Das Team von vollehalle arbeitet seit dem Sommer 2017 daran, das nachhaltige Nachdenken über die Klimakrise und unsere Gesellschaft in Bühnenformate zu verarbeiten. In diesem Jahr hat vollehalle zum ersten Mal eine Diskussion unserer Wirtschaftslogik mit aufgenommen. Sie hatten Glück im Unglück: Am 6. März konnten sie ihre Premiere gemeinsam mit dem Pianisten Igor Levit vor knapp 500 Gästen aufführen und aufzeichnen. Diese Aufzeichnung stellt vollehalle am heutigen Donnerstag ab 20:15 Uhr auf YouTube für die Öffentlichkeit bereit. Ab 21:45 Uhr lädt das Team zu einem Debattensalon ein. Es soll der Auftakt sein zu weiteren digitalen Formaten.
Krisen können neue Kräfte freisetzen und das Beste in uns zum Vorschein bringen. So gesehen sind das gerade Zeiten mit ungeheurem Energiepotential. Man weiß vor lauter Krisen ja gar nicht mehr, wohin man zuerst schauen soll. Ist es die verheerende Lage in Krankenhäusern und Pflegeheimen, bei denen sich jetzt zeigt, dass Gesundheit eben doch keine Ware ist, für die der Markt den besten Preis findet? Oder das Ende der Europäischen Union als Friedens- und Demokratie-Labor? Das Flüchtlingselend im griechisch-türkischen Grenzgebiet und in den libyschen Internierungslagern? Oder die galoppierende Erderwärmung, die sich wie ein Regenbogen über all die anderen Krisen spannt?
Egal, wohin man gerade blickt und hört – in Social-Media-Debatten, Essays großer Zeitungen oder Gespräche unter Freunden und Kolleginnen: Überall weht einem dieselbe Hoffnung entgegen. Die Schockstarre, die die Covid-19-Pandemie über uns gebracht hat, wird alles verändern. Denn werden wir nicht gerade Zeug.innen einer Renaissance von Gemeinsinn und Solidarität? Wir nähen füreinander Schutzmasken und übernehmen Einkäufe für diejenigen, die sich nicht selbst helfen können. Wir organisieren ein digitales Sozialsystem, bei dem jede.r fünf Prozent des eigenen Einkommens in einen Topf wirft, damit niemand unter 1.000 Euro im Monat rutscht.
Die Kräfte, die uns an diesen Punkt geführt haben, werden nach der Krise nicht einfach verschwunden sein
Man könnte solche Beobachtungen schier endlos fortsetzen. Das ist alles schön und gut. Aber wer jetzt darauf setzt, dass es danach kein Zurück mehr geben wird in die Zeit von Profitmaximierung, Eigennutz und die „Die Flut hebt alle Boote“-Parolen, glaubt leider auch, dass er wirklich 1.500 Freunde hat, wenn Facebook das sagt.
Die Kräfte, die uns an den Punkt geführt haben, an dem wir heute stehen, werden nach der Krise nicht einfach verschwunden sein. Im Gegenteil: Schon jetzt versuchen einzelne, aus der Krise Profit zu ziehen. Die einen horten Schutzmasken und versuchen, sie im Netz teurer zu verkaufen. Die anderen versuchen uns weiszumachen, dass Einmalplastik – entgegen erster wissenschaftlicher Studien – ein wirksames Mittel gegen die Ausbreitung des Corona-Virus sei. Das hat bereits dazu geführt, dass in den Vereinigten Staaten Ketten wie Starbucks und Dunkin Donuts die Verwendung von wiederverwendbaren Bechern ausgesetzt haben. Die Vermüllung der Welt als vermeintliche Lösung gegen die Verseuchung – eine Spitzenidee.
Es ist darüber hinaus keineswegs ausgemacht, dass die gegenwärtige Krise (Corona) alle Skeptiker daran erinnert, dass wir auch in der anderen, ungleich größeren Krise (Klima) auf die Wissenschaft hören sollten. Viel wahrscheinlicher ist, dass die in den großen Volkswirtschaften erwartete Rezession dazu führen wird, dass uns die Politik erklärt: Für den Kampf gegen die Erderwärmung haben wir nun wirklich keine Zeit. Jetzt müssen wir uns erstmal ums Wachstum kümmern.
Es wird sich anfühlen, als würde ein Vater zu seiner Tochter sagen: Ich weiß, dass unser Haus bald von einem Tornado weggefegt wird. Aber die Badewanne ist übergelaufen, bitte sei jetzt still und hilf mit, den Boden aufzuwischen.
Das Netz entwickelt sich zur Volkshochschule im besten Sinne
Was also tun? Wir müssen die Köpfe zusammenstecken. Und die Digitalisierung kann uns dabei helfen. Ja, genau die Digitalisierung, von der es so heißt, sie würde die Klimakrise weiter befeuern, weil Netflix, Google und Facebook so viel Energie schlucken. Das Netz entwickelt sich gerade zu einer Volkshochschule im besten Sinne. Es entstehen digitale Debatten-Salons, in denen sich Menschen die Frage stellen: Und jetzt?
Sie sitzen, jede.r für sich, in ihren Wohnzimmern, diskutieren über die intellektuellen Wurzeln des gegenwärtigen Wirtschaftssystems und fragen sich: Welche Ideen können wir jetzt zünden, damit wir in der Post-Corona-Welt loslegen können? VWL-Professoren bieten Online-Werkstätten an mit Titeln wie „Corona-Schock, Neoliberalismus und Staat. Was ändert sich?“ Und wieder andere starten ein Online-College für Kids ab 14 Jahren mit Schulstunden über Punk in der DDR, Dekarbonisierung und das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens. Wenn das, was sich hier gerade aufbaut, die Zeit von Kontaktverbot und Ausgangsbeschränkungen überdauert, wäre wirklich was gewonnen.
Und das gilt auch aus ökologischer Perspektive. „Der Trend ist extrem positiv zu bewerten. Durch die Coronakrise werden die verkehrsbedingten Treibhausgasemissionen stark reduziert werden. Der Energieverbrauch durch verstärkte Digitalisierung, der dagegen gerechnet werden muss, beträgt nur ein Bruchteil davon”, sagt Tilman Santarius von der TU Berlin. Wenn wir also nicht mehr für jedes Meeting durch die Gegend jetten, werden wir neben Zeit und Geld auch enorme Mengen CO2 einsparen.
#flattenthecurve gilt nicht nur für die Ausbreitung des Corona-Virus
Die vielfältigen, ineinander verschränkten Krisen unserer Zeit verweisen uns darauf, dass wir aus dem Blick verloren haben, was Menschsein auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen wirklich bedeutet. Radikale Marktgläubigkeit gepaart mit unserem Hang zu Bequemlichkeit und der Annahme, individueller Egoismus führe zu kollektiver Glückseligkeit, haben uns und unseren Planeten schon jetzt verwandelt. Es ist an der Zeit, diese Verwandlung zu stoppen.
Wir müssen endlich damit beginnen, uns als Wesen zu begreifen, die Verantwortung zu übernehmen bereit sind. Für die Menschen um sich herum genauso wie für unsere Ökosystem, in denen wir leben. Der Markt regelt nichts außer sich selbst. Wir müssen die Zügel wieder selbst in die Hand nehmen und eine neue Verwandlung initiieren.
#flattenthecurve gilt nicht nur für die Ausbreitung des Corona-Virus – wir müssen auch unsere Gier nach immer mehr materiellem Wohlstand, billigen Fernreisen und endless consuming summer zum Erliegen bringen. Genauso wie die Angst vor Statusverlust und die ewige Verlockung: Wenn ich mich nicht rücksichtslos verhalte, macht es halt mein Nachbar. Also bitte, was solls?
Wir wollen mit dem heutigen Debattensalon und weiteren Formaten unseren Beitrag leisten. Zusammengehalten wird alles von der Hoffnung, dass wir alle gemeinsam immer intensiver das digital vermittelte Gespräch in dieser Krise führen werden, damit wir anschließend gemeinsam anpacken und die Welt aus ihrem ewigen Krisenmodus herausführen. Wir müssen diese Stimmung von Gemeinsinn und Aufbruch, den gerade viele im Netz erleben, so skalieren, dass davon möglich viele erfasst werden. Es geht um nicht weniger als die maximale Ausdehnung des Humanismus.
Na, na, na, haltet den Bach mal etwas flacher. „Radikale Marktgläubigkeit“ ist zwar catchy und wird als Begriff gern anklagend gebraucht, allerdings gibt es das nirgendwo auf diesem Planeten. Selbst in den USA haben wir nicht mehr 1910. Wer glaubt, wir leben heute in einer neoliberalen Welt, in der es keine Regeln gibt, soll einfach mal eine Firma gründen. Oder in die Champions-League der massiven Regulierung eintauchen und versuchen, eine Bank zu gründen. Die Welt ist heute weitgehend durchreguliert. Auch die Rufe nach Systemänderung sind naiv und gefährlich.
Versucht, den Markt als Tool zu begreifen. Überall dort, wo etwas knapp ist, helfen uns Marktmechanismen, Ressourcen effizient einzusetzen. Nehmen wir doch euer Thema Klimakrise: Hätte man schon vor 20 Jahren angefangen, CO2-Emissionen wirksam zu besteuern (also den Markt über Signale zu leiten), wären wir heute schon viel weiter mit der Energiewende. Statt dessen haben wir ein unübersichtliches Kuddelmuddel an Regeln, Beihilfen und Verpflichtungen, die kaum noch eine wirkliche Zielsteuerung ermöglichen.
Um es kurz zu machen: Wir brauchen ein globales REVIVAL des Marktdenkens, um diverse gesellschaftliche Ziele zu erreichen.
Das ist überhaupt kein Widerspruch zu unserer These. Was wir brauchen, sind Märkte, die wieder ihrem Namen gerecht werden und in die weitere Prinzipien bzw. Leitplanken eingezogen werden als Umsatz und Gewinn. Die Champions League bzw. der Fußball ist ja ein gutes Beispiel: Scheinbar ein Markt mit gleichberechtigten Akteuren, tatsächlich ein Betrieb, in dem die Großen und Mächtigen die meisten Fernsehgelder erhalten und weitgehend die Regeln setzen, und die Kleinen inzwischen als Zaungäste am Rand stehen, wenn die entscheidenden Spiele beginnen. Ergebnis: ein weitgehend entseelter Fußball, zumindest nach meiner Wahrnehmung, und ich war mal ein riesiger Fußballfan.
Auch in der Klimakrise gibt es diese Beispiele, und da ist es ungleich ernster: Das EEG, das jetzt gerade seinen 20. Geburtstag gefeiert hat, hatte zum Ziel, neue Akteure in den Markt zu holen, die bei der Stromproduktion mit Erneuerbaren so lange gestützt werden, bis sie aus eigener Kraft stehen bzw. Strom produzieren können. Die vielen Ausnahmen oder Absurditäten wie das EEG-Paradoxon (Strompreis an der Börse sinkt, EEG-Umlage steigt und damit der Strompreis auf der Rechnung, mit der Folge, dass die Menschen die höheren Preise den Erneuerbaren in die Schuhe schieben) haben einen funktionierenden Markt auf dem Weg in die Energiewende nicht befördert, sondern behindert. Das hat die Energiewende entscheidend verlangsamt oder sagen wir: entschleunigt, das ist ja gerade ein schicker Begriff.
Mit anderen Worten: Marktradikalität meint, alles dem Markt zu überlassen, Werte nur noch dann ernst zu nehmen und politisch wirksam zu machen, wenn sie materiell in Preisen ausgedrückt werden können, und politische, ideelle Werte als unzulässige Eingriffe abzulehnen, weil: Ökodiktatur! Angriff auf die Freiheit! Kommunismus! Und da sind wir überzeugt, dass es einen anderen Weg geben kann, aber auch geben muss. Das erleben wir ja gerade zu deutlich.
O.K. Es wäre allerdings glaubwürdiger, wenn ihr auf wirklichkeitsferne Begriffe wird „marktradikal“ verzichtet. Im Grunde geht es bei sehr vielen Problemen nur darum, externalisierte Kosten (z.B. für CO2-Emissionen) einzupreisen. Innerhalb eines solchen Systems sorgt dann das eigennutzorientierte Verhalten der Marktteilnehmer dafür, dass am Ende ein ziemlich effizientes Ergebnis herauskommt.
Staatliches Gewurschtel wie beim EEG führt nur dazu, dass wir pro Euro weniger CO2 einsparen, als möglich wäre.