Eine der Kernaufgaben des betriebswirtschaftlichen Rechnungswesens ist die monetäre Bewertung des betrieblichen Vermögens, sei es für die (interne) Kostenrechnung oder die (externe) Bilanzierung. Diese Bewertungsfragen sind keineswegs trivial und eine Reihe von Regeln (z.B. die „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung“) sollen dabei anleiten. Besonders schwierig ist dabei die monetäre Bewertung von Gütern oder Dienstleistungen, die nicht oder nur begrenzt auf Märkten handelbar sind.
Dementsprechend groß ist die Unsicherheit, einem gemeinnützigen Projekt wie der Wikipedia einen monetären Wert zuzuweisen. Jonathan Band and Jonathan Gerafi haben sich dennoch für infojustice.org an einer Kalkulation versucht (PDF). Sie listen dabei u.a. die folgenden Ansätze für eine Schätzung des Werts der Wikipedia auf:
- Wiederherstellungskosten in Höhe von $6,6 Milliarden, zzgl. $600 Millionen Aktualisierungskosten pro Jahr. Die $6,6 Milliarden folgern sie aus $300 für einen Wikipedia-Artikel durchschnittlicher Länge bei einer Gesamtzahl von 22 Millionen Artikeln.
- Konsumationswert I (fiktive Abogebühren): In ihrem (leider nicht frei online zugänglichen) Aufsatz „Placing Value on Wikipedia“ kalkulieren die zwei spanischen Betriebswirte Enrique Bonsón und Francisco Flores mit einer fiktiven jährlichen Nutzungsgebühr zwischen $33 (last.fm) und $170 (Encyclopedia Britannica), wobei sie mit einem Nutzungsrückgang von 75% im Falle einer Paywall rechnen. In diesem Fall würde der Wert bei 100 Millionen zahlenden Kunden zwischen $3,6 und $17 Milliarden liegen. Band und Gerafi wiederum argumentieren, dass ohne Bezahlschranke die entsprechenden Konsumationswerte aber bei allen über 470 Millionen NutzerInnen entstehen und deshalb ein Konsumationswert zwischen $16,9 und $80 Milliarden anzusetzen wäre.
- Konsumationswert II (fiktive Bibliotheksabfragen): Ausgehend von (eher niedrig) kalkulierten Kosten von $2,25 für eine bibliothekarische Suchanfrage und 24 Milliarden geschätzten Suchanfragen im Jahr, kommen die Autoren so auf einen Wert von $54 Milliarden.
- Marktwert (fiktive Anzeigenerlöse): In einer Masterarbeit an der HEC Paris schätzte Vincent Juhel die jährlich erzielbaren Anzeigenerlöse auf $1,6 Milliarden, was mit Hilfe von Discounted Cash-Flow zu einem Wert von $8,8 Milliarden führen würde. Andere Berechnungen gehen von noch höheren erzielbaren Anzeigenerlösen und entsprechend höheren Gesamtwerten aus. Nicht berücksichtigt sind in diesen Schätzungen aber der potentielle Verlust von AutorInnen als Folge einer Monetarisierung mittels Anzeigen.
Noch einmal eine andere Frage ist jene nach dem volkswirtschaftlichen Wert von Wikipedia, der noch schwerer zu kalkulieren ist. Ein Problem, das ich bereits im Zusammenhang mit der Enquete Kommission zum Thema „Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität“ diskutiert habe:
Wikipedia, die freie Online-Enzyklopädie, hat zweifelsohne unseren gesellschaftlichen Wohlstand erhöht. Nie war derart hochwertiges enzyklopädisches Wissen für so viele Menschen de-facto zum Nulltarif verfügbar. Die Folgen für das BIP waren hingegen negativ – Umsätze mit Totbaum-Enzyklopädien scheinen dort kaum noch auf.
Fazit: Schätzungen den Wert der Wikipedia betreffend sind mit Vorsicht zu genießen – so seriös wie viele Studien zur Schätzung der Schäden von illegalen Downloads sind sie aber allemal.
Es gibt mindestens noch eine weitere Schätzung: In einem Vortrag hatte Jeff Jarvis im Jahr 2009 (bei 20′ 25”) die scheidende Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation Sue Gardner wie folgt zitiert: „…Sue Gardner, the head of the Wikimedia foundation, said they calculated the value of just the edits to Wikipedia, … they ascribed a per-hour labour rate to that, very conservatively, and they found to their surprise that the value of this contribution to Wikipedia totals up to hundreds of millions of dollars a year …“
>>>Wikipedia, die freie Online-Enzyklopädie, hat zweifelsohne unseren gesellschaftlichen Wohlstand erhöht. Nie war derart hochwertiges enzyklopädisches Wissen für so viele Menschen de-facto zum Nulltarif verfügbar. Die Folgen für das BIP waren hingegen negativ – Umsätze mit Totbaum-Enzyklopädien scheinen dort kaum noch auf.<<<
Ist der Effekt wirklich negativ?
Die Herstellung von Papier-Lexika ist eine Sache, eine Produktivitätssteigerung an anderer Stelle durch die leichtere Verfügbarkeit (sowohl im Bezug auf Durchsuchbarkeit als auch auf Kosten) der gegenläufige Effekt. Dieser ist im BIP natürlich nicht explizit aufgeführt und lässt sich auch nicht einfach durch Summierung berechnen. Die entsprechenden ökonomischen Theorien besagen aber dass die leichtere Verfügbarkeit von Wissen eine Produktivitätssteigerung nach sich zieht.
Klar kann ich mit bestimmten ökonomischen Modellannahmen auch einen volkswirtschaftlichen Mehrwert kalkulieren. Das ist dann aber noch fiktiver, als die oben angeführten betriebswirtschaftlichen Berechnungen.
„Die Folgen für das BIP waren hingegen negativ“ ist doch auch eine total fiktive Angabe.
War die BIP-Steigerung durch Brockhaus höher als die BIP-Steigerung durch den erhöhten Stromverbrauch durch Wikipedianutzung, durch das für den Besuch von Wikipedia-Konferenzen nötige mehrverkaufte Benzin, Hotelübernachtungen, den Kauf von hochwertiger Fotoausrüstung durch Hobbyfotografen, die erst durch Wikipedia darauf gekommen sind, so etwas zu brauchen? Das lässt sich mit einem einfachen Satz nicht abtun. Meine persönlichen jährlichen BIP-relevanten Ausgaben für „Lexikalisches“ aller Art haben sich jedenfalls seit meiner Wikipeda-Anmeldung vor bald 10 Jahren sicherlich vervielfacht…
Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf den oben verlinkten Artikel zur Enquete-Kommission, in der ich das Argument weiter und allgemeiner ausgeführt habe.
Sind das eigentlich bloße Gedankenspiele oder wird hinter verschlossenen Türen über eine Paywall nachgedacht? Die sich wiederholenden Spendenkampagnen waren ja schon Gegenstand von Satire: http://www.schoeneres-leben.de/2013/09/wikipedia-ab-2014-nur-noch-als-print.html
Es wäre ja denkbar, dass Leute, die es sich leisten können, auch einen gewissen Betrag zahlen.
Nein, niemand denkt über eine Paywall oder Anzeigenschaltung nach. Die Wikipedia ist nicht nur frei zugänglich, sondern auch werbefrei und wird das auch immer bleiben. Das war ja gerade der Kerngrund, warum als Träger eine Stiftung, die Wikimedia Foundation, gewählt wurde.
Und was die Finanzquellen angeht: Ja klar, wird auch diesen November wieder der Spendenaufruf beginnen. Aber der ist so erfolgreich, dass es keinen Grund gibt, über irgendetwas anderes nachzudenken.
Die Wikipedia ist einfach sehr billig zu betreiben. Weltweit arbeiten ein paar hundert bezahlte Personen für das Projekt; deren Gehälter und die technischen Kosten können durch die Spenden leicht gedeckt werden. Dafür ein herzliches Danke an alle Leser und Nutzer, die auch spenden. Und natürlich an alle Autoren, die Zeit und Wissen spenden, denn deren Beiträge machen die Wikipedia schließlich für die Leser wertvoll.
In den letzten Jahren lief der Spendenaufruf jedes Jahr kürzer, denn er wird ja schließlich beendet, wenn die im Plan für das nächste Jahr vorgesehen Gelder hereingekommen wurden. Wer also die Banner loswerden will, soll einfach spenden …
Selbst wenn Werbung geschaltet werden würde oder eine Paywall eingerichtet werden würde. Die Wikipedia steht unter einer freien Lizenz. Quasi kann man also einfach den Inhalt auf einen anderen Server kopieren (wo man keine Werbung schaltet und ohne Paywall) und schon wäre das umgangen.
Das ist ja eines der schönen Dinge an der Wikipedia: den Inhalt darf und soll man kopieren (sofern man die Lizenzregeln beachtet) und so das Wissen verteilen. Und das hat natürlich auch den schönen Nebeneffekt, dass man damit nicht so leicht Geld verdienen kann und Wikipedia weniger dem Profitdenken unterliegt.