien beackern.

Ich würde die Situation in Europa nicht so positiv sehen, wie sie Ralf bewertet hat. Wenn wir an den Diplomaten-Bericht denken, den man bei netzpolitik.org nachlesen kann, so haben sich große Teile der Regierungen der EU-Staaten weiterhin für eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen.

Ralf Bendrath: Ich bin da ganz bei dir: Natürlich will ein großer Teil der europäischen Innenminister weiterhin Vorratsdatenspeicherung. Das ist der EU-Rat. Aber Rat und Parlament haben auf EU-Ebene kein Initiativrecht. Den Gesetzesvorschlag muss die Kommission machen, das war mein Punkt. Die Kommission hat, glaube ich, einfach keine Lust, da sich nochmal den Mund zu verbrennen.

Das Problem ist, dass wir hier in Europa schon viel weiter sind. Wir haben immer noch die Vorratsdatenspeicherung der Flugpassagierdaten. Da ist die Richtlinie, sie ist ja nicht komplett abgeschossen, sondern nur eingegrenzt worden. Da werden die Passagierdaten nicht bei den Luftlinie gespeichert, wie die Telekommunikationsvorratsdaten bei den Anbietern, sondern die ganzen Passagierdaten gehen an die Polizeibehörden.

Es geht sogar noch weiter bei der europäischen Einreiseautorisierung (ETIAS): Alle Leute, auch die aus befreundeten Ländern, die einreisen wollen, müssen sich vorher elektronisch registrieren lassen. Da gibt es sogar einen Algorithmus, der mit Machine Learning gefüttert werden und dann einen Risikofaktor ausgeben soll. Und das für jeden, für alle ohne Anlass. Und die Daten werden hinterher auch noch fünf Jahre gespeichert. Es ist eigentlich alles schon viel schlimmer.

Constanze Kurz: Die zentrale Begründung hat sich auch verändert: Es ging erst immer um Terrorismus. Heute ist der Schutz von Kindern sehr viel stärker in den Fokus gerückt, so als würde Massenüberwachung hier helfen.

Katharina Nocun: Man muss auch sagen, dass sich die Motivation von Menschen, die sich gegen Vorratsdatenspeicherung engagieren, teilweise verändert hat. Ich finde, das hat man ganz stark bei den Demos gegen die Polizeigesetze gesehen. Viele Leute haben gesagt: Ich bin hier, weil ich nicht weiß, wie die politische Situation in Deutschland in zehn Jahren aussieht, ich sehe ganz viele Regierungen in Europa, die nach rechts kippen.

Das Argument war ja immer: Vertraue dem Staat. Dieses Argument zieht heute viel weniger, finde ich. Und auch zu Recht.

Und nochmal zu dem Punkt mit den Protesten: Ich glaube, Massenprotest ist schwierig. Man kann verstehen, dass die Leute andere Sorgen haben. Aber ich würde schon sagen, dass die Bewegung Protest hinbekommt: Punktuell gezielt auf einzelne Parteien oder Player fokussieren. Das haben wir ja in den letzten Jahren gemacht. Massendemos sind zwar schwierig, aber vielleicht braucht es das auch nicht.

Wir bleiben dran

Fast 1.000 Artikel zur Vorratsdatenspeicherung. Unterstütze uns!

Anna Biselli: Wir haben schon ein paar Themen angesprochen: Fluggastdatenspeicherung, Chatkontrolle, Vorratsdatenspeicherung. Was sind denn Themen, die potenziell bald passieren werden?

Constanze Kurz: Auf jeden Fall die Chatkontrolle, die teilweise unter anderem Namen kommt. Das wird ja beispielsweise auch in Großbritannien debattiert.

Ralf Bendrath: Volle Zustimmung: Chatkontrolle ist auf EU-Ebene das gefährlichste Überwachungsvorhaben.

In die Inhalte der Kommunikation hineinschauen

Anna Biselli: Kannst Du in zwei Sätzen versuchen zu umreißen: Worum geht es da?

Ralf Bendrath: Es gibt seit etwas über einem Jahr eine Ausnahmeregelung zur sogenannten E-Privacy-Richtlinie. Das ist die Richtlinie, die unsere persönliche elektronische Kommunikation und Kommunikationsgeheimnisse schützt. Demnach dürfen die Anbieter, etwa wenn sie Instant Messaging anbieten, in die Inhalte der Kommunikation reingucken, seit etwas über einem Jahr. Sie dürfen gucken, ob sie dort Kindesmissbrauchs-Darstellungen finden. Das ist eine befristete Ausnahme.

Seit ein paar Monaten ist ein Vorschlag der Kommission, das verpflichtend zu machen: dass zumindest bestimmte Anbieter, wenn mehrfach solches Material auftaucht, dazu eine Anordnung kriegen. Dann müssten sie in alle Kommunikationsinhalte reingucken, anlasslos für alle Nutzerinnen und Nutzer. Das ist die sogenannte Chatkontrolle.

Hier im Europäischen Parlament hat sich Patrick Breyer von den Piraten, der ja seit Anfang an auch gegen die Vorratsdatenspeicherung kämpft, stark dagegen engagiert. Inzwischen wissen in Deutschland sehr viele davon, auch innerhalb der Ampel.

Aber das ist außerhalb Deutschlands einfach überhaupt kein Thema. Das hat keiner auf dem Schirm, vielleicht noch in Österreich. Es wird also ein harter Kampf und es ist auch noch nicht klar, ob wir eine Chance haben, eine Mehrheit dagegen zu kriegen. Es hängt immer an den Liberalen, ob die nach links oder rechts kippen. Dummerweise ist jetzt die Schattenberichterstatterin der Liberalen zu dem Chatkontrolle-Vorschlag aus Belgien, aus Flandern, und hat schon letztes Jahr sehr engagiert für diese Chatkontrolle gekämpft.

Constanze Kurz: Mein Eindruck war auch eine große Gleichgültigkeit gegenüber diesen als irre wahrgenommenen Vorschlägen aus Brüssel.

Katharina Nocun: Das ist ein Dauerproblem, was wir seit vielen Jahren haben, weil so viel von europäischer Ebene kommt. Du hast die europäische Vernetzung, wenigstens in Teilen, aber es ist kompliziert mit der Mobilisierung in unterschiedlichen Ländern. Dann hast du kaum Öffentlichkeit.

Aber es ist eben auch die Frage der Berichterstattung über solche Sachen. Wo liest du denn außerhalb von Heise davon? Das ist ein großes Thema. Wie bringst du Medien dazu, einen Gastbeitrag dazu anzunehmen? Von Patrick Breyer beispielsweise. An der Stelle muss ich auch sagen: Ich war ja auch mal Mitglied der Piraten, und wenn sich das Ganze für irgendetwas gelohnt hat, dann dafür, dass Patrick jetzt genau da saß.

Das Einzige, worauf man hoffen könnte, ist die Mobilisierung der Jugend. Ich habe die Hoffnung, dass das eine Karte ist, die man überraschend ziehen könnte.

Bei den ACTA-Protesten erinnere ich mich an große Diskussionen auf Mailinglisten: Sollen wir Demos machen? Da war die Mehrheit absolut dagegen. Wir sind nicht so weit, hieß es, und dann haben es einfach ein paar Leute gemacht und es hat funktioniert. Weil man die Leute erreicht hat, die nicht gerade in dieser Bürgerrechts-Bubble sind, die nicht schon organisiert sind, sondern die auf Youtube davon gehört haben: Da läuft was, das betrifft mich ganz konkret.

Constanze Kurz: Protestbewegungen haben natürlich mit einem gewissen Pandemie-Mehltau zu kämpfen. Viele Bewegungen sind runtergefahren wegen dieser schwierigen zwei Jahre.

Ich bin insgesamt enttäuscht davon, wie wenig gegen verschiedene Formen von elektronischer Massenüberwachung wir am Ende ausrichten konnten, trotz der Siegesserie vor Gerichten, nicht nur beim EuGH und Bundesverfassungsgericht, sondern auch bei einigen Höchstgerichten in anderen europäischen Staaten. Ralf hat ein paar europäische Problem-Projekte schon aufgezählt, man könnte auch die biometrische Massenüberwachung hinzunehmen, die in Europa ihren Ursprung hat, oder wenn man auf Frontex blickt.

Aber wir haben auf der anderen Seite gute Argumente gegen Massenüberwachung. Sie sind juristisch, sie sind technisch, sie sind gesellschaftspolitisch, sie sind politisch. Und die Argumente sollte man sich auch nicht nehmen lassen. Die kann man überall nachlesen, die sind öffentlich und davon würde ich mich auch nicht abbringen lassen. Und selbst wenn es nochmal ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung geben wird in Deutschland, dann wird die Speicherung einen geringen Umfang haben. Das ist doch in gewisser Weise ein Ende der Vorratsdatenspeicherung, auch wenn wir es nicht so feiern können. Ich rufe das Ende mal aus.


Das ungekürzte Gespräch gibt es auch als Video:

In diesem Fenster soll ein YouTube-Video wiedergegeben werden. Hierbei fließen personenbezogene Daten von Dir an YouTube. Wir verhindern mit dem WordPress-Plugin „Embed Privacy“ einen Datenabfluss an YouTube solange, bis ein aktiver Klick auf diesen Hinweis erfolgt. Technisch gesehen wird das Video von YouTube erst nach dem Klick eingebunden. YouTube betrachtet Deinen Klick als Einwilligung, dass das Unternehmen auf dem von Dir verwendeten Endgerät Cookies setzt und andere Tracking-Technologien anwendet, die auch einer Analyse des Nutzungsverhaltens zu Marktforschungs- und Marketing-Zwecken dienen.

Zur Datenschutzerklärung von YouTube/Google

Zur Datenschutzerklärung von netzpolitik.org

4 Ergänzungen

  1. Man sollte die Kritik vielleicht erweitern, sich nicht nur auf Datenschutz konzentrieren sondern eine allgemeine Systemkritik. Wie kommt es denn dazu das Großkapitalistische Verlagskonzerne nicht kritisch über solche Themen berichten, bzw. eigentlich gar nicht ?

    Da müsste man doch mal sagen das es da ein Meinungskartell gibt, das diesen neuen Überwachungs und Internetzensur Autoritarismus zumindest durch Stillschweigen toleriert und gewähren lässt. Genau wie den mit der Überwachungsindustrie verbundenen Lobbyismus und Sicherheitspopulismus. Ich denke, so weit wie sich die EU schon von der Bevölkerung entfernt hat. Wie die Medien (nicht mehr) funktionieren, das die EU Kommission nicht demokratisch gewählt wird.

    Was es da braucht ist eben nicht nur auf kleine Teilbereiche wie die „Vorratsdatenspeicherung“ oder „Chatkontrolle“ zu schauen, sondern das ganze System aufs Korn zu nehmen. Ich denke nämlich das die Zahl der Menschen die Systemisch unzufrieden sind in Zukunft weiter wachsen wird. Da ist Mobilisierungspotential. Gleichzeitig ist doch auch nicht davon auszugehen das die EU plötzlich demokratisch werden wird.

    Diese ganzen Sachen sollte man also in dem großen Kontext betrachten. Das es Angriffe der EU auf unsere Freiheit, Meinungsfreiheit und Demokratie sind. Wenn man das Verständnis der Menschen dafür schärft dann wäre breiterer Widerstand durchaus auch möglich. Unbezahlbare Energiepreise, Inflation, zunehmende Arbeit und so weiter sind ja eben auch Nebeneffekte des Lobbyismus welcher in Brüssel regiert… Genau wie Chatkontrolle und Vorratsdatenspeicherung von mächtigen Lobbys voran getrieben wird. Da man da die Bevölkerung nicht fragt, da sollte man dann auch mehr klarstellen. Mir Demokratie hat all das rein gar nichts mehr zu tun.

  2. Vielen Dank für Eure Arbeit!
    Es gibt eine Reihe von Gründen, warum der Protest gegen die Vorratsdatenspeicherung in der Bevölkerung an Momentum verloren hat. Es Grund wird imho zu wenig betrachtet:
    Ich beobachte auch seit 2015/2016 einen verstärkten Bruch in der Zivilgesellschaft; in erster Linie bei/in mir selbst. Dabei haben sich viele Menschen – auch im IT-Bereich – nach rechts bewegt. Sowohl weil im rechten Spektrum Debatten offener geführt wurden, als auch weil ich mich mit vielen Debatten/Sichtweisen im linken Spektrum nicht mehr identifizieren konnte (Stichwort linke Identitätspolitik).
    Da viele Initiativen im Bereich Datenschutz eher im klassischen linken Spektrum verortet sind und sich imho zu undifferenziert / zu hart nach rechts abgrenzen, hat man einen Teil der Mitstreiter verloren. Man sieht das ja seit Jahren bei Demonstrationen: dort mobilisiert eher das rechte oder nach rechts offene Spektrum.
    Weiterhin spielen hier Dinge wie die Nutzung von Gendersprache rein (auch hier bei Netzpolitik). Vielleicht ist es an der Zeit abzuwägen, wie viele Leser/Mitstreiter dadurch gewonnen und verloren wurden.
    Das soll jetzt keine rechts vs. links Debatte anstoßen, sondern als Erkläransatz dienen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.