Rezension: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy – Die vielen Gesichter von Anonymous

Das Internet-Phänomen Anonymous hat viele Bezeichnungen erhalten: Hacker auf Anabolika, politischer Aktivismus des 21. Jahrhunderts, Bedrohung der nationalen Sicherheit. Jetzt erscheint das definitive Buch über die Welt der „lulz“ und Guy-Fawkes-Masken. „Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy“ von Gabriella Coleman kombiniert spannende Geschichtenerzählung mit wertvoller Klarstellung und Reflexion.

Schon seit einigen Jahren begleitet netzpolitik.org die Arbeit der Anonymous-Forscherin Gabriella Coleman. Vor vier Jahren berichteten wir über ihre Uni-Seminare, in denen sie Einblicke in das damals noch recht junge Internet-Phänomen Anonymous und den Kampf gegen Scientology präsentierte. Im Jahr 2011 erklärte uns die Hacker-Anthropologin auf der re:publica und in einem Podcast auf dem CCC-Camp die politischen Aspekte der damals weltbekannten Kollektivs. Unsere Jahrbücher 2012 und 2013 unterstützte Coleman mit eigenen Beiträgen.

Jetzt hat „Biella“ – mittlerweile Professorin für wissenschaftliche und technische Bildung an der McGill Universität in Montreal – ihr eigenes Buch zum Thema fertig gestellt: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy: The Many Faces of Anonymous. Es erscheint im November im Handel, wir durften es dankenswerter Weise vorab lesen.

Coleman ist eine ungewöhnliche Anthropologin: während die „Menschenkunde“ klassischerweise einen sehr naturwissenschaftlichen und ethografischen Fokus hat, wählte sie Netz-Communities als Forschungsobjekt. In ihrem – unmittelbar vor diesem Buch geschriebenen – Coding Freedom untersuchte sie „Ethik und Ästhetik des Hackens“, am Beispiel von Free Software Projekten. Derart vertraut mit technischen Tools (Mailinglisten, IRCs), sozialen Phänomenen (Ano-/Pseudonymität, Gruppendynamiken) sowie Netzkultur (Jargon, Katzenbilder), scheint es rückblickend fast unausweichlich, dass die politische Aktivistin von Anfang an am Laptop gebannt die Entwicklungen beobachtete, die sich unter dem Banner „Anonymous“ abspielten.

Spätestens als die „Internet hate machine“ vom Imageboard 4chan unter dem Banner „Project Chanology“ auf der Straße gegen Scientology protestierte, widmete Biella (teilweise zu) große Teile ihres Leben den Prozessen hinter den Guy-Fawkes-Masken. Über die Jahre sammelte sie unzählige Chatlogs aus öffentlichen Chaträumen, Leaks und Gerichtsakten und führte aberdutzende Interviews mit so ziemlich allen Akteuren (die Handelnden sind in der Tat größtenteils junge Männer). Sabu, Jeremy Hammond, Topiary, Kayla, tflow, Palladium, Barrett Brown – viele wichtige Anons lernte sie on- und offline kennen. Skurrilerweise, schreibt sie, hätte das Buch über Anonymous „nicht geschrieben werden können ohne die Entlarvung vieler Teilnehmer nach ihrer Festnahme und Strafverfolgung“.

Gerüstet mit diesem Datenschatz machte sie sich daran, das komplexe Labyrinth sozialer Strukturen und Komunikationskanäle zu erkunden, was sich in stetiger Regelmäßigkeit verkomplizierte: „Es war eine unendliche Maschine einer engen rekursive Schleife, in der Labyrinthe Labyrinth-erzeugende Labyrinthe erzeugten“. Ebenso wie Forbes-Reporterin Parmy Olson in ihrem Buch We Are Anonymous erzählt Biella die wichtigen Etappen und Ereignisse von Anonymous (Operation Payback, Arabischer Frühling, Occupy Wall Street, Sony, LulzSec, AntiSec) atemberaubend und spannend – fast als ob man dabei gewesen wäre.

Die große Leistung des Buchs ist aber die Reflexion und Einordnung. Trotz jahrelanger Einbindung in die engsten Netzwerke verliert sich Biella nicht in Details, sondern schafft es, das Phänomen Anonymous mit wissenschaftlicher Perspektive zu analysieren. Vom Trickster der Mythologie zu Internet-Trollen, von namenlosen Aktionen durch die Geschichte zu Friedrich Nietzsche, der sich heutzutage „bestimmt LulzSec angeschlossen hätte“ – Biella erarbeitet einen geschichtlichen Kontext und verdeutlicht Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit anderen Phänomenen. Gleichzeitig bleibt das Buch durchgehend unterhaltsam und witzig – immerhin ist „lulz“ ein Kernelement von Anonyous.

Biella selbst beschreibt zwei (leicht widersprechende) Ziele, die sie mit „Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy“ verfolgt: Desinformation auszumerzen und Begeisterung auszudrücken. Das ist ihr grandios gelungen.

Gabriella Coleman: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy – The Many Faces of Anonymous. November 2014. New York City: Verso Books. 464 Seiten.

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