Das Buch „Die Wikipedia-Story“ endet so, wie es beginnt: mit einem Aufruf zur Mitarbeit. Wikipedia-Mitgründer Jimmy Wales bittet in seinem Vorwort darum, „der Idee von Wikipedia gewogen“ zu bleiben und sich „als Leser, als Spender, als Autor, als Fotograf, als Korrektor, als Diskutant“ zu beteiligen, und auch Pavel Richter schließt mit dem Appell, sich zu beteiligen:
Wikipedia erinnert uns permanent daran, dass unsere Gesellschaft, unser Land, unsere Demokratie nicht von irgendwem – von Politikern, Bankern, Wissenschaftlern, Journalisten, Influencern – gemacht wird. Sondern dass Gesellschaft etwas ist, was nur dann funktioniert, wenn wir uns beteiligen, beitragen, mitmachen.
Diese Klammer illustriert auch gut, was das Buch ausmacht, was es leistet und woran es scheitert. Zentral für die im Buch eingenommene Perspektive ist nämlich, dass es von jemandem verfasst wurde, der sich selbst intensiv an der Wikipedia beteiligt hat. Pavel Richter ist selbst Wikipedianer, hat Artikel angelegt, verbessert und überarbeitet. Er war aber auch mehr als nur einer von tausenden ehrenamtlichen Autor:innen. Von 2009 bis 2014 war er Geschäftsführer beziehungsweise geschäftsführender Vorstand von Wikimedia Deutschland, der weltweit ersten und größten offiziellen Wikimedia-Partnerorganisation.
Wikipedia vs. Wikimedia
Und auch wenn das durchaus konfliktträchtige Verhältnis zwischen ehrenamtlicher Community und der mit Spendengeldern finanzierten Wikimedia-Organisationen weitgehend ausgespart wird, so zieht sich diese hybride Perspektive doch durch das gesamte Buch. Explizit wird sie im autobiographischen Höhepunkt des Bands, als Richter darüber reflektiert, warum er, in seinen Worten, „vom Aufsichtsgremium des Vereins, dem Präsidium, gefeuert wurde“:
Ich hatte völlig unterschätzt, wie wichtig es ist, in einem fundamental von Ehrenamtlichen getragenen Projekt wie Wikipedia genau diese Ehrenamtlichen so einzubinden, wie es für sie richtig ist.
Im Rest des Buches liegt der Fokus immer wieder abwechselnd auf Geschichten aus der Community der Wikipedianer:innen auf der einen, und Erläuterungen rund um formale Organisation, Finanzierung und strategischer Ausrichtung auf der anderen Seite.
Das führt dazu, was das Buch jedenfalls leistet: es verschafft jenen einen guten Überblick über Geschichte und das Funktionieren der Wikipedia, die sich noch nie näher mit der Frage beschäftigt haben, welche Quelle sie hier mehr oder weniger selbstverständlich für alle möglichen (Alltags-)Fragen zu Rate ziehen. Diesen Überblick vermittelt Richter mit Hilfe eines Best-of der unterhaltsamsten, skurrilsten und erschütterndsten Anekdoten der Wikipedia-Geschichte. Die Bandbreite reicht von der Gründung auf den Servern einer Softporno-Suchmaschine über den preisgekrönten Pizzakarton-Artikel und die Donauturm-Kontroverse bis hin zu Stalins Badezimmer und einem erfundenen „Vernichtungslager“ in Warschau.
Wikipedia vs. traditionelle Medien
Richter nutzt diese Geschichten, um jene komplizierten Abläufe und Hierarchien zu veranschaulichen, die eine weltumspannende, freie und gegenüber Desinformation erstaunlich robuste Online-Enzyklopädie überhaupt erst möglich machen. In den stärksten Passagen des Buches wird hierbei deutlich, dass Wikipedia als Kind des Internets in mancher Hinsicht traditionellen Medien überlegen ist, etwa im Umgang mit Verschwörungstheorien oder falscher Ausgewogenheit:
Natürlich bildet Wikipedia auch kulturelle Phänomene wie Verschwörungstheorien ab, weshalb es zur Behauptung, die Mondlandung sei Fake News, einen ausführlichen eigenen Artikel gibt. Nur stellt Wikipedia eben nicht beide Behauptungen als gleichwertig nebeneinander, sondern orientiert sich an dem, was wissenschaftlicher Konsens ist.
Ironischerweise führt das dazu, dass Wikipedia – obwohl sie ganz explizit „kein Newsticker“ sein möchte – gerade auch bei aktuellen und dynamischen Themen wie der Covid19-Pandemie eine besonders wertvolle und verlässliche Informationsquelle darstellt:
Es gibt einen Artikel zu einem Thema, und dieser Artikel entwickelt sich weiter über die Zeit hinweg, Neues wird ergänzt, Überholtes wird gestrichen, Fehler korrigiert. Aber der Leser wird immer alle aktuell gültigen, belegten Informationen in der Wikipedia finden. Nachrichtenseiten im Netz hingegen funktionieren anders, was gestern noch eine Schlagzeile war, kommt heute kaum noch vor.
Wikipedia vs. Vielfalt
Weniger überzeugend fallen hingegen jene Passagen aus, in denen Richter die Schwächen der Wikipedia ausleuchtet und Lösungswege aufzuzeigen versucht. Expertenwissen und Fachleute tun sich schwer in der Wikipedia? Experten müssten sich halt „einreihen in die Legion der Wikipedianer und sich innerhalb des Projekts einen Namen schaffen.“ Dass ein erfundenes Vernichtungslager 15 Jahre in der Wikipedia stand, sei
„nicht nur ein Problem für Wikipedia. Es ist eben auch (und zuvorderst!) ein Problem der etablierten Geschichtsforschung, die Wikipedia als zentrale Ressource der Wissensvermittlung offensichtlich viel zu lange nicht ernst genommen hat.“
Der extrem niedrige Frauenanteil wird zwar ebenso als „massives Problem“ benannt wie die fehlende „Willkommenskultur“ und der seit über zehn Jahren andauernde Autorenschwund im Allgemeinen. Konkrete Lösungsvorschläge finden sich in der „Wikipedia-Story“ jedoch keine, abgesehen von den eingangs zitierten Beteiligungsappellen. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass dieses Kapitel der Wikipedia-Geschichte erst noch geschrieben werden muss. Insofern ist der Untertitel wieder passend, verspricht er doch einen Blick zurück. Der Blick in die Zukunft fehlt hingegen.
Ich kenne mittlerweile mehr Leute mit Expertenwissen, die sich aus der deutschen Wikipedia zurueckgezogen haben, als dabei gebliebene. Gleichzeitig hat sich als primary source die englische Wikipedia etabliert, wenn es kein deutsches Spezialthema ist.
Wer fluessig im Englischen ist und ein weites Publikum verstaendlich erreichen will, hat letztlich keinen Anlass, sich als Autor die etablierte deutsche Wikipedia anzutun.
Naja, das Narrativ „Lange habe ich an der deutschen Wikipedia mitgearbeitet, doch seit einiger Zeit benutze ich nur noch die englische Wikipedia“ ist tatsächlich (fast) so alt wie Wikipedia selbst.
In vielen Bereichen ist die englische Wikipedia sicherlich weiter; in vielen anderen Bereichen aber ist es die deutsche Ausgabe. Und es wird schon einen Grund haben, warum die deutsche Wikipedia nach der englischen Ausgabe die zweitgrößte ist (wenn man mal die beiden überwiegend von Bots geschriebenen Ausgaben ignoriert), obwohl Deutsch nur auf Platz 13 steht.
Nein: Anfangs haben alle deutschsprachigen in meinem Umfeld primaer die deutsche Wikipedia aktiv, also eben auch schreibend, genutzt. Die sind praktisch alle als gelegentliche hochqualifizierte Autoten vergrault. Gleichzeitig kann jeder einigermassen qualifizerte mittlerweile einigermassen Englisch, die juengeren ohnehin. Die stellen dann schnell fest, dass Artikel der englischen Wikipedia oft den leichteren Einstieg haben und kommen nicht zurueck. Von den beruechtigten Relevanzkriterien (idR wahrgenommen als „mag ich nicht, braucht keiner, weg damit“) bei einer de facto unbegrenzten Resource mal abgesehen.
Ich halte Wikipedia fuer ein wichtiges und unglaublich efolgreiches Projekt, weit ueber die eigentliche Wikipedia hinaus.
Aber ich vermisse wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit dem Problem, das viele derartige Projekte haben: es wird zum „Eigentum“ und verteidigten „Heimat“ einer Gruppe sehr engagierter Leute. Und das ist sehr deutsch und daher hier sehr ausgepraegt. Eingefleischte Wikipedianer verhalten sich wie die deutschen Innenminister beim Thema Polizei: es gibt kein Problem, nur Einzelfaelle, alles nach den Regeln 8)
Ergaenzend: ich wage die Behauptung, dass die deutsche Wikipedia auch deswegen so gross ist, weil sich Autorenschaft wie Leserschaft zT vergleichsweise schwer im Englischen tat und tut. Vergleichbar der deutschen Synchronisationskultur. Beides faellt zunehmen weg, zumindest im akademischen und anderweitig international qualifizierten Bereich.
Das mit dem Eigentum ist sicherlich richtig. Die Willkommenskultur in Wikipedia lässt vielfach zu wünschen übrig und tatsächlich gibt es in gewissen Teilen eine Dominanz der „alten Hasen“. Ohne das relativieren zu wollen: Es hat aber eben auch damit zu tun, dass Wikipedia radikal offen ist. In einem Projekt, an dem jeder ohne Anmeldung mitarbeiten kann entwickelt sich schnell ein Beißrefelx gegenüber allen Neuen. Das darf nicht sein – ist aber tatsächlich wohl immer wieder so.
Was die englische WP angeht: Auch dort wird gelöscht, auch dort gibt es natürlich Relevanzkriterien und auch Administratoren. Und es ist z.B. in der englischen Ausgabe für nicht-angemeldete und neue Benutzer nicht mehr möglich, einen Artikel neu anzulegen. Etwas, was in der deutschen Wikipedia nach wie vor möglich ist. Die Mär von der ach so freien englischen Wikipedia ist genau das: Eine Mär.
Klar bei so leuten wie Hagemann…
und auch die Artikel zum Klimawandel sind sehr militant
Er war einer von vielen tausend Autor:innen.
Es gibt im Neusprech nur noch die tausenden Autor und Autorinnen. Die Autoren gibt es nicht mehr.
Kauft euch doch bitte mal eine Tüte Deutsch, kostet nur ein Geld und hat mich auch gehilft.