Ampel-BilanzEin verbarrikadiertes Gelegenheitsfenster

In der Bilanz der Ampel steht eine Reihe von gescheiterten progressiven Projekten. Aber das ist nicht das Tragischste an dem Ende der Koalition. Denn es geht um mehr als ein paar Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag. Ein Kommentar.

Eine mit weißen Steinen zugemauerte Fensteröffnung in einer Wand aus roten Ziegelsteinen.
Chance verpasst. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / YAY Images

Dass es überhaupt eine Regierung geben würde, die nicht von der Union angeführt wird, schien vor der letzten Bundestagswahl lange unrealistisch. Doch im Sommer 2021 begannen die Umfragewerte der Union zu sinken, CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet konnte sich nicht mehr von seinem vielkritisierten Auftritt in den Hochwassergebieten erholen.

Am Abend des 26. September 2021 stand irgendwann fest: Die SPD war an der Union vorbeigezogen, eine Koalition ohne CDU und CSU wurde möglich. Und die bildete sich daraufhin vergleichsweise schnell und ohne viel Aufregung. Die selbsternannte Fortschritts- oder auch Zukunftskoalition trat an, um nach vielen Jahren unionsschwarzer Dominanz progressivere Politik zu machen. Für ein bisschen mehr Klimaschutz, für ein bisschen mehr Fokus aufs Soziale und auch gegen das ewige Geseier vom Supergrundrecht auf (gefühlte) Sicherheit, hinter das jedes Sachargument zurücktreten musste.

„Deshalb sorgen wir dafür, dass die Innenpolitik endlich im 21. Jahrhundert ankommt und nicht verbleibt, wo Sie sie hinterlassen haben“, richtete sich der FDP-Abgeordnete Manuel Höferlin im Januar 2022 an die Unionskolleg:innen. In seiner Rede zählte er auf, was die neuen Koalitionäre vorhatten. Ganz an den Anfang stellte er: Überwachungsgesamtrechnung, Schwachstellenmanagement, Freiheitskommission und ein Recht auf Verschlüsselung. Nichts davon ist abgeschlossen.

Zugeknallt und verbarrikadiert

Höferlins denkbar schlecht gealterte Rede steht exemplarisch für das größte Problem der gescheiterten Regierung: Es gab ein Gelegenheitsfenster, das die Koalitionäre weitgehend ungenutzt zuknallten und das Teile von ihnen nach dem Aus behände mit Brettern und Nägeln verbarrikadierten.

Dabei war dieses Fenster nicht nur die Gelegenheit für viele Vorhaben, die Grundrechte stärken sollten und von denen es zumindest im Netzpolitischen nur wenige am Ende durch den Bundestag schafften, wie unsere Auswertung zeigt. Es war auch die Gelegenheit zu zeigen, dass die Gesellschaft nicht im Chaos versinkt, wenn man anders als mit größtmöglicher Repression und autoritärer Durchgriffsperformance auf Probleme reagiert. Sondern mit Lösungen, die vielleicht erst langsam Wirkung zeigen. Die dafür aber jenseits ihrer symbolpolitischen Signalwirkung wirklich etwas zum Besseren verändern können.

Und es war die Gelegenheit zu zeigen, dass es etwas anderes geben kann, als sich immer mehr den rechten Brandstifter:innen anzubiedern, aus purer Angst vor ihrer Demagogie vorauseilend ihre Argumente und ihre Politik zu umarmen und ihnen damit einen fruchtbaren Boden zu bereiten.

Bauchschmerzen und Streit

Aber schnell zeigte sich, dass sich auch die Ampelparteien von populistischen Forderungen treiben ließen und in der Innen- und Migrationspolitik dem früheren CSU-Innenminister Horst Seehofer in nichts nachstanden. Da halfen auch abwechselnd die Bauchschmerzen der grünen Koalitionspartner und die häufigen Streitigkeiten mit dem FDP-Justizministerium nicht viel. Während auf der einen Seite menschenunwürdige Gesetze beschlossen wurden, schafften es auf der anderen progressive Vorhaben nie am Kabinett vorbei in die Parlamentsdebatte.

Doch eigentlich geht es gar nicht um die konkreten gescheiterten Projekte aus dem Koalitionsvertrag der Ampel. Es geht vor allem darum, dass sie in einer künftigen Regierung nicht mehr vorstellbar sind. Dass es sogar wahrscheinlicher ist, dass hart erkämpfte und immer noch unzureichende Errungenschaften wie das Selbstbestimmungsgesetz wieder von den Abendlanduntergangsverkündiger:innen zurückgedreht werden, wie sie es bereits versprochen haben.

Das Scheitern der Ampel ist mehr als nur das Versagen einer Regierung. Es ist das Versagen, einer Gesellschaft die Angst vor Offenheit zu nehmen. Es ist das Versagen, durch klare Haltungen den autoritären Marktschreiern, die in weit mehr als einer Partei auftreten, nicht mal einen Zeh breit Boden zu bereiten.

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