Gemeinsame Argumentationsgrundlage sämtlicher Pro-Urheberrechtskampagnen der vergangenen Monate war und ist die Behauptung substantieller wirtschaftlicher Schäden auf Grund illegaler Downloads sowohl für die Verwertungsindustrie als auch für die Kunst- und Kulturschaffenden selbst. Dass diese Schäden allerdings empirisch alles andere als einfach nachzuweisen sind, lässt sich auch an der jüngst vom Medienboard Berlin-Brandenburg veröffentlichten „Metastudie zu Auswirkungen digitaler Piraterie auf die regionale Medienwirtschaft“ demonstrieren.
Der Wiener Musikwirtschaftsforscher Peter Tschmuck hat auf seinem Blog die Studie im Detail seziert um nachzuvollziehen, wie die Studienautoren zu dem für die Musikindustrie in Deutschland behaupteten Schaden von 524 Millionen Euro sowie dem errechneten Verlust von 5.537 Beschäftigen kommen.
Erster Kritikpunkt Tschmucks ist, dass vorweg der gesamte boomende Live-Musiksektor ausgeklammert wird, es sich also nicht um eine Analyse der Auswirkungen auf die Musikindustrie im allgemeinen handelt sondern „sich die Studie lediglich auf Tonträger und digitale Musikprodukte bezieht“. Das ist deshalb relevant, weil potentielle Substitionseffekte – Menschen geben weniger für CDs, dafür aber mehr für Konzerte aus – auf diese Art systematisch unberücksichtigt bleiben. Die Zahl der Beschäftigtenverluste wiederum ergibt sich, bei Ausklammerung einer möglichen Zunahme des Anteils von Selbstständigen, aus einem Vergleich der 8.099 Beschäftigten im Jahr 2010 mit der fiktiven Zahl von 13.636 Beschäftigten, die es einer „gesamtmarktkonformen“ Entwicklung nach hätten sein müssen. Wie diese Zahl zu Stande kommt und ob so ein Vergleich für stark von technologischem Wandel betroffene Sektoren überhaupt sinnvoll durchgeführt werde kann, bleibt unerklärt.
Bei der Bestimmung des Piraterieumfangs wiederum stützen sich Studienautoren fast ausschließlich auf Datenmaterial, das im Auftrag des Bundesverbands der Musikindustrie zusammengestellt wurde, und beziehen dabei Kopien auf CD-Rs, Downloads, Streamripping und Festplattentausch mit ein. Tschmuck dazu:
„Die Autoren ziehen am Ende dieses Kapitels den Schluss, dass 2,315 Mio. (sic!) – es sind wohl 2.315 Mio. oder 2,315 Mrd. – Musiktracks über das Brennen von CDs/DVDs, dem illegalen Download und durch den Festplattentausch illegal bezogen wurden. Diese Zahlen dienen dann als Berechnungsgrundlage für den Schaden, dem der phonografischen Industrie in Deutschland erwächst. An dieser Stelle sei schon angemerkt, dass das in Kap. 4.5 errechnete Schadensausmaß sich auf diese Gesamt-Tracksumme beziehen wird. Eine simple Addition der Werte ist aber durch nichts gerechtfertigt, da es mit Sicherheit zu Doppel- und sogar Dreifachzählungen kommt. So ist es sehr plausibel, dass illegal aus dem Netz herunter geladene Musikdateien später dann auf CD/DVD bzw. im Festplattentausch übertragen werden. Es kann also nicht von einer Substitution eines Kaufes eines Musiktracks ausgegangen werden. Zudem sind die Zahlen für den Festplattentausch so gut wie gar nicht empirisch gesichert und sollten daher gar nicht zum Ansatz kommen. Leider lassen sich aufgrund der fehlenden empirischen Belege keine Einschätzungen vornehmen, wie viele Tracks doppelt bzw. mehrfach erfasst wurden. Der Wert von 2.315 Mio. Tracks ist jedenfalls viel zu hoch gegriffen.“
An der darauffolgenden Untersuchung der “Effekte digitaler Piraterie auf die ökonomische Entwicklung” kritisiert Tschmuck, dass
„[s]chon der Titel dieses Kapitels ist suggestiv, weil lediglich die Wirkungen auf den physischen und digitalen Musikverkauf betrachtet werden, und keine Spill-over-Effekte auf andere musikwirtschaftliche Sektoren bzw. darüber hinaus und auch nicht die Wirkung auf die Gesamtwohlfahrt bemessen wird. Es werden zudem bei Weitem nicht alle verfügbaren Studien berücksichtigt (siehe Blog-Serie “Wie böse ist das Musik-Filesharing?”), sondern nur ein paar ausgewählte.“
Auch bei der Berechnung der Substitionsrate, also dem Ausmaß, in dem Musikdownloads Musikkäufe ersetzt, konstatiert Tschmuck eine selektive Auswahl der zu Grunde gelegten Literaturquellen. So stützen sich die Studienautoren vor allem auf eine Untersuchung von Alejandro Zentner, die sich
„auf Daten der Jahre 2002/03 und vor allem auf das Auftreten von der Musiktauschbörse Napster bezieht. Sofern der von ihm errechnete Substitutionseffekt von 30 Prozent überhaupt in Rechnung gestellt werden kann, so ist es kühn zu behaupten, dass in einem gänzlich anderen Marktumfeld – im Jahr 2010 – immer noch die gleichen Bedingungen bezüglich Substitutionsverhalten gelten sollen wie zehn Jahre davor. Man bedenke, dass sich Zentners Datenset auf eine Zeit ohne funktionierende Download- geschweige denn Streamingservices bezieht und nicht einmal iTunes verfügbar war. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Zentner als Instrument-Variable die Internetpenetration (nicht einmal den Breitbandzugang) zum Ansatz bringt. Dieses methodische Vorgehen wurde von Peitz & Waelbroeck (2004) wie auch von Oberholzer-Gee & Strumpf (2009) mE zurecht als unzulässig disqualifiziert. Zentners Studie ist also nicht nur hoffnungslos veraltet, sondern auch methodisch alles andere als zuverlässig. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum die Studienautoren gerade daraus den Substitutionseffekt von 30 Prozent übernehmen.“
Nach einer Reihe weiterer Detailkritikpunkte die Berechnung des Schadens speziell für die deutsche Musikindustrie betreffend, zieht Tschmuck schließlich folgendes Fazit:
„Die Studie “Auswirkungen digitaler Piraterie auf die Ökonomie von Medien” liefert keine empirisch gesicherten und somit brauchbaren Ergebnisse, die den Zusammenhang von Musik-Filesharing und physischen sowie digitalen Musikverkäufen erklären könnten. Es wurde keine Primärerhebung zu dieser Fragestellung durchgeführt, sondern nur selektiv Ergebnisse aus bereits vorliegenden Arbeiten in die Betrachtung einbezogen. Zum Teil (Abb. 6 und 7) fällt die Darstellung suggestiv aus und es werden vorliegende Statistiken und Studien verkürzt und oberflächlich interpretiert. Hypothesen, die gegen einen negativen Zusammenhang von Filesharing und regulären Musikverkäufen sprechen, werden ohne empirische Prüfung auf Basis fragwürdiger Interpretationen und Schlussfolgerungen verworfen. Es wird zudem eine selektive und tendenziöse Auswahl an Studien getroffen, deren Ergebnis offenbar den Intentionen der Auftraggeber entgegen kommen. Eine kritische Reflexion dieser ausgewählten Studien findet bestenfalls fragmentarisch statt.“
Bzgl. dem dritten Zitat:
Hier wird gesagt, dass die Studie veraltet ist und es damals keine Moeglichkeit gab, Musik legal zu downloaden. Deswegen wird, wenn ich es richtig verstehe, impliziert, dass damals mehr illegale Musik heruntergeladen worden ist.
Andererseits muss man sagen, dass die Anzahl der Breitbandzugaenge, der Speichermoeglichkeiten im Netz zugenommen hat.
Was ueberigens aber auch kein Argument dagegen ist, dass eine Studie von 2003 in den Zeiten eines schnelllebigen Internets hoffnungslos veraltet ist.
Mit Verlaub, meines Erachtens nach ist 2003 in Computerdimensionen Steinzeit! Vgl. Mooresches Gesetz…
Was ist mit den Schellack-Platten? Kümmert sich den keiner um diesen Markt der sooo viele Chancen gehabt hätten, wenn nicht Vinyl und MC diesen Markt zerstört hätten? Wo könnten wir heute „gesamtmarktkonform“ in der Schellack-Industrie sein, wenn, ja wenn es nicht dieses Ding, diese Innovation geben würde. Pfui!
Über diese Sichtweise lässt sich diskutieren. Zuvor wollen wir aber noch mal klarstellen, dass es nicht die Intention unserer Erhebung war, die Plattenindustrie vor der „Innovation“ zu schützen. Wir hatten die Aufgabe, den ökonomischen Schaden durch Raubkopien abzuschätzen, nicht mehr und nicht weniger. Wir forschen hier nach den Kriterien der Wissenschaftlichkeit, zu denen auch Objektivität gehört und haben kein Interesse daran, bestimmte Märkte vor dem Aussterben zu bewahren.
Wir möchten an dieser Stelle aber vor einem voreilig gezogenen Schluss warnen:
Wenn sich Märkte im Zuge technischer Neuerungen wandeln, so fordert dies immer Opfer (die auch die Schellack-Platten-Branche bringen musste). In diesem Fall war aber eben nicht die gesamte Musikbranche betroffen, da Schellackplatten durch effizientere Speichermedien ersetzt wurden. Über Schallplatten- und später über CD-Verkäufe konnte die Refinanzierung etablierter Künstler und in hohem Maße die Finanzierung und Förderung neuer Talente weiterhin gesichert werden. Selbst die Gewinne, die dabei erzielt wurden, hatten eine sehr sinnvolle Verwendung, denn mit Ihnen floss Geld in musikalische „Innovation“ womit wiederum die künstlerische Vielfalt gewährleistet werden konnte.
Das eigentliche Problem besteht heute aber nicht nur darin, dass die Digitalisierung den Untergang der Plattenindustrie einläutet, sondern darin, dass an die Stelle der Plattenverkäufe bislang kein alternatives Geschäftsmodell tritt, welches den Künstlern die finanziellen Möglichkeiten für ihr kreatives Schaffen sichern würde. Die Umsätze mit Spotify, dem Apple Store und anderen Musiktausch oder –streamingportalen sind marginal.
Eines steht außer Frage: Sollte sich der Online-Musik-Handel ausreichend etablieren, sodass dieser den Künstlern auch weiterhin eine finanzielle Schaffensgrundlage bieten kann, so ist die Digitalisierung aus Sicht des Künstlers und des Rezipienten ein Gewinn. Führt die Digitalisierung aber dazu, dass für Musik kein Geld mehr bezahlt wird, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis der gesamte Musikmarkt zum Erliegen kommt.
Wir bitten daher darum, „Innovation“ nicht um ihrer selbst Willen zu verteidigen. Sie führt zu strukturellen und mitunter radikalen soziokulturellen Veränderungen und die Gesellschaft muss sich jedes Mal aufs Neue fragen, ob und wie sie diese Veränderungen zulassen will.
Mit den besten Grüßen
Jan Herfert und Dirk Martens, Autoren der zitierten Studie
Mit dem von der schwarz-gelben Regierung geplanten Leistungsschutzrecht (LSR) gewinnt die Urheberrechtsdebatte erneut an Schwung. Einmal mehr stellt sich die Frage: Wie hoch sind die ökonomischen Einbußen von Urhebern durch die unentgeltlichen Angebote im Internet, haben diese möglicherweise sogar positive Effekte? Für die Bereiche Film, Musik und Games sind wir diesen Fragen in der Studie Auswirkungen digitaler Piraterie auf Medien auf wissenschaftlichem und ergebnisoffenem Wege nachgegangen. Unsere Schätzungen belaufen sich auf 524 Mio. € für den Musikbereich und 156 Mio. € für den Filmbereich.
Zunächst freut es uns natürlich, dass unsere Untersuchung nicht unbeachtet blieb und, wie wir hoffen, einige Denkanstöße gegeben hat. Die Rezension auf dem Blog von Herrn Tschmuck wie auch auf Netzpolitik.org muss aber dennoch erwidert werden:
• So schreibt Leonhard Dobusch in Anlehnung an Herrn Tschmuck, dass in der Studie der „boomende Live-Musiksektor ausgeklammert“ werde. Dies muss in zweifacher Hinsicht richtiggestellt werden:
Der Live-Musiksektor „boomt“ nämlich nicht. Zwischen 2007 und 2011 ging der Umsatz um 2 % zurück und das obwohl die Kartenpreise in dieser Zeit um fast zehn Prozent zugelegt haben (GfK – Konsumstudie des Veranstaltungsmarktes 2011). Auch die Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter im Live-Segment hat zwischen 2000 und 2008 um 19 % abgenommen (Umsatzsteuerstatistik 2000 bis 2008 des Statistischen Bundesamtes). Es kann also keine Rede von einem „Substitutionseffekt“ sein, bei dem die Leute zwar weniger Geld für CDs ausgeben und dafür mehr für Konzerte. Eher versuchen die Veranstalter derzeit ihren Besucherrückgang durch Preisanhebungen auszugleichen, was auf lange Sicht zu einem weiteren Rückgang der Besucherzahlen führen wird.
Zweitens „klammern“ wir den Live-Sektor nicht einfach so aus. Er ist schlichtweg nicht Teil unseres Untersuchungsgegenstandes. Wie die Rückgänge auf dem Konzertmarkt schon zeigen, profitiert die Branche der Musikveranstalter keineswegs von den Verlusten im Tonträgergeschäft. Die Erlöse aus Kartenverkäufen kompensieren die Umsatzverluste aus Plattenverkäufen nicht, sondern sind ebenfalls rückläufig. Damit spielt der Live-Sektor für die Berechnung des ökonomischen Schadens durch illegales Kopieren keine Rolle.
• Zum nächsten Einwand, die Zahl der Beschäftigtenverluste ergebe sich „aus einem Vergleich der 8.099 Beschäftigten im Jahr 2010 mit der fiktiven Zahl von 13.636 Beschäftigten, die es einer ‚gesamtmarktkonformen‘ Entwicklung nach hätten sein müssen“:
Zunächst einmal machen wir in der Studie keine konkreten Angaben über durch Piraterie entstehende Beschäftigungsverluste, weil es dafür keine seriösen Modelle gibt. Wir halten lediglich die messbare Beschäftigungsentwicklung der letzten zehn Jahre fest, ohne den Anteil der Piraterie an diesen Verlusten zu benennen. Der Vergleich mit der gesamtmarktkonformen Entwicklung dient keinesfalls der Berechnung des ökonomischen Schadens durch das Raubkopieren, das wurde in der Studie auch nie behauptet. Will man allerdings den realen (und nicht nur den nominellen) Umsatzrückgang der letzten zehn Jahre verdeutlichen, so darf man die heutigen Umsätze nicht einfach mit den Umsätzen von vor zehn Jahren vergleichen, sondern muss die durchschnittliche Produktivitätssteigerung einer Volkswirtschaft berücksichtigen. „Wie diese Zahl zu Stande kommt“ wird dabei nachvollziehbar und unmissverständlich erläutert. Diskutieren kann man selbstverständlich über die Frage, ob die Plattenindustrie ohne die Digitalisierung im gleichen Maße wie die deutsche Gesamtwirtschaft gewachsen wäre. Dazu möchten wir in einer direkten Antwort auf die Einwände von Jens Best noch einmal Bezug nehmen.
• Die einzelnen Anschuldigungen durch Tschmuck, die auch auf Netzpolitik.org eingestellt sind, wurden von uns bereits auf Tschmucks Blog Musikwirtschaftsforschung im einzelnen widerlegt. Die Gegendarstellung findet sich auch als Dokument zum Download.