In der Open-Source-Demokratie wartet man keine Einladung ab

Dieses Interview von Jan Engelmann mit dem Medienforscher Axel Bruns ist in einer gekürzten Fassung in der Ausgabe #7 des Halbjahresmagazins POLAR erschienen.

„In der Open-Source-Demokratie wartet man keine Einladung ab“.

Bloß zuschauen war gestern. Im Web 2.0 entwickeln Leute gemeinsam freie Software, redigieren Texte in Wikipedia oder beraten auf Blogs die Sicherheitslücken von Windows. Könnte diese Beteiligungslust auch der Politik zugute kommen? Ja, wenn man die Philosophie der Netzkulturen ernst nimmt und schrittweise in das institutionelle System integriert, sagt der in Australien arbeitende Medienforscher Axel Bruns in einem E-Mail-Interview mit Jan Engelmann.

Herr Bruns, Sie sprechen von produsage bzw. „Produtzung“ als einer neuen kulturellen und technologischen Disposition. Was sind deren zentralen Merkmale?

Bruns: Das Wort selbst ist eine Kombination aus „Produktion“ und „Nutzung“ und weist darauf hin, dass sich heute gerade online eben nicht mehr nur Medienproduzenten und Medienkonsumenten als große, recht klar definierte Gruppen gegenüberstehen, sondern vielerorts ein sehr viel hybriderer produktiver Nutzungsvorgang stattfindet. Jemand, der z.B. ein paar Verbesserungen auf einer Wikipediaseite macht, ist nicht wirklich Produzent der Wikipedia – aber eben auch schon mehr als nur ein Nutzer. Es handelt sich hier also um eine Form der Inhaltsschaffung, die nicht auf hierarchisch strukturierte und gemanagte Produktionsabläufe aufbaut, sondern auf das Interesse und die Fähigkeit vieler, einen Beitrag zur gemeinsamen Sache zu liefern, sowie diesen Prozess auch gemeinsam – dabei mitunter auch durchaus kontrovers – zu steuern. Es handelt sich hier also nicht um einen anarchischen Vorgang, sondern eher um etwas, was man als „Heterarchie“ bezeichnen könnte. Zwar heißt es bei der Wikipedia z.B. „Anyone can edit“, aber andererseits bedeutet das auch, dass jeder die Arbeit jedes anderen kritisch bewerten und falls nötig weiter verändern kann.

Ist die mit Produtzung angedeutete Orientierung an Modellen kooperativer Wertschöpfung wirklich substanziell etwas Neues? Oder bestand sie schon und hat dann mit dem Internet ein kongeniales Medium gefunden?

Eher letzteres. Derlei gemeinschaftliche Prozesse gab es natürlich mindestens in Ansätzen schon in einigen Bereichen, nicht zuletzt auch bei akademischen Veröffentlichungen, deren Qualität ja auch durch einen Peer-Review-Prozess gesichert wird. Aber die im Internet bereit stehenden technischen Hilfsmittel haben solche Prozesse einer weitaus breiteren Teilnehmerschicht zugänglich gemacht und auch die Übertragung solcher Ansätze auf neue Inhaltsfelder ermöglicht. Ich möchte auch behaupten, dass Produtzungsprozesse teilweise an vorindustrielle Zeiten anknüpfen, zu denen Ideen ebenso wie materielle Güter immer wieder modifiziert und so dem Stand aktueller Bedürfnisse angepasst, statt wie heute als Konsumgüter in großer Zahl produziert, konsumiert, und weggeworfen zu werden.

Die Akteure der Transformationsbewegung hin zur Produtzung vermuten Sie in der „Generation C“. Ist damit in einem soziologischen Sinne die Alterskohorte der Digital Natives gemeint?

Zunächst einmal muss ich klarstellen, dass der Begriff „Generation C“ nicht von mir, sondern von Trendwatching.com stammt, einer auf Crowdsourcing aufbauenden Publikation, die mit Hilfe ihrer Nutzer aktuelle Trends besonders im digitalen Umfeld beobachtet und aufzeigt. „C“ steht dabei für Begriffe wie Content und Creativity, aber auch für den Casual Collapse, also den langsamen Zusammenfall alter Ansätze in den kreativen und Medienindustrien. Ich finde „Generation C“ als Sammelbegriff in der Tat ganz nützlich, möchte aber den generationellen Aspekt dabei nicht überbewerten. Eine Reihe von Studien haben gezeigt, dass es auch unter den vermeintlichen Digital Natives jüngeren Alters eine ganze Menge Menschen gibt, die Internettechnologien wie z.B. die sozialen Netzwerke äußerst oberflächlich und unreflektiert nutzen, ebenso wie andererseits einige ältere Nutzer, die eigentlich als Digital Immigrants gelten müssten, zu wirklichen Experten geworden sind. Die C-Leute sind also eine Gruppe, die sich eher über gemeinsame Vorstellungen und Fähigkeiten als über dasselbe Alter definiert.

Ablesbar an Umfragen und Wahlergebnissen, mangelt es den repräsentativen Demokratien gegenwärtig an Beteiligung und politischer Leidenschaft. Wie könnte Partizipation im Zeitalter von Produtzung neu gedacht und angefacht werden?

Politik befindet sich vermutlich fast immer im Spannungsfeld zwischen der zumindest vorgeblich gewollten Beteiligung „normaler“ Bürger und der für die höchsten Ebenen der Politik wohl unvermeidbaren Professionalisierung der Politiker. Umfragen und Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass der Zeiger derzeit wohl wieder einmal ein wenig zu sehr in Richtung Professionalisierung ausgeschlagen ist. Zur gleichen Zeit aber stehen durch jene Technologien, die die Beteiligung von „Normalverbrauchern“ unterstützen, aber auch eine Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung, dieses Problem anzugehen. Der Mobilisierungserfolg des Kandidaten Obama durch sein soziales Netzwerk www.my.barackobama.com sowie die Grassrootskampagnen-Organisationen www.moveon.org (in den USA) und www.getup.org.au (in Australien) sind erste Beispiele dafür. Aber es gibt noch weitergehende Partizipationsideen: In Neuseeland wurde den Bürgern die Möglichkeit gegeben, über eine Wiki-Plattform ihre Vorstellungen zur Neufassung des Polizeigesetzes mitzuteilen und gemeinsam zu bearbeiten. In Kanada gab sich die Grüne Partei auf ähnliche Weise ein neues Wahlprogramm. Solche Ansätze funktionieren nicht auf Anhieb, manche werden scheitern, aber es ist wichtig, so zumindest schon einmal einer größeren Menge von Bürgern die Mitwirkung zu ermöglichen. Erfolg bei ersten, vorsichtigen Projekten wird dabei unweigerlich den Ruf nach einer Ausweitung dieser Form von Bürgerbeteiligung nach sich ziehen.

Der amerikanische Medientheoretiker Douglas Rushkoff spricht bereits von der „Open Source Democracy“. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass sich politische Systeme – deren Institutionen ja auf Beständigkeit ausgerichtet sind – von internetgestützten Prozessen in Echtzeit inspirieren lassen?

Also, um Echtzeit geht es mir hier eigentlich nicht. Komplexe Sachverhalte (und welche politischen Fragen sind das nicht?) wollen auch in Zukunft über längere Zeit kontrovers diskutiert werden. Auch die Open-Source-Softwareentwicklung, von der Rushkoff seinen Ansatz natürlich übernommen hat, schafft normalerweise keine „marktreifen“ Programme über Nacht. Was sie hingegen gegenüber der konventionellen, also „Closed Source“-Entwicklung auszeichnet, ist eben genau dies: dass der Source-Code, also die Informationen und Instruktionen, die das gewünschte Funktionieren des Programms herbeiführen, für alle Interessenten offen sichtbar sind. In einer Open-Source-Demokratie, wie ich sie verstehe, würden damit ebenfalls die Daten, Informationen, und Entscheidungsfindungsprozesse, auf deren Grundlage politische Ansätze aufgebaut werden, öffentlich zugänglich und einer öffentlichen Diskussion ausgesetzt sein – und nicht nur das, sondern Bürger würden auch direkt an Entscheidungen beteiligt sein. Analog zur Softwareentwicklung steht ein solcher Prozess dabei dem gegenüber, was sonst oft hinter den geschlossenen Türen von Kabinettsräumen und Fraktionssälen vor sich geht und für den Normalbürger eher selten sichtbar ist.

In Deutschland gibt es noch erhebliche Vorbehalte gegenüber den deliberativen Möglichkeiten von Wiki-Systemen oder Blogs. Journalisten schelten sie als unqualifizierte Quasselbuden, Politikern fehlt oft schlicht das Know-how, um eine Einordnung der Angebote im Netz vorzunehmen. Sind wir einfach technophober als die angelsächsische Welt?

Nein, wobei aber die Sprachbarriere doch immer noch die Adaption von Technologien um einige Zeit verlangsamt, die aus dieser Welt stammen. Ich möchte an dieser Stelle auch gerne einmal etwas Positives über die deutsche Medienlandschaft sagen. Gegenüber den besonders in den Jahren nach dem 11. September ja geradezu gleichgeschalteten privaten Massenmedien in den USA oder gegenüber dem Medienoligopol einer streng begrenzten Zahl marktbeherrschender Anbieter in Australien zeichnen sich deutsche Medien in durchaus wohltuendem Maße durch Vielfalt und Pluralismus ab. Und diese vergleichsweise komfortable Situation bewirkt dann natürlich auch weniger Verlangen nach nichtindustriellen Alternativen.

Zentral für Ihre Idee einer systemischen Einbeziehung von Produtzung ist die Umkehr der bislang üblichen politischen Produktionsweise. Nicht Politiker stellen ein Produkt her und „vermarkten“ es dann, sondern die Inhalte werden gleichsam von unten entwickelt und dann ins System infiltriert. Ist das nicht eine radikaldemokratische Wunschvorstellung? Was bleibt dann noch von der funktionalen Arbeitsteilung, wie sie sich zwischen Politikern, wissenschaftlich-technischen und publizistischen Eliten etabliert hat? Wer wäre Souverän, wer Entscheider?

Gerade von einem Denken in derlei Kategorien sollten wir abzukommen versuchen, finde ich. Eines der Hauptmerkmale der Produtzung in den Bereichen, wo sie jetzt schon stattfindet (z.B. in Open Source oder bei Wikipedia) ist, dass die Einteilung zwischen Inhaltsproduzenten und -nutzern verschwimmt und verschwindet, und dass die Teilnehmer letztlich eine hybride Position einnehmen. Sie werden dabei mehr oder weniger explizit dazu angehalten, sich dort einzubringen, wo sie die meiste Expertise haben. Ich könnte also z.B. in den Wikipedia-Seiten zur Quantenphysik bestenfalls ein wenig die Rechtschreibung korrigieren, aber in denen zu Web 2.0 schon das eine oder andere an Substanz beitragen. Warum sollte es nicht möglich sein, das auch auf die Politik zu übertragen? Dies ist also keine Forderung nach mehr Volksentscheiden, mit denen jeder über jedes abzustimmen angehalten ist. Sondern es geht eher darum, mehr Demokratie zu wagen, wie Willy Brandt das einst so schön formuliert hat: also über die politische Klasse hinaus die Bürger besonders in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, die daran besonderes Interesse oder dafür eine besondere Expertise haben. Und dabei nach Möglichkeit nicht mehr erst die Einladung für solche Beteiligung durch die Politik abzuwarten, sondern stattdessen schon vorher aktiv zu werden. Nehmen Sie das Beispiel USA: Dort konnten die besten der Bürgerjournalisten durch ihre nachhaltige, intelligente, und fundierte Kritik an der Bush-Administration irgendwann nicht mehr von professionellen Journalisten oder Politikern ignoriert werden.

Das Problem einer zunehmend fragmentierten Öffentlichkeit ist bereits jetzt virulent. Es gibt zu viele Kanäle, zu viele Special-Interest-Sektoren und unterschiedliche Niveaus der Expertise. Würde die Logik von Produtzung diese Zerstreuung nicht zwangsläufig verschärfen?

Also, dass es viele Kanäle gibt, streite ich ja nicht ab. Aber wer bestimmt denn bitte, ab wann es zu viele sind? Wie fragmentiert ist die Netzwerköffentlichkeit überhaupt? In wie vielen verschiedenen Teilöffentlichkeiten bewegt sich der einzelne Mediennutzer? Wie effizient oder ineffizient pflanzen sich Informationen und Ideen über die Verbindungen zwischen diesen einzelnen Teilöffentlichkeiten hinweg von der einen zur anderen fort? Ich bin durchaus nicht von einem Standpunkt überzeugt, nach dem die einzelnen Teilöffentlichkeiten mehr oder weniger isoliert voneinander dahinvegetieren, und habe stattdessen eher den Verdacht, dass sie nicht zuletzt auch durch uns alle, die wir uns tagtäglich durch diese verschiedenen Sphären hindurchbewegen, ganz gut vernetzt sind.

Hätte eine solche „modulare Demokratie“, deren gemeinsame Angelegenheiten durch fluide Prozesse gesteuert würden, nicht auch enorme Legitimationsprobleme? Das Internet kann man ja nicht einfach abwählen.

Auch wenn’s manchmal vielleicht ganz schön wäre… Nun, Pierre Lévys Vorstellung von der modularen Demokratie, in der wohl z.B. die großen Parteienblöcke von kleineren Interessengruppen abgelöst würden, die sich vielleicht eher ad-hoc als Lösungsansätze für bestimmte Problembereiche formen, steht derzeit natürlich noch in weiter Ferne. Man sollte hier aber natürlich auch immer noch zwischen Entscheidungsfindung und Entscheidungsfällung unterscheiden. Mögliche Problemlösungen z.B. könnten schon recht schnell für eine größere Beteiligung der Bürger geöffnet werden. Entscheidungen über die Implementierung solcher Lösungen könnten dabei aber immer noch von konventionell legitimierten Institutionen gefällt werden. Das wäre dann eine Art „Professional-Amateur“-Modell, wie es Charles Leadbeater und Paul Miller beschrieben haben. Dabei konzentrieren sich beide Seiten darauf, was sie am besten beitragen können: die Bürger, die ihr geballtes und diverses Wissen einbringen und so Ideen erarbeiten, die einen breiteren Rückhalt finden können als die Ergebnisse noch so guter, letztlich aber doch personell beschränkter Expertengruppen; die professionellen Politiker, die in der Lage sind, solche Ideen in rechtskonformer Weise umzusetzen und längerfristig zu begleiten. Überall dort, wo Produtzungsansätze in die Tat umgesetzt worden sind, zeigt die Erfahrung, dass sie eben auch sehr viele nützliche, innovative Ergebnisse hervorbringen. Gerade in der Politik, finde ich, sollten wir auf diese zusätzlichen Impulse nicht verzichten.

Dr. Axel Bruns, 39, ist der Autor von „Blogs, Wikipedia, Second Life, and Beyond: From Production to Produsage“ (2008) und „Gatewatching: Collaborative Online News Production“ (2005). Er ist Senior Lecturer in der Creative Industries Faculty an der Queensland University of Technology in Brisbane, Australien. Er war an der Gründung des Journals M/C – Media and Culture und des Forschungsblogs Gatewatching.org zu Bürgerjournalismus beteiligt. Sein persönliches Blog ist snurb.info und enthält eine große Auswahl seiner Artikel und Vorträge.

Jan Engelmann, 39, ist Kulturreferent und Programmkoordinator im Bereich Öffentlichkeit/Demokratie bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Nächste Veröffentlichung als Mitherausgeber: Leidenschaft der Vernunft. Die öffentliche Intellektuelle Susan Sontag (Herbst 2009).

Das Interview ist in einer gekürzten Fassung in der Ausgabe #7 des Halbjahresmagazins POLAR erschienen.

7 Ergänzungen

  1. Open-Source Demokratie ?

    Aber nicht mit unseren etablierten Parteien. Denn mehr Basisdemokratie würde einen Machtverlust für die Polit-Bonzen bedeuten. Deswegen werden die sich wohl bis zuletzt gegen diese Entwicklung stemmen.

    Oder glaubt ihr etwa CDU Leute wie die Leyen oder Schäuble würden jemals ein Wiki einrichten und echte Mitbestimmung zulassen ?
    Die wollen herrschen und zwar möglichst ohne das ihnen jemand daziwschenredet oder besser Vorschläge bringt als sie selber.

    Von daher sehe ich die einzige Chance in der Piratenpartei. Sicherlich im moment noch ein Haufen von furchtbaren Amateuren. Wenn es jedoch gelingt das ganze zu proffesionalisieren dann könnte sich durchaus was draus entiwckeln.

  2. Magst Du das nächste Mal Fragen und Antworten durch verschiedene Schriftstile (kursiv, fett, was auch immer) besser von einander abheben? Würde zumindest mir im Lesefluß hilfreich sein. ;-)

  3. Oder glaubt ihr etwa CDU Leute wie die Leyen oder Schäuble würden jemals ein Wiki einrichten und echte Mitbestimmung zulassen ?
    Die wollen herrschen und zwar möglichst ohne das ihnen jemand daziwschenredet oder besser Vorschläge bringt als sie selber.

    Dann helfe uns bei der Arbeit Hampeldideldido
    Ich weiß eines ein kleine Partei wie die Piraten, kann jede Stimme und jeden Mann/Frau bei den AG s brauchen. Wir müssen Wissen haben. Jeder hat ein Wissen das evtl. nicht mit Gold zu bezahlen ist. Schau mal bei den AGs bitte nach.

    Bis dann
    LG von Richter169

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