ZivilgesellschaftKritik an Debatte um „Missbrauch von Sozialleistungen“

Um „organisierten Leistungsmissbrauch“ im Sozialbereich zu verhindern, will Arbeitsministerin Bärbel Bas den Datenaustausch zwischen Polizei, Ordnungsämtern und Jobcenter fördern und das Strafrecht verschärfen. Sozialverbände und Organisationen von Betroffenen warnen vor verheerenden Folgen.

Bärbel Bas sitzt im Bundestag und guckt grimmig.
Arbeitsministerin und SPD-Co-Chefin Bas will härter gegen „Missbrauch von Sozialleistungen“ vorgehen – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Die Koalition aus Union und SPD setzt ihren Kurs der Verschärfungen in der Migrations- und Sozialpolitik fort. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas hat nun angekündigt, Missbrauch von Sozialleistungen durch Personen aus dem europäischen Ausland in Deutschland entschiedener bekämpfen zu wollen. Laut Bas gebe es „organisierten Leistungsmissbrauch“ durch kriminelle Netzwerke.

Nach einem Treffen mit Vertreter*innen der Kommunen und Jobcentern am Montag in Duisburg kündigte die Co-Chefin der SPD an, betrügerische Strukturen vor allem mit einem schnelleren Datenaustausch zwischen Behörden aufspüren zu wollen. Ordnungsämter, Polizei und Jobcenter müssten besser miteinander kommunizieren und Daten austauschen können, forderte Bas. Dazu seien Gespräche mit Datenschützer*innen und dem Digitalminister nötig.

Bas will EU-Freizügigkeit einschränken

Gemeinsam mit Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) will Bas außerdem prüfen, ob es eine „Strafbarkeitslücke“ im deutschen Recht gibt. So könnte Sozialleistungsmissbrauch im Strafgesetzbuch ein eigener Straftatbestand werden. Die Ministerin will damit erreichen, „dass die Verfahren nicht immer eingestellt werden“.

Außerdem will Bas die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf EU-Ebene neu definieren. Diese sei zwar eine wichtige Errungenschaft, müsse aber an Voraussetzungen geknüpft werden. Dazu nannte sie etwa die mögliche Einführung einer Mindestanzahl an Wochenarbeitsstunden.

Derzeit können Menschen aus anderen EU-Staaten unkompliziert nach Deutschland einreisen, hier einen Wohnsitz anmelden und eine Arbeit aufnehmen, sofern sie einen gültigen Pass besitzen. Anders als deutsche Staatsangehörige haben sie Anspruch auf Sozialleistungen jedoch nur, wenn sie einen Minijob haben und der Lohn zum Leben nicht reicht.

Verfahren nur bei ausländischen Verdachtsfällen

In Deutschland bezogen zuletzt insgesamt rund 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld. Angesichts der scharfen Debatte überraschen die geringen Fallzahlen solcher Verdachtsfälle „bandenmäßigen Leistungsmissbrauchs“. Bis Mai dieses Jahres haben die Jobcenter 195 solcher Fälle registriert, 96 zogen eine Strafanzeige nach sich. Im vergangenen Jahr waren es 421 Verdachtsfälle, bei 209 von ihnen wurde eine Strafanzeige erstattet. Das geht aus Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervor.

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Die Zahl der Fälle, die tatsächlich zu einer Verurteilung führen, ist nicht bekannt. Die Strafverfolgungsbehörden teilen den Ausgang des Verfahrens nicht immer an die Jobcenter mit.

Jobcenter eröffnen Verfahren wegen „bandenmäßigen Leistungsmissbrauchs“ nur bei nicht-deutschen Unionsbürger*innen. Alle anderen Fälle, die im Zusammenhang mit organisierten Tätergruppen stehen, werden nicht separat als bandenmäßiger Leistungsmissbrauch erfasst, so die Bundesregierung.

Zivilgesellschaft kritisiert faktenfreie Debatte

Die Veranstaltung in Duisburg, nach der Bas ihre Pläne verkündete, war eine Fachtagung zu „Herausforderungen und Lösungen im Zusammenhang mit der Zuwanderung aus EU-Mitgliedstaaten“. Eingeladen waren Vertreter*innen von Stadtverwaltungen, Jobcentern und der Bundesagentur für Arbeit. Interessenvertretungen von Menschen aus dem EU-Ausland, die in Deutschland prekär beschäftigt sind oder Sozialleistungen beziehen, waren nicht dabei.

Das kritisieren zivilgesellschaftliche Organisationen und Wissenschaftler*innen in einem offenen Brief an die Arbeitsministerin. Darin weisen sie die von der Arbeitsministerin befeuerte Debatte um „bandenmäßigem Sozialmissbrauch durch EU-Bürger*innen“ zurück. Diese entspreche nicht der Faktenlage und stelle Menschen aus EU-Staaten unter Generalverdacht des Missbrauchs und Betrugs.

Bereits vor zwei Wochen haben sich zahlreiche andere Organisationen sowie Sozialverbände zu Wort gemeldet. Sie sprechen von medialer Hetze und politischer Instrumentalisierung von Unionsbürger*innen in prekären Lebenslagen. Die zugrunde liegenden Ursachen wie strukturell bedingte Armut, Ausbeutung und fehlender Schutz für Beschäftigte aus anderen EU-Staaten würden in der Debatte ausgeblendet.

Razzien und Zwangsräumungen

Zu den Unterzeichner*innen des am Montag veröffentlichten offenen Briefs zählen zum Beispiel das Netzwerk Europa in Bewegung und die Initiative Stolipinovo in Europa e. V., die sich für die Rechte und Interessen von Migrantengemeinschaften aus Osteuropa einsetzt. Die Organisationen schildern darin mehrere Fälle aus deutschen Städten, die von struktureller Ungleichbehandlung von EU-Ausländer*innen und repressiven behördlichen Praktiken zeugen. Dazu zählen massenhafte Zwangsräumungen, diskriminierende Razzien und rassistische Behandlung in Jobcenter.

Ein Beispiel ist eine Razzia in einer Notunterkunft für wohnungslose Menschen in Berlin-Schöneberg Mitte Oktober. Mitarbeiter*innen der Berliner Jobcenter und der Familienkasse hatten in Begleitung von Polizeibeamt*innen und Pressevertrer*innen um 6 Uhr morgens die Unterkunft aufgesucht. Die Anlauf- und Beratungsstelle Amoro Foro e.V bezeichnet die Aktion als unverhältnismäßig und politisch motiviert. Ihr sei monatelange rassistische Berichterstattung vorausgegangen.

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Der Verein Stolipinovo berichtet von Beispielen aus Duisburg. Die Stadt verfolge eine der repressivsten migrationspolitischen Strategien Deutschlands. Eine „Taskforce Problemimmobilien“ nutze Brandschutzverordnungen als Vorwand, um bulgarische und rumänische Staatsbürger*innen unangekündigt aus ihren Wohnungen zu räumen. Die Stadt gebe den Menschen keine Möglichkeit, die angeführten Baumängel zu beseitigen. Im Laufe eines Jahrzehnts hätten auf diese Weise mehr als 5.000 Menschen ihr Zuhause verloren, darunter Familien mit minderjährigen Kindern, Kindern mit Behinderungen sowie Schwangere.

Systematische Benachteiligung in Behörden

Auch eine Untersuchung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege dokumentierte 2021 eine diskriminierende Sonderbehandlung von nicht-deutschen EU-Bürger*innen durch Jobcenter und Familienkassen. Eine Umfrage unter Mitarbeitenden in der Beratung ergab unter anderem, dass Bürger*innen östlicher EU-Staaten mit systematischen und teilweise rechtswidrigen Schwierigkeiten bei der Beantragung von Sozialleistungen und von Kindergeld konfrontiert sind.

Dazu gehört beispielsweise, dass Menschen aus Rumänien, Bulgarien und anderen Staaten bereits in der Eingangszone von Jobcenter abgewiesen werden und nicht einmal einen Antrag auf Leistungen stellen können. Auch müssten EU-Bürger*innen oft unverhältnismäßig hohe Anforderungen für das Vorlegen von Dokumenten erfüllen. Teilweise werden aufstockende Leistungen trotz belegter Erwerbstätigkeit verweigert.

Der Paritätische Gesamtverband bewertete die Ergebnisse als skandalös und warnte vor strukturellem Rassismus in Jobcenter. Eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen bestätigte die Vorwürfe im vergangenen Jahr am Beispiel Duisburgs: Sozialrechtlicher Ausschluss, repressives Vorgehen der lokalen Behörden sowie ein informeller Arbeitsmarkt würden zur prekären Lebenslage von Unionsbürger*innen in segregierten Stadtteilen beitragen.

Warnung vor verheerenden sozialen Folgen

Der offene Brief fordert ein Ende der politischen Instrumentalisierung von Armut und eine Rückkehr zu einer faktenbasierten Debatte. Armut, unsichere Beschäftigung und Ausgrenzung seien keine Vergehen, sondern Folgen politischer Entscheidungen. Arbeitsminister Bas dürfe Probleme wie Wohnungslosigkeit und Ausbeutung im Niedriglohnsektor nicht noch verstärken.

Die Unterzeichner*innen warnen, dass die angekündigten Verschärfungen verheerende Folgen für die Betroffenen hätten. Für viele EU-Bürger*innen in Deutschland sei ein Minijob in Kombination mit aufstockenden Sozialleistungen oft der einzige Weg, um Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten. Würde diese Regelung eingeschränkt, verlören damit viele Menschen den Versicherungsschutz und damit den Zugang zu medizinischer Versorgung.

8 Ergänzungen

  1. Welcher Partei gehört Frau Bas an? AfD? Nein? Sie gibt vor Sozialdemokratin zu sein und entlarvt sich selbst als Gener dessen. Und die SPD driftet immer mehr ins Rechte Lager ab. Sie sollten ihren Namen ändern.

  2. Wenn man mit dem gleichen Eifer die Finanz und Steuerbetrüger (also die oberen 1%) verfolgen würde, wäre mehr erreicht. Ist nur aufwändug und unbequem, weil man da in bestimmten Politikkreisen selbst ins Visier geraten könnte bzw. die geliebten Parteispender

  3. Bemerkenswert ist immer wieder, wie wenig am Ende bei diesen „Missbrauchsbekämpfungsaktionen“ herauskommt.

    Erinnert sich noch jemand an die Forderung von Kanzler Merz, 5 Milliarden – nicht einmal 1 % seines Haushalts – durch Missbrauchsbekämpfung beim Bürgergeld ein zu sparen? Am Ende wird wohl weniger als eine Milliarde eingespart werden. Weil es den „Missbrauch“, der real oder behauptet diskutiert wurde, in der Form nicht gibt.

    Was es real gibt, ist ein absurde Bürokratie, die etwa Einwanderer durch absurd lange dauernde Anerkennung von Abschlüssen und andere bürokratische Hindernisse davon abhält, zu arbeiten.

    Was real ist, ist eine Abschiebung von über einer Million Ukrainer in das Bürgergeldsystem, weil die Ausländerbehörden dermassen ineffizient arbeiten, dass sie gar keine Kapazität für ukrainische Flüchtlinge haben.

    Was real ist, sind absurd hohe Zahlungen für Wohngeld, weil die vorigen und die aktuelle Regierung es nicht auf die Schiene kriegen, ausreichend Wohnraum zu schaffen.

    „Umsetzungsdefizit“, hat das ein früherer Innenminister genannt. Die Regierung beschließt viel und schafft wenig.

    Leider ist einfacher, mehr zu überwachen und Gesetze zu verschärfen, als die Ärmel hoch zu krempeln und die Grundursachen zu beseitigen.

    1. Was real ist, ist eine Abschiebung von über einer Million Ukrainer in das Bürgergeldsystem, weil die Ausländerbehörden dermassen ineffizient arbeiten, dass sie gar keine Kapazität für ukrainische Flüchtlinge haben.

      das ist so nur bedingt richtig. die entscheidung, flüchtlinge aus der ukraine ins bürgergeld zu stecken statt in asylbewerberleistungen hat durchaus sinn, weil damit weniger bürokratische prüfung und eine sofortige arbeitserlaubnis einhergehen während es bei regulären asylverfahren gerne mehrere jahre dauert, bis man arbeiten darf

      beim rest stimm ich dir zu

  4. Der ganze Irrsinn wäre leicht vermeidbar durch die Einführung eines europaweiten Bedingungslosen Grundeinkommens, was auch noch zahlreiche andere Vorteile hätte.

    Im Moment scheint den Damen und Herren Entscheidungsträgern aber der Sinn noch nicht nach konstruktiven Lösungen zu stehen, sehr schade.

    1. „Der ganze Irrsinn wäre leicht vermeidbar durch die Einführung eines europaweiten Bedingungslosen Grundeinkommens,“

      Wie?

      Von einem in Deutschland auskömmlichen BGE kann man in Rumänien gut leben, andersherum nicht, und Rumänien kann kein deutsches BGE zahlen. Der Ansatz, in einem Land zu kassieren und in einem anderen zu leben, bleibt.

      Ansonsten setzte das die unmittelbare Angleichung aller Lebensumstände voraus, sonst gehen alle Bedürftigen oder damit klar kommenden in das Land mit dem besten BGE-Leben.

      1. Ich stimme der Idee eines BGE (nach dem Modell von Götz Werner) absolut zu.

        Dem Abfluss des Geldes außerhalb Deutschlands ließe sich (erst mal) damit begegnen, dass dies nur für Menschen mit deutschem Pass und 1. Wohnsitz in Deutschland gilt.

        Nach diesem Vorbild (Götz Werner-Modell; Pass und 1. Wohnsitz des jeweiligen Landes) könnte auch europaweit ein BGE eigeführt werden (jeweils nach den Mindeslebensstandards des Landes, dessen Pass und 1. Wohnsitz der Bezieher hat). Und ja, dafür müssten wahrscheinlich mehr Informationen über die Wohnsitze der europ. Bürger in ganz Europa abrufbar sein.

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