Privatsphäre von Kindern„Der Verfassungsschutz ist dann plötzlich sehr nah an der Schule dran“

Polizei und Verfassungsschutz bekommen immer mehr Befugnisse, diese Entwicklung macht auch vor dem Klassenzimmer keinen Halt. Doch was können Lehrkräfte tun? Ein Interview.

Die Schule ist ein Schutzraum, aber durch die Weitergabe von Informationen an die Sicherheitsbehörden, bekommt dieser Schutz nun Risse. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Bearbeitet von netzpolitik.org

In der Schule sollen Kinder sich ausprobieren, lernen und frei entfalten. Doch angesichts der permanenten Angst vor terroristischen Anschlägen werden die Überwachungsbefugnisse der deutschen Sicherheitsbehörden auch auf Minderjährige ausgeweitet. So stehen Lehrkräfte heute vor der Frage, was sie eigentlich tun müssen und können, wenn sie vermuten, dass eine Schülerin sich radikalisiert.

Kaja Deller und Konstantin Welker haben sich dieser Frage gewidmet und für das Deutsche Institut für Menschenrechte den Schutz der Privatsphäre von Kindern bei Radikalisierungsverdacht untersucht. Beide studieren Rechtswissenschaft und sind Teil der Humboldt-Law-Clinic für Grund und Menschenrechte.

netzpolitik.org: Ihr habt eine Rechtsanalyse zur Privatsphäre von Kindern geschrieben, die unter dem Verdacht der Radikalisierung stehen. Was war eure Erfahrung?

Kaja Deller: Der Begriff Radikalisierung ist wie ein dicker Stein, immer wenn er fällt, spaltet er die Leute sehr stark. Da geht es schnell um persönliche Angst. Zugleich versteht jeder ein bisschen etwas anderes darunter, es ist ein sehr offener Begriff. Das führt aus rechtlicher Sicht dazu, dass das Kindeswohl oft nicht ausreichend berücksichtigt und abgewogen wird.

netzpolitik.org: Wie viele Fälle von vermeintlich radikalisierten Schüler:innen gibt es in Deutschland?

Konstantin Welker: Das ist schwer zu sagen. Nur ein Bruchteil der Fälle, mit denen Lehrer:innen tagtäglich konfrontiert sind, wird dokumentiert und so kommt fast nichts davon an die Öffentlichkeit. Durch die Beratungsstelle Radikalisierung beim BAMF wissen wir, dass dort in einem fünfjährigen Zeitraum aus circa 3100 Anrufen etwa 850 Beratungsfälle entstanden sind. Von den insgesamt etwa 230 als „sicherheitsrelevant“ eingestuften Fällen waren 60 Prozent neu für die Sicherheitsbehörden. Aber ich glaube, dass das Phänomen viel weiter verbreitet ist.

netzpolitik.org: Konntet ihr da ein Muster ausmachen, welche Schüler:innen das betrifft?

Deller: Kinder, die unter den Verdacht der Radikalisierung gestellt werden, werden nicht mehr als Kinder, also potenzielle Opfer gesehen, sondern in erster Linie als mögliche Gefährdung. Und das betrifft in besonderem Maße Kinder of Color, die nachweislich schneller als Erwachsene behandelt werden als weiße Kinder, wie eine Studie der Georgetown-Universität zeigt.

Welker: Auch in den Materialien, die wir untersucht haben, wurde fast immer von einer islamistischen Radikalisierung ausgegangen. In dem Zusammenhang ist es interessant, dass die Beratungsstelle Radikalisierung am BAMF angesiedelt ist und nicht im Innenministerium. Da sieht man schon, dass Radikalisierung als etwas verstanden wird, was von Migrant:innen und Geflüchteten ausgeht, sonst würde viel dafür sprechen, diese Stelle woanders anzusiedeln. Der antimuslimische Rassismus, den es in unserer Gesellschaft gibt, der zeigt sich gerade in solchen grundrechtlich brisanten Themen.

netzpolitik.org: Wann gilt denn ein Schüler als radikalisiert, was sind da Anhaltspunkte?

Deller: Das kann das äußere Erscheinungsbild sein. Es gibt ein Beispiel aus Großbritannien, wo ein achtjähriger Junge ein T-Shirt mit dem Schriftzug „I want to be like Abu Bakr al-Siddique“ getragen hatte und daraufhin gemeldet wurde. Das kann man verschieden interpretieren: Entweder handelte es sich um Unkenntnis des Unterschieds zwischen dem ersten Kalifen und dem Anführer des IS, Abu Bakr al Baghdadi, oder es wurde durch den Bezug auf den Kalifen auf eine Radikalisierung geschlossen. Hier ließ sich das einfach aufklären, aber das dürfte die absolute Ausnahme sein.

Konstantin Welker und Kaja Deller haben die Rechte von Kindern bei Radikalisierungsverdacht untersucht. - Alle Rechte vorbehalten Lena Völk

netzpolitik.org: Was passiert, wenn es den Verdacht einer Radikalisierung gegen eine Schülerin gibt?

Welker: Für Lehrkräfte gibt es keine Übermittlungspflichten direkt an den Verfassungsschutz, egal ob auf Landes- oder auf Bundesebene. Aber in dem Moment, wo beispielsweise das Schulamt die Polizei einschaltet, kann die Polizei nach den Verfassungsschutzgesetzen zu sogenannten „Spontanübermittlungen“ verpflichtet sein. Und so kann es passieren, dass über die Schnittstelle der Polizei der Verfassungsschutz plötzlich sehr nah an der Schule dran ist.

netzpolitik.org: Muss die Polizei denn Fälle von vermeintlich radikalisierten Kindern an den Verfassungsschutz übermitteln?

Welker: Wir sind in unserer Analyse zu der Schlussfolgerungen gekommen, dass die Schwelle der tatsächlichen Anhaltspunkte aus dem Bundesverfassungsschutzgesetz, die aber wortgleich auch in vielen Ländern gilt, bei einer vermuteten Radikalisierung nicht gegeben sein dürfte und somit eine Übermittlung an den Verfassungsschutz in den von uns untersuchten Fällen nicht hätte passieren dürfen.

netzpolitik.org: Im Jahr 2016 wurde die Altersschwelle zur Speicherung von Informationen beim Verfassungsschutz von 16 auf 14 Jahren herabgesetzt.

Welker: Und seitdem kommt in Wellen immer wieder die Frage auf, ob die Altersschwelle nicht komplett aufgehoben wird. Unter anderem Horst Seehofer hat letztes Jahr im März auf der Innenministerkonferenz vorgeschlagen, die Altersschwelle zur Speicherung von Informationen auf null Jahre abzusenken.

netzpolitik.org: Woher kommt dieser Gedanke, dass Kinder vom Verfassungsschutz beobachtet werden sollten?

Welker: In der medialen Berichterstattung der letzten Jahre stehen immer wieder Kinder im Fokus, deren Eltern sich extremistischen Organisationen angeschlossen haben. Der ganze Diskurs, in dem die Polizeigesetze in den letzten Jahren reformiert wurden, hängt eng mit den dadurch geschürten Ängsten zusammen. Und das gilt natürlich auch für den Verfassungsschutz, wo die Befugnisse in den letzten Jahren ebenfalls ausgeweitet worden sind.

netzpolitik.org: Und es gibt kein etabliertes Verfahren im Umgang mit vermeintlich radikalisierten Schüler:innen?

Deller: Nein, wir haben mit Vertreter:innen von Polizei und Akteuren aus Schulen gesprochen, die alle gesagt haben, dass es dahingehend keine Vorschriften gibt, sondern dass das relativ „frei“ gehandhabt wird.

netzpolitik.org: Warum entscheiden sich Lehrer:innen ihre Schüler:innen bei der Polizei zu melden? Müssen sie das?

Welker: Nein. Wir argumentieren, dass für Fälle, in denen der weitere Verlauf so offen und so unvorhersehbar ist, die Offenbarungspflichten nicht die Verschwiegenheitspflicht gegenüber der Kinder überwiegen können. Im ersten Schritt muss eigentlich immer mit den betroffenen Schüler:innen und Eltern gesprochen werden. Die Rechtsunsicherheit führt aber zu diesem vorauseilenden Benachrichtigen der Polizei.

Deller: Ich habe auch von keinem Fall gelesen, wo sich eine Person verantworten musste. Trotzdem muss man natürlich über die rechtliche Dimension hinaus beachten, dass das eine wahnsinnige persönliche Belastung ist, wenn irgendwas passieren sollte.

netzpolitik.org: Was läuft in diesem Bereich aus kinderrechtlicher Perspektive falsch?

Deller: Es gab den Fall eines Jungen aus Großbritannien, der sich vermeintlich radikalisiert hatte und bei dem Verhör durch die Sicherheitskräfte nicht einmal gefragt wurde, ob er seine Eltern dabei haben möchte. Das greift massiv in Kinderrechte ein.

Welker: Ein anderer Gesprächspartner hat uns erzählt, dass teilweise in WhatsApp-Gruppen zwischen dem Schulkollegium und dem zuständigen Polizisten die Namen von verdächtigten Schüler:innen ausgetauscht wurden mit der Bitte, das doch mal schnell in der Kartei zu überprüfen, ob da irgendwas vorliegt. Da sieht man, dass die Rechtsunsicherheit zur kompletten Untergrabung der Privatsphäre der Kinder führt. Da sind bei uns natürlich alle Alarmglocken angegangen.

netzpolitik.org: Gegen den Verdacht der Radikalisierung durch die Sicherheitsbehörden lassen sich kaum entlastende Tatsachen hervorbringen.

Deller: Ja, das ist eine der Gefahren. Sobald so ein Verdacht im Raum steht, ist es schwierig, den abzuschütteln. Und selbst wenn man das natürlich so widerlegen kann, heißt es ja nicht, dass diese Einstufung nicht weiterhin besteht.

netzpolitik.org: Haben eure Gesprächs-Partner:innen den „Gefährder“-Begriff verwendet, um über die vermeintlich radikalisierten Schüler:innen zu sprechen?

Deller: Der Begriff wurde so nicht benutzt – ich glaube, sehr bewusst nicht. Aber wenn man sich die Fallkonstellationen anschaut, dann ist das genau dieselbe Problematik. Letztlich geht es darum, inwiefern eine Gefahr vorliegen muss, um Rechte einzuschränken.

netzpolitik.org: Was für Folgen hat das denn für das Kind, wenn so ein Verdacht bei der Polizei oder sogar beim Verfassungsschutz landet?

Deller: Das kann Auswirkungen auf zukünftige Aufenthaltstitel oder auf die Einbürgerung haben, genauso auf Jobaussichten, also sehr weitgehende Folgen, die das Kind noch nicht abzuschätzen kann.

Welker: Darüber hinaus hat das Auswirkungen für die Wahrnehmung der Schule als Ort des Lernens. Es gibt einen Fall, wo sich ein Kind nach einem solchen Verdacht auf Radikalisierung nicht mehr getraut hat, sich zu melden und etwas zu sagen, weil es Angst hatte, es könnte wieder etwas sagen, das falsch verstanden wird.

netzpolitik.org: Was nehmt ihr daraus mit?

Deller: Es braucht klare gesetzliche Grundlagen für diese Eingriffe. In Bayern gibt es beispielsweise eine Bekanntmachung aus dem Innenministerium, die alles aufgelistet, was Schulen an die Sicherheitsbehörden weitergeben werden soll. Das müsste unserer Meinung nach in Form eines Gesetzes geschehen. Auch die Beratungsstelle Radikalisierung beim BAMF sollte eine formale gesetzliche Grundlage bekommen.

Welker: Ich würde mir wünschen, dass die Schule als demokratischer Lernort verstanden und gestärkt wird. Kindern sollte die Möglichkeit geboten werden, sich ein bisschen auszuprobieren, ohne die ganze Zeit unter dem Blickwinkel einer potenziellen Gefahr für die Allgemeinheit beobachtet zu werden.

Deller: Das heißt natürlich nicht, dass man sich hinsetzt und nichts macht. Aber gerade bei Kindern in der Schule gibt es unzählige Möglichkeiten an pädagogischen Maßnahmen, die ergriffen werden können. Statt die Polizei zu rufen, gibt es andere Ansätze, die langfristigere positive Auswirkungen haben können.

netzpolitik.org: Was für Bilder habt ihr zu diesem Thema im Kopf?

Deller: Ich sehe so einen langen Schulgang mit vielen Fragezeichen. Dort gibt es einzelne Kinder, die herausstechen, vielleicht sogar auf Stufen stehen, was negativ behaftet ist. Ein anderes Bild zeigt eine Blase, darin ist die Schule gewissermaßen als Schutzraum, wo sich die Kinder entfalten können. Aber diese Blase bekommt an mehreren Stellen Löcher durch Papier, was da raus fliegt.

Welker:
Ich sehe ein fröstelndes Kind. Dabei denke ich an den chilling effect, also vorauseilenden Gehorsam. Dadurch, dass über sie geredet wird und die Kinder das mitbekommen, verhalten sie sich bereits anders. Diese Form der Freiheitseinschränkung lässt sich nur schwer messen. Aber hier stelle ich mir das als etwas sehr Körperliches, ja sehr Greifbares vor.

1 Ergänzungen

  1. An hessischen Schulen findet seit November ’19 eine Aufklärungskampagne gegen Linksextremismus statt. Finanziert und angestoßen hat diese Kampagne, mit dem Namen “Aufgeklärt statt autonom“, das Hessische Innenministerium (HMdI).
    Dabei greift das HMdI, bei der Ausarbeitung von Materialien für die Schulen, auf die Hilfe des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV Hessen) zu. Wie ganz Deutschland weiß, hat Hessen – nach wie vor – mehr Probleme mit Rechtsextremisten als mit Linksautonomen.

    Hessen warnt mit fragwürdiger Kampagne vor Linksextremismus (Frankfurter Rundschau, 13.02.20)

    https://www.fr.de/rhein-main/land-hessen-warnung-linksextremismus-fragwuerdiger-kampagne-13534607.html

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