Das EU-Parlament ist selten so selbstbewusst aufgetreten. Obwohl es keine Gesetzentwürfe in die Welt setzen kann, fordern die Abgeordneten ihr Mitspracherecht vehement ein – und scheinen bei der EU-Kommission auf offene Ohren zu stoßen.
Es geht um nichts Geringeres als um die umfassendste Überarbeitung der Regeln für Online-Dienste wie Google, Facebook oder Amazon seit Jahrzehnten. Mit dem Gesetz für digitale Dienste, dem Digital Services Act, will Europa die Karten im digitalen Raum neu mischen.
Künftig soll die Macht der dominant gewordenen Digitalkonzerne beschränkt werden, der Umgang mit illegalen Inhalten vereinheitlicht und besser werden und eine europaweite Aufsicht soll sicherstellen, dass etwaige Regeln auch tatsächlich Schlagkraft entfalten können.
Klare Verfahrensregeln sollen Meinungsfreiheit schützen
„Aktuell entscheiden Plattformen auf eigene Faust, wie sie mit illegalen Inhalten umgehen, solange Rechtsverletzungen schnell beseitigt werden“, sagt der sozialdemokratische Abgeordnete Tiemo Wölken. Dies schaffe jedoch zu viele Unsicherheiten und biete nicht ausreichenden Schutz für die Meinungsfreiheit der Nutzer:innen.
Anstatt den Plattformen noch mehr Macht zu geben und sie mittels Überwachungspflichten zu Hilfsheriffs zu machen, sollen klare Verfahrensregeln für das Notice-and-Action-System Rechtssicherheit für die Anbieter schaffen. Bei ungerechtfertigten Löschungen sollen unabhängige Streitschlichtungsstellen einspringen, sagt Wölken, der im Rechtsausschuss an einem sogenannten Initiativbericht mitgewirkt hat.
Gleich mehrere solcher Parlaments-Berichte sollen Druck auf die Kommission ausüben, bevor sie ihren für Anfang Dezember erwarteten Gesetzentwurf vorstellt. In einer Aussprache im Parlament am Montag signalisierte denn auch Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager Aufgeschlossenheit für die Anliegen der Abgeordneten. Über die von den Ausschüssen bereits abgesegneten Berichte stimmt das Plenum heute Nacht ab, mit großen Überraschungen rechnet niemand.
Überwachungskapitalismus überdenken
Auf dem Wunschzettel des Parlaments steht zudem eine Überprüfung des Geschäftsmodells von Online-Diensten, die sich dem Überwachungskapitalismus verschrieben haben. Noch besteht Unklarheit darüber, wie weit ein etwaiger Einschnitt reichen würde, doch einige Abgeordnete stellen das gesamte System in Frage.
„Die derzeitigen Geschäftspraktiken gefährden unsere Demokratie, weil sie mit extremen Inhalten Aufmerksamkeit generieren“, sagt die grüne Parlamentarierin Alexandra Geese aus dem Binnenmarktausschuss. Dabei kann es sich um Hassrede handeln oder gezielt gestreute Desinformation, die auf der emotionalen Ebene ansetzt und die Feeds der Nutzer:innen vergiftet.
Riesige und miteinander verknüpfte Datenmengen würden nicht nur unsere Wahrnehmung steuern, sagt Geese. „Sie entziehen obendrein den Qualitätsmedien eine ausreichende finanzielle Grundlage, weil sie sie zu Getriebenen degradieren, die sich anpassen müssen“, sagt die Abgeordnete. Als Gegenmodell sei beispielsweise kontextbasierte Werbung denkbar, um Journalismus zu finanzieren.
Ein weiterer Pluspunkt: Schädliche, aber nicht notwendigerweise illegale Inhalte müssten dann nicht eigens reguliert werden. Denn dies würde die Macht der großen Plattformen erst recht wieder stärken. Keinesfalls dürfe etwa Facebook-Chef Mark Zuckerberg entscheiden sollen, was wir sehen dürfen und was nicht, sagt Geese. „Das ist einfach keine Option, so verlockend das leider ist.“
Opt-Out aus Plattform-Empfehlungen
Die Liberalen wollen lieber beim Wettbewerbsrecht ansetzen, um Probleme bei zielgerichteten Anzeigen in den Griff zu bekommen. Außerdem wünschen sie sich mehr algorithmische Mitbestimmung. Nutzer:innen sollten die Inhalte in ihren Feeds selbst kuratieren beziehungsweise aussteigen können aus den Empfehlungen, die ihnen die Plattformen vorsetzen, sagt der FDP-Abgeordnete Moritz Körner, der im Innenausschuss sitzt.
Zwar sehe er zielgerichtete Werbung auch „kritisch“, sagt Körner. Aber ein Verbot würde zu weit gehen. Stattdessen sollten Online-Diensten stärkere Pflichten auferlegt werden, Daten auch zu teilen, und „dass man den großen Plattformen das voreingestellte Ranken oder ähnliche Dinge verbietet und stärker auf Interoperabilität drängt“, sagt Körner.
Einigkeit herrschte unter den drei Abgeordneten, die heute ein gemeinsames Pressegespräch veranstalteten, jedenfalls in Sachen Überwachungspflichten und Uploadfilter. „Es darf keinen Zwang zu Uploadfiltern geben, weder de jure noch de facto, und was illegal ist, sollen und dürfen nur Gerichte bestimmen“, sagte Körner.
Update, 21. Oktober, 10:00: Das EU-Parlament hat die Berichte im Plenum angenommen.
Photountertitel: „Die Grün-Abgeordnete“ muss heissen: …Grünen…
Danke, ist nun korrigiert.
Sehr erfreulich fände ich auch ein Verbot von Bots welche sich als Menschen ausgeben ohne sich als Bots kenntlich zu machen. Chatbots usw werden ja immer besser und dürfen kein Instrument der Meinungsmanipulation werden.
CDU Wähler bitte auch kenntlich machen!