Eine leicht adaptierte Fassung dieses Beitrags ist in dem von Konrad Mitschka und Klaus Unterberger herausgegebenen Sammelband „Public Open Space: Zur Zukunft öffentlich-rechtlicher Medien. 55 Beiträge aus österreichischer und internationaler Wissenschaft zur Medienzukunft“ (2018, Facultas) erschienen (Preprint-PDF). Er basiert in Teilen auf einem Vortrag im Rahmen der gemeinsamen Jahrestagung der Fachgruppe Medienökonomie der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und des Netzwerks Medienstrukturen. Mein Dank gilt Nicole Zimmel für die Bereitstellung eines Transkripts.
Die bloße Einsicht in die Tatsache, dass mediale Öffentlichkeit(en) eine relevante Bedeutung für demokratischen Diskurs und ebensolche Entscheidungsfindung hat, unterstreicht die Gemeinwohlrelevanz medialer Akteure. Gleichzeitig folgt aus dieser Einsicht keineswegs automatisch, wer mit welchen Mitteln am ehesten in der Lage ist, demokratisch-mediale Öffentlichkeit herzustellen. Mehr noch, demokratisch-mediale Öffentlichkeit wird bis zu einem gewissen Grad nicht nur durch individuell-mediale Akteure, sondern erst im (un)konzertierten Zusammenwirken verschiedener Medienakteure erzeugt. Dieses – teilweise kooperative, teilweise konfliktäre – Zusammenwirken von privaten, öffentlich-rechtlichen und niederschwelligen medialen Angeboten wie Blogs oder Podcasts wird jedoch in zunehmendem Maß über digitale Plattformen organisiert, die wiederum kategorienübergreifende Medienkonvergenz befördern. Dabei sind Plattformen wie Facebook, YouTube oder Google mit ihren Aufmerksamkeit lenkenden Algorithmen zunehmend zentrale Gatekeeper für die Entstehung und Formierung digital-öffentlicher Räume.
Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der spezifischen Aufgabe und Struktur öffentlich-rechtlicher Anbieter in diesen neuen digitalen Kontexten. Manche bezweifeln die Notwendigkeit öffentlich-rechtlicher Angebote angesichts der Vielzahl an online verfügbaren Angeboten ganz grundlegend oder weisen ihnen eine bloß subsidiär-untergeordnete Rolle zu. Andere, zu denen auch der Autor dieses Beitrags zählt, sehen im Gegenteil sogar völlig neue öffentlich-rechtliche Aufgaben in einem medialen Umfeld, das zunehmend von Profitinteressen privater Plattformbetreiber und ideologischen Projekten privater Medieneigentümer dominiert wird. Denn vielfältige, digitale Öffentlichkeiten erfordern auch öffentliche Räume jenseits von unmittelbarer Verwertungslogik oder privater Interessensverfolgung, die es als solche unter neuen technologischen und ökonomischen Voraussetzungen aber erst zu konstituieren gilt.
Zur Illustration dessen, was einmal als Vision digital-öffentlicher Räume galt, lohnt ein Blick auf Barlows „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ aus dem Jahr 1996, also den Anfängen des Internets als Massen- und Metamedium. Bis zu einem gewissen Grad dachte man damals, das Internet an sich bringe eine gewisse, gesteigerte Offenheit mit sich. So heißt es in dieser Deklaration, „wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen“. Barlow formulierte hier eine radikale Gleichheitsutopie, eine Emanzipationsvision, die mit diesen digitalen neuen Medien verknüpft wurde. Und bis heute gibt es Organisationen, wie beispielsweise die Wikimedia Foundation, die Organisation hinter der freien Enzyklopädie Wikipedia, die derartige Inklusionsutopien propagieren. Auf deren Webseite wird bis heute die Vision einer Welt formuliert, in der wir alle aus dem Vollen des Weltwissens schöpfen können: „Imagine a world in which every single human being can freely share in the sum of all knowledge. That’s our commitment.“
In der aktuellen Debatte zu Internet und digitaler Öffentlichkeit sind derartige Visionen jedoch völlig in den Hintergrund getreten, es dominieren Themen wie „Fake News“ oder Hass und Hate Speech im Netz. Foren von Online-Medien sind heute ohne professionelle Moderation der Beiträge kaum mehr denkbar und wer selbst mit einem Blog online ist und gelesen wird, hat teilweise so viel mit dem Moderieren der Kommentare zu tun, wie mit dem Schreiben des Artikels selbst. In Deutschland wurde inzwischen mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ein eigenes Gesetz geschaffen, um dieses Problem zu adressieren.
Zusammengenommen haben wir es demnach bei digital-öffentlichen Räumen mit einer Kombination aus bisweilen grenzenloser Offenheit und offener Exklusion zu tun. Einer Gleichzeitigkeit von digitalen Plattformen, die kaum Grenzen setzen, wer dort mitmachen darf und was gesagt werden kann, und wo gleichzeitig gerade diese Offenheit dazu führt, dass bestimmte exkludierende kommunikative Praktiken sich dort etablieren können.
Paradoxe Offenheit proprietärer Plattformen?
Die Eigentümer- und Finanzierungsstruktur von Medien und Plattformen bestimmen dabei jedoch nicht unmittelbar, welche Form von Offenheit und damit letztlich auch Öffentlichkeit mit ihnen einhergeht. So sind beispielsweise gerade die in Europa starker Kritik ausgesetzten, proprietären Plattformen wie YouTube und Facebook in mancher Hinsicht verantwortlich für neue öffentliche Räume, die mit anderen Mitteln und Wegen zuvor nicht möglich waren – im Guten wie im Schlechten. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit einem unzeitgemäßen Urheberrecht, das in seiner derzeitigen Form digitale Remixkultur – die in Form von Memes und verschiedenen YouTube-Genres längst eine neue Massen- bzw. Volkskultur darstellt – be-, wenn nicht gar verhindert.
Das Spannende ist, dass YouTube – und in Grenzen auch Facebook – hier auf paradoxe Weise und durchaus getrieben von primär monetären Interessen, aber dennoch befreiend wirken, weil diese Plattformen nicht wie ein Medium behandelt werden. Eben genau deshalb, weil sie ihre Inhalte nicht im Einzelfall prüfen müssen vor Veröffentlichung, sondern weil sie ein Host-Provider-Privileg genießen, stellen diese Plattformen eine Art Safe Harbor für eine enorme Kreativitätsexplosion bereit. Auf YouTube sind neue Genres, Möglichkeiten mit Öffentlichkeiten in einem Ausmaß in Kontakt zu treten entstanden, die früher undenkbar waren – gerade auch für Leute, die weder die finanziellen Hintergründe noch Verwertungsinteressen mit ihren Aktivitäten verfolgen. Gerade – das ist das Paradoxe – für nicht kommerziell motivierte Kunst, Kultur und Öffentlichkeitsinitiativen sind diese Plattformen ermächtigend. Hier liefern diese Plattformen einen Beitrag zu demokratisch-medialer Öffentlichkeit, der dem herrschenden und in manchen Bereichen übermäßig restriktiven Urheberrechtregime quasi entrissen wird. Dass diese Form der proprietären ‚Lösung‘ urheberrechtlich begründeter Probleme auch mit großen Nachteilen verbunden ist, wie eben der Dominanz einiger weniger Plattformen und deren willkürlich-intransparenter Regelungen sowie Einschränkungen für Meinungs- und Ausdrucksfähigkeit jenseits dieser Plattformen, ändert nichts am Beitrag der Plattformen zu neuen digital-öffentlichen Räumen unter gegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Andererseits gibt es natürlich auch den Umstand, dass sich auch politisch extremistische Akteure wie PEGIDA, das als Facebook-Gruppe begonnen hat, oder die rechtsextremen Identitären mit ihren YouTube-Kanälen, ebendieser Plattformen bedienen. Hier haben wir auch eine neue Offenheit für Öffentlichkeiten, die nicht nur abbilden, was in den analogen Räumen – Stammtischen – vielleicht ohnehin an Vorurteilen, an Rassismen und so weiter verfügbar war. Im Gegenteil, Plattformen wie Facebook verstärken bestimmte Tendenzen algorithmisch, was dazu führt, dass sich hier Akteure als solche konstituieren können, und die dann wiederum auch in den analogen Raum überwechseln. Auch für diese neue Form der Öffentlichkeit ist die Basis proprietäre Plattformen wie Facebook.
Offenheit öffentlich-rechtlicher Plattformen?
Insofern nutzen natürlich verschiedenste Akteure diese Möglichkeiten, die ihnen Plattformen wie YouTube und Facebook im wahrsten Sinne des Wortes eröffnen. Und bis zu einem gewissen Grad gilt das auch bzw. könnte das auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Plattform gelten – wenn auch natürlich nach völlig anderen Regeln als den profitorientierten Regeln der proprietären Plattformen. Dort, wo der Gesetzgeber die öffentlich-rechtlichen Medienanbieter lässt – nämlich es zulässt, dass diese sich auf diesen Plattformen engagieren, wie in Deutschland im Bereich des neuen Jugendangebots „FUNK“ oder bei der BBC und deren „Public Open Space“, ermöglichen diese ebenfalls neue digitale Öffentlichkeiten.
Das wirft aber natürlich die Frage auf, wieso es weitreichende Einschränkungen für digitale Angebote öffentlich-rechtlicher Anbieter gibt – in Deutschland allen voran das Verbot der Presseähnlichkeit, in Österreich das Verbot auf Plattformen wie YouTube mit öffentlich-rechtlichen Inhalten präsent zu sein. Angesichts der im digitalen Setting weit fortgeschrittenen ‚Plattformisierung‘ ist das auf mittlere bis lange Sicht jedoch der Weg in die Bedeutungslosigkeit, wenn öffentlich-rechtlichen Anbietern verboten wird, diese Plattformen, die partiell auch kommerziell sind, zu nutzen. Bestimmte Zielgruppen werden sonst einfach nicht mehr oder nur sehr schlecht erreicht.
Gleichzeitig wäre der alleinige Fokus auf reichweitenstarke, proprietäre Plattformen für öffentlich-rechtliche Anbieter auch eine problematische Entscheidung. Ebenfalls reichweitenstark und viel kompatibler mit öffentlich-rechtlichem Auftrag ist nämlich die gemeinnützige Online-Enzyklopädie Wikipedia und ihre Schwesterprojekte. Nach der gemeinsamen Online-Studie von ARD und ZDF wird Wikipedia gerade von jüngeren, für öffentlich-rechtliche Anbieter schwerer erreichbaren Zielgruppen besonders intensiv genutzt. Angesichts dessen stellt sich natürlich die Frage, warum die Öffentlich-Rechtlichen nicht mit ihren Inhalten auf dieser Plattform präsent sind, während sie gleichzeitig ihre Inhalte auf die kommerziellen Plattformen wie YouTube bereitstellen? Gerade weil eine wesentliche Legitimitätsgrundlage für öffentlich-rechtliche Medien im Digitalzeitalter eine Finanzierung und Orientierung jenseits von Profitlogiken ist, sind sie auch mit anderen Ansprüchen an Transparenz und eben auch (offener) Lizenzierung ihrer Inhalte konfrontiert.
Denn Wikipedia ist von einer dreifachen Offenheit gekennzeichnet, die mit besonderen Qualitäten damit verbundener, digitaler Öffentlichkeiten einhergeht. Wikipedias Offenheits-Trias besteht aus dem radikal offenen Zugang, aus offenen (Datei-)Formaten, vor allem aber offene Lizenzen. Dass nämlich die Inhalte der Wikipedia unter einer offenen Lizenz stehen bedeutet, dass sie ohne Rechteklärung weiterverwendet, weitergenutzt und verändert werden dürfen. Letztlich stellt diese Offenheit der Lizenz auch dauerhaft sicher, dass es zu keiner Reappropriation digitaler Gemeinschaftsgüter kommt und bietet so einen Schutzmechanismus gegen Governanceversagen. Denn die offene Lizenz erlaubt Forking, also auf Basis des bislang kollaborativ erarbeiteten Daten- und Wissensbestands eine eigene Plattform weiterzubetreiben. In der Geschichte der Wikipedia gab es tatsächlich einmal so eine Abspaltung der spanischen Wikipedia-Community, was in der Folge zur Gründung der gemeinnützigen Wikimedia Foundation geführt hat.
Die Frage der Lizenzpolitik auf digitalen Plattformen ist somit eine entscheidende für die Offenheit der Inhalte selbst genauso wie für die nachhaltige Offenheit von Plattformgovernance. Jedoch ist es auch mit den offenen Lizenzen so, dass diese gleichzeitig eine Barriere darstellen, die eine Integration öffentlich-rechtlicher Inhalte schwieriger macht. Denn eigentlich wären öffentlich-rechtliche Audio- und Bewegtbildinhalte die perfekte Ergänzung zur stark textlastigen Wikipedia. Oft verhindern aber Rechteklärungsschwierigkeiten (z.B. bei Verwendung von Agenturmaterial oder GEMA-Musik) sowie Sorgen um eine angemessene Vergütung (z.B. durch Wegfall von Wiederholungshonoraren) eine offene Lizenzierung öffentlich-rechtlicher Inhalte. Bleibt die Frage, warum öffentlich-rechtliche Inhalte nicht zumindest in einfachen Fällen offen bereit gestellt werden. Eine interne Lizenzampel könnte hier einen Weg darstellen: grün bedeutet offene Lizenz als Default, gelb erfordert die Zustimmung der verantwortlichen Redakteurin und rot wäre die bisherige Variante umfassend vorbehaltener Rechte.
Ausblick: neue Rolle für öffentlich-rechtliche Anbieter?
Angesichts der hier beschriebenen, teilweise widersprüchlichen Dynamiken auf proprietären wie offenen Plattformen, lassen sich Fragen nach digital-öffentlichen Räumen und der Rolle von öffentlich-rechtlichen Medien in diesem Zusammenhang adressieren. Denn natürlich kann eine Antwort auf die geschilderten Spannungsverhältnisse der Aufbau eigenständiger, öffentlich-rechtlicher Plattformen sein, die irgendwo zwischen proprietären und radikal-offenen Plattformen angesiedelt sind. Die BBC mit ihrem Konzept für „Open BBC“ und dem darin vorgesehenen „Public Open Space“ geht dezidiert in diese Richtung. Hoffnungen, mit öffentlich-rechtlichen Plattformen für nutzergenerierte Inhalte in einer Liga mit YouTube und Facebook mithalten zu können, werden aber angesichts starker Netzwerkeffekte wohl enttäuscht werden. Zumindest aber eine konkurrenzfähige Alternative zu rein an kommerziellen Interessen orientierten Plattformen zu bieten, sollte realisierbar sein.
Letztlich ist es aber ohnehin unmöglich, digitale Öffentlichkeiten auf einzelne Plattformen zu beschränken, konstituieren sich digitale Öffentlichkeiten relational zwischen medialen Akteuren und Plattformen. Für öffentlich-rechtliche Anbieter folgt aus dieser Erkenntnis die Notwendigkeit einer stärkeren Öffnung. Diese müssen sich stärker öffnen in Fragen von Partizipation, von Transparenz und von Lizenzierung ihrer Inhalte, viel mehr als man es von privaten Medienanbietern überhaupt jemals fordern kann. Genau dieser Überschuss an Offenheit ist integraler Bestandteil des Public Values eines öffentlich-rechtlichen Anbieters im digitalen Zeitalter. Und genau das ist (es) auch, was eine Distanz, eine Differenz zu profit- und marktgetriebenen Anbietern schafft, die Grundlage für Legitimation im digitalen Raum liefern kann. Denn erst die unterschiedliche Logik verschiedener medialer Anbieter macht aus der Vielzahl digitaler Angebote auch eine mediale Vielfalt.
Das ist der beste Text, den ich in Zusammenhang mit der Medienenquete in Österreich gelesen habe, danke! Genau diese Perspektive fehlt in der Diskussion fast immer.