Stellungnahme zum niedersächsischen Polizeigesetz: Grundrechte werden massiv eingeschränkt

Das neue niedersächsische Polizeigesetz sieht mehr Videoüberwachung, elektronische Fußfesseln und Präventivhaft vor. In seiner Schlagrichtung gleicht der Entwurf damit dem des bayerischen Pendants, kritisiert Marie Bröckling von netzpolitik.org in einer Stellungnahme. Sie ist eine von dreißig Sachverständigen, die ab Donnerstag im Landtag geladen sind.

Polizisten bei einem Einsatz im niedersächsischen Laase. CC-BY-ND 2.0 cephir

In einer dreitägigen Mammutsitzung hört der niedersächsische Landtag ab Donnerstag dreißig Sachverständige zur geplanten Novelle des Polizeigesetzes an. Mit dem Gesetz will die schwarz-rote Landesregierung der Polizei erhebliche neue Befugnisse erteilen, auch Staatstrojaner sind vorgesehen. Künftig reicht etwa ein Verdacht bereits für harte Maßnahmen wie den Einsatz von elektronischen Fußfesseln oder Präventivhaft, bei der unschuldige Menschen ohne eine Anklage inhaftiert werden dürfen. Schon bei Verdacht auf Ordnungswidrigkeiten darf die Polizei Videoüberwachung im öffentlichen Raum einsetzen. Das Abhören von Telefongesprächen und Abfangen von E-Mails und Chat-Nachrichten wird ebenfalls neu geregelt.

Neben JuristInnen, BürgerrechtlerInnen und DatenschützerInnen ist auch Marie Bröckling aus unserer Redaktion als Sachverständige geladen. In ihrer schriftlichen Stellungnahme, die wir hier vorab veröffentlichen, kritisiert die Journalistin unter anderem den Verlust an Rechtssicherheit, die durch die im Gesetz vorgesehene zügellose Ausweitung von (präventiven) Überwachungskompetenzen verursacht wird.

Eine elektronische Fußfessel verhindert keine Gewalttat

Der Gesetzentwurf für ein neues Polizeigesetz im rot-schwarz regierten Niedersachsen fällt zeitlich zusammen mit einer Welle an neuen Polizeigesetzen in ganz Deutschland. Im Eifer des Gefechts wird jedoch übersehen, wie festgefahren die Polizeigesetz-Debatte bereits ist: Kaum jemand fragt mehr nach der Eignung von polizeilichen Maßnahmen.

So sollen neue technische Mittel und Standardmaßnahmen eingeführt werden, die schlicht nutzlos sind. Ein Beispiel: Dass eine elektronische Fußfessel gar nichts bewirkt, um einen terroristischen Anschlag zu verhindern, ist eigentlich allen Beteiligten bewusst. In der ebenfalls heute veröffentlichten Stellungnahme des Chaos Computer Clubs wird die Fußfessel ebenfalls als „Scheinlösung, deren Wirksamkeit nicht belegt ist“, eingeschätzt.

In der Begründung zum Gesetzentwurf steht: „Die elektronische Aufenthaltsüberwachung soll bei drohenden terroristischen Straftaten“ zum Einsatz kommen. Nur wenig später revidiert die Landesregierung diese Einschätzung, wenn sie schreibt: „ein Anschlag oder eine schwere Gewaltstraftat [könne] damit nicht unmittelbar verhindert werden“. Dazu schreibt Bröckling in ihrer Stellungnahme:

Zahlreiche der geplanten Maßnahmen sind schlicht nicht geeignet, um terroristischen Anschlägen vorzubeugen. Gleichzeitig werden die Grund- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt. Der Gesetzgeber sollte sich zurückbesinnen auf geeignetere und mildere Mittel.

Präventionsprogramme statt Polizeigesetze

Zur Erinnerung: Es ist erst fünf Jahre her, dass die vorherige Landesregierung in Niedersachsen eine Eindämmung des Maßnahmenkatalogs plante – also das Gegenteil von dem, was derzeit passiert. Im rot-grünen Koalitionsvertrag von 2013 hatte man sich auf die Verkürzung der Präventivhaft auf vier Tage geeinigt. Nun soll die Präventivhaft auf ganze 74 Tage ausgeweitet werden. Aktuell sind zehn Tage möglich. Damit ist die heutige Welle der Polizeigesetze ein Paradebeispiel dafür, wie sehr sich die sicherheitspolitische Debatte in den letzten Jahren verschoben hat.

In ihrer Stellungnahme macht Marie Bröckling klar: Um das Problem an der Wurzel zu packen, müssen Präventionsprogramme her. Die richtigen Ansprechpartner sind hier soziale Träger, Bildungseinrichtungen, MitarbeiterInnen der Jugendarbeit und Stadt-und RaumplanerInnen. Das Polizeigesetz ist jedenfalls nicht die angemessene Stellschraube, als die es gern dargestellt wird.

Experten aus vielen Fachgebieten geladen

Die Sachverständigen-Anhörung ist erstaunlich vielfältig besetzt. In vergleichbaren Anhörungen in anderen Bundesländern waren oft ausschließlich JuristInnen als Sachverständige eingeladen. Die Antworten beschränken sich dementsprechend auf die rechtskonforme Umsetzung der geplanten Maßnahmen. Die praktische Anwendbarkeit oder sachliche Notwendigkeit fielen dabei unter den Tisch.

Dieses Mal sind auch ForscherInnen, HochschullehrerInnen, DatenschützerInnen und Technik-ExpertInnen eingeladen, das ist begrüßenswert. Mit Rainer Wendt ist jedoch aus unverständlichen Gründen eine Person dabei, bei der man gehofft hatte, dass sie durch ihre Ausfälle und ihr Fehlverhalten mittlerweile allen als untragbar gelten würde.

Derweil regt sich auch auf der Straße Protest gegen die Regierungspläne. Für den 8. September hat das Bündnis „#noNPOG – Nein zum neuen niedersächsischen Polizeigesetz“ eine Großdemonstration in Hannover angekündigt. Zu den Unterstützern zählen die Grüne Jugend, die Jusos, antifaschistische Gruppen und Fußballfans.

Dass eine Mitarbeiterin von uns neben aktueller Berichterstattung auf diese Weise am parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren mitwirken und somit Expertise weitertragen kann, ist nur dank eurer Spenden möglich.

11 Ergänzungen

  1. „Es ist erst fünf Jahre her, dass die vorherige Landesregierung in Niedersachsen eine Eindämmung des Maßnahmenkatalogs plante – also das Gegenteil von dem, was derzeit passiert. Im rot-grünen Koalitionsvertrag von 2013 hatte man sich auf die Verkürzung der Präventivhaft auf vier Tage geeinigt. Nun soll die Präventivhaft auf ganze 74 Tage ausgeweitet werden. Aktuell sind zehn Tage möglich.“

    Die vorherige Regierung unter Beteiligung der SPD hat diesen Plan also NICHT umgesetzt. Die jetzige Regierung unter Beteiligung der SPD wird die Massnahmen verschaerfen. Faellt was auf?

    In BaWue stand im Gruen-Roten Koalitionsvertrag die Kennzeichnung der Polizeibeamten, der SPD-Innenminister hat’s einfach nicht gemacht. Faellt was auf?

    Das ist die SPD: links blinken und rechts abbiegen, ein Tag ohne Abbau der Buergerrechte ist vermutlich ein schlechter Tag.

  2. Es ist äußerst unerquicklich zu sehen, wie sehr einige Länderregierungen offenbar bereit sind mindestens die Intention des Grundgesetzes zu missachten, wenn nicht gar dessen Text scharf zu verletzen.
    Unsere Verfassung bildet einen wesentlichen Hauptzweck mit ab. Den Bürger vor einer überbordenden Macht der Organe des Staatsgebildes, einen demokratischen Grundcharakter der Gesellschaft zu, schützen.
    Ausnahmen darin sind aus gutem Grund, niemals wieder ein Staatsgebilde mit der Macht eines totalitären Systems ausstatten zu können, nicht vorzusehen.
    Für äußerste Fälle sind die Notstandsparagraphen, an sich schon weit über jedes Ziel hinausschießend antidemokratisch, vorgesehen.
    Ein weiterer Einschnitt, die Verletzung der elementaren Grundrechte der Bürger, wie in den Polizeigesetzen Bayerns, NRWs und Niedersachsens, außerhalb eines Krieges oder ökologischen Notstands, ist unhinnehmbar.
    Präventivhaft ist eine Abscheulichkeit, die eine Demokratie nur schwer überhaupt zulassen kann. Diese, neu in ihrem Ausmaß maßlose, Repressionsform und die beabsichtige neue Präventivüberwachung, also die Ausweitung auf undefinierte Verdachtsfälle, muss als ein Angriff auf unsere freiheitlich organisierte Gesellschaft, und auf ihre Grundwerte, gesehen werden.

    Die Bedeutung für das Individuum, neben der direkten Schädigung, der Verlust der Wohnung, des Arbeitsplatzes, die intensive Rufschädigung, die Überwachung des Bekanntenkreises, wird nur noch durch den Einfluss auf die Gesellschaft, ein Klima der Angst jederzeit durch irgend eine/n Polizisten/eine Polizistin präventiv verhaftet und ausgehorcht zu werden, im Ganzen geschlagen.

  3. Ein Gesetz,, dass gegen Menschenrechte verstösst ist kein Gesetz, kein Recht. Es ist Unrecht. Und damit NIchtig. Dazu bedarf es auch keine weiteren Handlungen mehr.

  4. Wenn man sich tagtäglich mit der rechtsbeugenden Gerichtsbarkeit rumärgert, ist das was Netzpolitik.org veröffentlicht, nur die Spitze vom Eisberg. Da das Grundgesetz nirgends in den Ländern die oberste Rechtsnorm ist, können von den Politikern Rechtsnormen ( Gesetze) beschlossen werden, gegen die kein Mensch klagen kann. Dafür sorgt das illegetim gewählte Bundesverfassungsgericht mit seiner eigenen Ordnung. Die Politiker, egal welcher Partei, überschauen das, was sie entscheiden gar nicht, oder mit voller Absicht, scheissegal, ist ja nur das Volk und die müssen Folge leisten.Das wir nicht mehr in einer Demokratie und Rechtsstaat leben, hat Netzpolitik auch schon erkannt, sie bringen es nur nicht so krass zum Ausdruck, da sie ja schon als Vaterlandsverräter abgestempelt sind, obwohl sie ja die Wahrheit erzält haben.In unserem Staat läuf was schief, das kann man auch mit dem Inet nicht regeln. Aber auf die Straße gehen, das trauen sich viele nicht mehr, wegen der Überwachung.
    Die Polizeigesetze der Länder sprengen den Rahmen der grundgesetzlichen Erlaubnis, aber das ist den regierenden egal, soll doch einer Klagen. ( die Gerichte blocken es ). Manchmal wünscht man sich, das man schon tod ist, um dieses Elend in dem Staat noch zu erleben. Der Jugend mein Beileid.
    Diese Entwicklung ist ja auf der ganzen Welt zu verfolgen. Heist, Kapitalismus ist nicht der richtige Weg. Wenn die Menscheit ein Ausweg findet, bin ich nich mehr Geschichte. Ich hoffe nur, das unsere handysüchtige Jugend mal ein Ausweg findet.

    1. Sorry, aber diesem Beitrag muss man einfach widersprechen.

      In keinem Satz wird die diffamierende Behauptung begründet, in jedem zweiten Satz ist die Grundaussage sachlich falsch. Der Beitrag sagt viel aus über die destruktive mentale Haltung des Verfassers, trägt aber nichts zum Thema bei. Deswegen sollte man auch nicht versuchen, sich inhaltlich ihm Beitrag auseinandersetzen.

  5. Die Einrichtung einer „Präventivhaft“ von 74 Tagen ohne richterliche Prüfung und ohne Erhebung einer rechtmäßigen Anklage, bedeutet die Auflösung des Rechtsstaates.

    Rechtsstaatlichkeit ist der Schutz des Einzelnen vor der Willkür der Staatsorgane.

    In Erinnerung an Karl I, der seinen Kopf für den Rechtsstaat lassen durfte.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Habeas_Corpus

    1. Regierte nicht ähnlich ein gewisser lupenreiner Demokrat am Bosporus so? Mit dem Deckmantel des Ausnahmezustandes _hatte_ Erdogan doch ein schönes Werkzeug; Deutschland hingegen macht Nägel mit Köpfen und schreibt es _vor_ (bisher geplant in 3 Bundesländern – und es ist nur ein Frage der Zeit bis es bundesweit soweit ist)!
      Glückwunsch!

  6. Als ob die Sachverständigenanhörung irgend etwas bringen würde. Weder die Bundesregierung, noch die Landesregierungen haben irgendwelche Einwände gewürdigt, die Gesetze wurden mit den Stimmen der Regierungsparteien durchgepeitscht. Sachverständige sind nur dann genehm, wenn sie die Standpunkte der Politik bekräften. Ein weiterer Sargnagel für den Verstobenen, auch genannt Demokratie.

  7. Auf Geht’s: Am 8.9.2018, 13.00Uhr in Hannover zur zentralen Kundgebung!
    Weitere Informationen unter: https://niedersachsentrojaner.de/
    Unbedingt weitersagen- und nicht nur in den sozialen Netzen protestieren!
    Und wer mag, schreibt ihre Landtagsabgeordnete an.
    Schaden kann der Protest auf jeden Fall nicht!

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.