Ursula von der Leyen ist als Präsidentin der EU-Kommission schon wiedergewählt. Nun geht es um ihr Team, die Kommissar:innen. Sie sind so etwas wie die Minister der EU. Jedes Land, außer Deutschland, das schon von der Leyen stellt, bekommt einen Posten. Da es aber keine 26 einflussreichen Posten gibt, sind die Kompetenzen der einzelnen Ämter unterschiedlich stark ausgeprägt.
In diesem Prozess fällt derzeit die Entscheidung, wer für die kommenden fünf Jahre die Zügel der europäischen Digitalpolitik halten wird. Die Kommissar:innen werden die Regeln für große Tech-Unternehmen maßgeblich mitbestimmen. Es geht um die Frage, wie Europa digital Einfluss zurückgewinnen könnte und wie dabei die Rechte der Bürger:innen geachtet werden.
Alle zukünftigen Kommissar:innen haben sich in den vergangenen Tagen den Abgeordneten des Europäischen Parlaments vorgestellt. Die Angeordneten dürfen alle Kandidat:innen einzeln befragen – zuerst schriftlich, dann mündlich – und einigen sich dann dazu, ob sie die geplanten Kommissar:innen absegnen wollen. Ohne parlamentarische Zustimmung kann die Kommission nicht gebildet werden. So eine Aufsicht über einzelne Minister:innen gibt es in Deutschland nicht.
Kompetenzwirrwarr
Der größte Digitalposten ist alles andere als schwach: Henna Virkkunen von der christdemokratischen EVP soll Exekutiv-Vizepräsidentin für technologische Souveränität, Sicherheit und Demokratie werden – eine Art digitale Super-Kommissarin. In ihren Zuständigkeitsbereich fällt eine lange Liste an Digitalprojekten, darunter Online-Plattformen, Künstliche Intelligenz, Halbleiter, Telekommunikation und IT-Sicherheit.
An einigen dieser Themen arbeitet sie mit ihr untergebenen Kommissar:innen zusammen. Drei sind nur ihr unterstellt: Der liberale Ire Michael McGrath, der Demokratie, Recht und Rechtsstaatlichkeit übernehmen soll; der christdemokratische Litauer Andrius Kubilius, zuständig für Verteidigung und Weltraum; und Magnus Brunner aus Österreich, ebenfalls Christdemokrat und verantwortlich für Migration und Inneres.
Dazu kommen zwei weitere Exekutiv-Vizepräsident:innen, die teilweise für Digitalthemen zuständig sind: Teresa Ribera und Stéphane Séjourné. Ribera ist eine spanische Sozialdemokratin, die neben dem weiten Klimafeld auch für Wettbewerb zuständig sein soll. Séjourné ist ein französischer Liberaler und der Last-Minute-Ersatz Emmanuel Macrons für den bisherigen Binnenmarktkommissar Thierry Breton. Von der Leyen hatte mit Macron zusammen den eigentlich schon wieder nominierten Breton abgesägt, weil sie sich mit ihm in den letzten Jahren immer weiter zerstritten hatte.
Hinzu kommt Ekaterina Sachariewa, sie ist schließlich Virkkunen und Séjourné gemeinsam unterstellt. Die Bulgarin gehört ebenfalls zur christdemokratischen EVP und soll Kommissarin für Startups, Forschung und Innovation werden.
Klar auf Wirtschaft gepolt
Eines ist allen Kandidat:innen gemeinsam: Sie haben in ihren Anhörungen die „Wettbewerbsfähigkeit“ betont. Dieses Wortkonstrukt, eine unschöne Übersetzung des englischen „Competitiveness“, bringt die EU-Kommission momentan überall unter.
Grundlage dafür ist ein Bericht, den der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi im Auftrag von Ursula von der Leyen geschrieben und im September vorgestellt hat. Darin untersucht er, wie Europas Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden könnte, und fordert unter anderem massive Investitionen und einen stärker integrierten europäischen Binnenmarkt.
Der Draghi-Bericht ist so etwas wie die Bibel der zweiten Kommission von der Leyen. Alle neuen EU-Kommissar:innen sollen auch dafür zuständig sein, die Wettbewerbsfähigkeit der Union zu erhöhen.
Virkkunen will Bürokratie abbauen
Das zeigte sich auch bei der Chef-Digitalkommissarin Virkkunen. Sie sprach bei ihrer Anhörung darüber, wie europäische Innovation im Tech-Bereich gefördert werden kann, wie die Produktion von Halbleitern oder die Entwicklung von KI-Modellen nach Europa geholt werden könne. Dazu möchte sie ein Gesetz vorlegen, das kleinen Unternehmen den Zugang zu KI erlaubt. Außerdem soll sie es Unternehmen einfacher machen, im Binnenmarkt digital mit Behörden zu interagieren.
Viele digitale Regeln der EU seien bald für eine turnusmäßige Überprüfung dran, sagte sie am Dienstag – hier will sie prüfen, wo „Red Tape“ gekürzt werden könnte. An ihrem ersten Tag im Amt will sie sich eine Liste zusammenstellen lassen, welche Berichte Unternehmen aktuell schreiben müssen – und diese dann zusammenstreichen.
Die beiden großen Gesetze der EU zu großen Plattformen – Digital Services Act und Digital Markets Act – will Virkkunen hingegen achten und „schnell und kraftvoll“ umsetzen. Das sorgte für einige Erleichterung bei Ella Jakubowska, die für die zivilgesellschaftliche Organisation EDRi die EU-Politik beobachtet. Jakubowski sagte gegenüber netzpolitik.org aber auch, dass ihr Virkkunens Aussagen zu Datenschutz, Verschlüsselung und Netzneutralität nicht ausreichten. Die designierte Kommissarin äußerte eher vage, dass der Datenschutz im Zentrum der digitalen Gesetzgebung stehen solle.
Agustín Reyna, der Generaldirektor der europäischen Verbraucherschutzorganisation, vermisste klare Worte zur Telekommunikation. Unter Virkkunens Vorgänger Thierry Breton arbeitete die EU-Kommission darauf hin, die fragmentierten nationalen Märkte mehr miteinander zu verbinden. Kleine Unternehmen fürchteten, dass damit die Interessen der Platzhirsche gefördert werden. „Was wir brauchen, ist mehr Wettbewerb in der Telekommunikation und ein besserer Zugang für Verbraucher:innen zum offenen Internet“, so Reyna zu netzpolitik.org.
Ebenfalls unklar waren Virkkunens Äußerungen zu öffentlicher digitaler Infrastruktur, kritisiert Paul Keller von der NGO Open Future. Er fordert öffentliche Investitionen, um einen Gegenentwurf zu großen Tech-Firmen aufzubauen. Eine Verpflichtung dazu gab es aber von Virkkunen nicht.
McGrath verteidigt Datenschutz
Für den Datenschutz soll neben Virkkunen auch noch Michael McGrath zuständig sein. Der Ire würde den bisherigen Justizkommissar Didier Reynders ersetzen. In McGraths Anhörung griff eine Abgeordnete der Christdemokraten die DSGVO an und forderte, das Gesetz zu „überwinden“. „Der Datenschutz ist natürlich ein Grundrecht“, konterte McGrath dagegen, das die EU verteidigen müsse. Er glaube nicht, dass der Datenschutz Wettbewerb und Innovation im Weg stehe: „Ich glaube, wir können beides haben.“ Wichtig ist für ihn, dass der Datenschutz in der ganzen EU gleich gehandhabt wird.
Ella Jakubowska begrüßt gegenüber netzpolitik.org diese klaren Aussagen. In einem anderen Bereich hätte sie aber gerne mehr von ihm gehört: „McGrath hat eine sehr gute Gelegenheit verpasst, zu erklären, wie er in seiner Amtszeit die Benutzung und Verbreitung von Spionagesoftware angehen will“, so Jakubowska. Diese Werkzeuge sind für sie eine Hauptgefahr für die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten.
McGrath soll aber nicht nur für Demokratie und Recht zuständig sein, sondern auch für den Schutz von Verbraucher:innen. Hier arbeitet die EU-Kommission mit dem Digital Fairness Act schon an einem neuen Gesetz. Es soll beispielsweise Dark Patterns, suchterzeugende Designs und personalisierte Werbung regulieren. Einen Entwurf für das Gesetz gibt es noch nicht, ein im Oktober veröffentlichter „Fitness Check“ des Verbraucherschutzrechts lässt aber schon viele Punkte erahnen.
Das begrüßt der Verbraucherschützer Reyna. Die Priorität auf den Digital Fairness Act sei richtig, die DSGVO müsse geschützt werden. Er findet auch McGraths Forderung richtig, gegen Verletzungen des Verbraucherschutzes künftig stärker auf europäischer Ebene vorzugehen: „Es ist an der Zeit, das EU-Verbraucherschutzrecht durchzusetzen, Regeln zu den Befugnissen der Aufsichtsbehörden zu überarbeiten und die EU-Kommission mit starken Untersuchungs- und Durchsetzungskräften auszustatten“, sagte Reyna zu netzpolitik.org.
Brunner positioniert sich nicht zur Chatkontrolle
Magnus Brunner soll für Migration und Inneres zuständig sein und damit die bisher in unserer Berichterstattung viel Raum einnehmende Ylva Johansson ersetzen. Damit übernimmt er auch die Arbeit an der Chatkontrolle-Verordnung.
Migration ist weiter, wie seit bald zehn Jahren, ein sehr publikumswirksames Thema. Von der Leyen hatte bereits angekündigt, die Grenzschutzagentur Frontex auf 30.000 Beamt:innen verdreifachen zu wollen. Auch in Brunners Anhörung drehten sich die meisten Fragen um die Außengrenzen. Die estnische Sozialdemokratin Marina Kaljurand stellte nach zwei Stunden endlich eine Frage zu Innenthemen: Wie will Brunner den Datenschutz stärken, will er die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung schwächen, wird er gegen Spionagesoftware vorgehen?
In seiner Antwort druckste Brunner gekonnt herum. Sicherheit und Datenschutz müssten gegeneinander abgewogen werden, das sei eine schwierige Frage. Er sei ein Vater von drei Kindern, er mache sich Gedanken über die Grenzen von Privatsphäre und Sicherheit. Immerhin begrüßte er die klare Position des Parlaments zur Chatkontrolle, die dem Vorschlag die schlimmsten Zähne zieht. Er hoffe darauf, dass auch der Rat eine solche klare Position finden könnte. Danach sieht es momentan nicht aus, die Verhandlungen der Mitgliedstaaten sind weiter festgefahren. Man müsse eine Balance finden und dann mit dem Gesetz weitermachen, so Brunner.
Ella Jakuboswka von EDRi kritisierte Brunners Aussagen scharf. Es scheine so, als ob er Effizienz und Innovation an erster Stelle haben wolle, auch bei Überwachungstechnologie an den EU-Außengrenzen. „Es ist sehr besorgniserregend, dass das sogar über die grundlegendsten Bedenken zu Privatsphäre und Datenschutz Vorrang hat.“ Auch seine Äußerungen zum Einsatz von Spionagesoftware durch EU-Mitgliedstaaten sieht sie kritisch, besonders den angeblichen Konflikt zwischen Sicherheit und Datenschutz. „Diese faule Positionierung ruft ernste Bedenken über seine Verpflichtung zur Sicherheit von Daten und dem Datenschutz hervor“, so Jakubowska.
Sachariewa will mehr Frauen in der Forschung
Die designierte Forschungskommissarin, Ekaterina Sachariewa, wird für das gewaltige Horizon-Europe-Programm für Forschungsförderung zuständig sein. In ihrer Anhörung ging es auch darum, dass sich die EU zunehmend in Militär und Verteidigung einmischt – soweit sie das darf, denn die EU-Mitgliedstaaten wollen den Gral der nationalen Sicherheit mit allen Mitteln für sich behalten.
Sachariewa wurde gefragt, ob sie garantieren könne, dass die zunehmenden Ausgaben für die Verteidigung nicht auf die Kosten von ziviler Forschung gehen werden. Horizon Europe soll weiter zivilen Zwecken vorbehalten bleiben, sagte sie gestern. Angesichts der neuen Realitäten von Krieg in der Ukraine und Fragen der Wettbewerbsfähigkeit müsste der aktuelle Ansatz aber „analysiert“ werden.
Sie will sich auch für mehr Frauen in der Forschung einsetzen. Nur ein Prozent der aktuell vom Europäischen Innovationsrat geförderten Projekte hätten weibliche CEOs, sagte sie in der vergangenen Woche: „Das ist nichts.“
Kubilius soll europäische Raumfahrt fördern
Andrius Kubilius soll der erste Verteidigungskommissar der EU werden – da es keine EU-Armee gibt, ist er effektiv ein Kommissar für die Rüstungsindustrie. Der Litauer ging in seiner Anhörung wiederholt auf die „außerordentlichsten militärischen Möglichkeiten“ ein, auf die sich die EU aktuell vorbereiten müsse.
Er ist außerdem für den Weltraum zuständig und will die europäische Raumfahrtindustrie fördern, unter anderem um von Elon Musks SpaceX unabhängiger zu werden. Dafür will er ein Weltraumgesetz vorlegen, hinzu kommt eine Strategie für Weltraumdaten. Für Verteidigung und Raumfahrt fordert er von der EU deutlich höhere Ausgaben.
Ribera wird zum Stein des Anstoßes
Und dann gibt es da noch Teresa Ribera, die designierte Exekutiv-Vizepräsidentin für Klima und Wettbewerb und damit Nachfolgerin der „Tax Lady“ Margrethe Vestager. Sie soll die großen Tech-Firmen überwachen, zusammen mit Digitalkommissarin Virkkunen. Dazu gehören auch die Telekommunikationsriesen wie die Telekom.
In ihrer Anhörung war für diese inhaltlichen Fragen aber wenig Zeit. Die Christdemokraten im Parlament versuchten stattdessen mit aller Macht, sie für die verheerende Sturmkatastrophe in Spanien vor einigen Wochen verantwortlich zu machen. Daran – und an der Nominierung des Meloni-Freunds Raffaele Fitto als Kohäsions-Vizepräsident – droht momentan die gesamte Prozedur zu scheitern.
Eigentlich wollten die Fraktionen im Parlament schon am Dienstag ihr Votum abgeben. Das wurde dann erst auf Mittwoch und jetzt potenziell auf kommende Woche verschoben. Eigentlich wollte von der Leyen mit ihrer Kommission am ersten Dezember die Arbeit aufnehmen. Ob das möglich sein wird, steht momentan in den Sternen.
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