Der 1. Oktober war ein guter Tag für organisierte Fußballfans – zumindest, wenn man ihren Anwält:innen glauben darf. Den Grund zum Jubeln lieferten diesmal nicht elf Spieler:innen in einem Stadion, sondern acht Richter:innen in Karlsruhe. Denn diese erklärten das Bundeskriminalamts-Gesetz für teilweise verfassungswidrig.
Mit dem Bundeskriminalamt kommen Fußballfans zwar selten in Kontakt, doch im BKA-Gesetz ist auch geregelt, wie Polizeibehörden aus Bund und Ländern Daten über das Fahndungssystem INPOL teilen. Als polizeiliches Verbundsystem enthält INPOL auch die umstrittene Datei „Gewalttäter Sport“ (GTS), in der mindestens eine:r der Beschwerdeführer:innen gespeichert war.
Mit seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht nun die Speicherpraxis für INPOL beanstandet. Es fehle „an einer angemessenen Speicherschwelle und ausreichenden Vorgaben zur Speicherdauer“, schreibt das Gericht in seiner Pressemitteilung zur Entscheidung.
Fanhilfen fordern Abschaffung
Stephanie Dilba, eine der fünf Kläger:innen, sagt: „Fußballfans wie ich werden nach diesem wichtigen Urteil hoffentlich nicht mehr so leicht in einer Polizeidatenbank landen.“ Dass ihre Daten dort gespeichert waren, habe sie belastet und stigmatisiert. „Bei jeder Polizeikontrolle hatte ich Herzklopfen“, schildert Dilba.
Das Urteil stärkt die Kritiker:innen der GTS-Datei, wie etwa die Fanhilfen. Fanhilfen sind juristische Beratungsstellen für organisierte Fans. Sie setzen sich seit Jahren für eine Abschaffung der Datensammlung ein. Eine Forderung, die Linda Röttig, Vorständin des Dachverbands der Fanhilfen, angesichts des Urteils wiederholt: „Diese umfangreiche Datensammlung ist nicht datenschutzkonform, mit dem heutigen Urteil erwiesen rechtswidrig und dringt tief in die Privatsphäre von Fußballfans ein.“
Keine Speicherung ohne Negativprognose
Bijan Moini, Legal Director bei der GFF, präzisiert: Es sei nicht die gesamte Datei verfassungswidrig, sondern eine der Normen, auf deren Grundlage die Datei befüllt wurde. „Bislang wurden viele angebliche Gewalttäter in der Datei ‚Gewalttäter Sport‘ gespeichert, die einer Straftat lediglich beschuldigt, aber deswegen nie verurteilt wurden. Die Rechtsgrundlage dafür ist nun verfassungswidrig“, sagt Moini, der als einer von zwei Bevollmächtigten die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hatte.
Moini verweist auch auf sofortige Konsequenzen für die Polizei. Zwar hat der Gesetzgeber Zeit bis Juli 2025, das Gesetz zu überarbeiten, allerdings gelten direkt einige Maßgaben des Gerichts. „Ab sofort kann die Polizei Beschuldigte nicht mehr einfach so speichern. Sie muss zusätzlich eine Negativ-Prognose erstellen, also begründen, warum von der zu speichernden Person auch zukünftig eine Gefahr ausgeht“, erklärt Moini.
Warum ist die GTS-Datei so umstritten?
Die Datei „Gewalttäter Sport“ gibt es seit 1994, seit 2006 sind alle Polizeien der Länder und die Bundespolizei dabei. Die Datei wird von der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) in Nordrhein-Westfalen verwaltet. Entgegen ihres Names sind in der Datei nicht nur verurteilte Gewalttäter:innen gespeichert. Es reichte (bisher) bereits ein Ermittlungsverfahren – selbst wenn gar nicht wegen Körperverletzung, sondern wegen Beleidigung oder Landfriedensbruch ermittelt wird.
Wie schnell man in der Datei landen kann, zeigt der Fall eines weiteren Klägers in Karlsruhe. Der betroffene Werder-Bremen-Fan ist laut der lokalen Fanhilfe 2010 als Tatverdächtiger einer Sachbeschädigung in der Datei „Gewalttäter Sport“ gelandet.
Zuvor soll jemand aus einem Werder-Fanbus mit einem Edding ein Graffiti hinterlassen haben, schildert die Grün-Weiße-Hilfe den Fall:
Die niedersächsische Polizei stoppte die Busse, nahm die Personalien aller mitfahrenden Werder-Fans auf und speicherte sie als Gewalttäter in der BKA-Datei ab. Für den Beschwerdeführer hatte dies zur Konsequenz, dass ihm einige Monate später auf dem Weg zum Champions-League-Spiel in Enschede von der Bundespolizei die Ausreise untersagt wurde.
Laut Grün-Weißer-Hilfe kippte das Verwaltungsgericht Köln das Ausreiseverbot zwei Jahre später.
Zu den eingetragenen Menschen speichert die Polizei teils viele persönliche Daten, etwa die Schuhgröße, Tattoos oder den Dialekt, wie der WDR 2021 berichtete. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der eingetragenen Menschen in der GTS-Datei allerdings gesunken. Während zu Höchstzeiten über 13.000 Menschen dort gespeichert waren, waren es Ende 2023 noch etwas mehr als 5.600.
Was sind die politischen Konsequenzen?
Eigentlich hatte die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, die GTS-Datei „im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, Löschfristen, Transparenz und Datenschutz“ zu reformieren. Das Bundesinnenministerium (BMI) verschob die Reform aber auf die Zeit nach der EM, die im Sommer in Deutschland stattfand.
Während des Fußballturniers wurden 693 Menschen aus dem Ausland neu in der GTS-Datei gespeichert. Zudem wurde die GTS-Datei bei den Grenzkontrollen genutzt. Bei mehr als 1,6 Millionen Kontrollierten lagen für 87 Menschen Einträge in der GTS-Datei vor. Das ergab eine Kleine Anfrage des Abgeordneten André Hahn (Die Linke) im Bundestag.
Wann kommt nun die Reform? Auf diese Frage von netzpolitik.org weicht ein Sprecher des BMI aus. Die Thematik würde innerhalb der Gremienstruktur der Innenministerkonferenz besprochen. „Ziel ist es, auch mit den Erkenntnissen aus der Europameisterschaft 2024 weitere Schritte zu unternehmen, um die Datei Gewalttäter Sport zu evaluieren und fortzuentwickeln.“ Diese Evaluation würde aber noch andauern.
Zu den Auswirkungen des Urteils auf die Reform schreibt der BMI-Sprecher: „Die Auswertung ist noch nicht abgeschlossen. Wir können uns deshalb noch nicht näher äußern.“
Bayern wartet auf die Bewertung des BMI
Auch aus den Landesregierungen kommen abwartende Reaktionen. Das Innenministerium NRW, durch seine ZIS für die Pflege der Datei verantwortlich, lies eine Anfrage unbeantwortet. Das bayerische Innenministerium, das aktuell auch turnusmäßig den Vorsitz der Sportministerkonferenz hat, schreibt auf Anfrage von netzpolitik.org, dass das BKA-Gesetz in die Zuständigkeit des BMI falle. „Schon aufgrund dieser Tatsache können und werden wir der dortigen Bewertung der Entscheidung nicht vorgreifen.“
Im September hatte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) noch ein härteres Vorgehen gegen Fußballfans gefordert. Herrmann brachte unter anderem einen Zwang zu personalisierten Tickets ins Spiel, ebenso wie Punkt-Abzüge und den Ausschluss von Zuschauer:innen als Strafe für Pyrotechnik-Einsätze.
Wie sie mit dem Urteil umgehen, könnten die Sport- und Innenminister:innen zeitnah diskutieren. Am 18. Oktober findet ein Treffen zum Thema „Gewalt im Fußball“ statt, mit dabei sind auch Verantwortliche von DFL und DFB. Am 7. und 8. November tagen zudem die Sportminister:innen. Laut bayerischem Innenministerium steht die Tagesordnung für beide Veranstaltungen noch nicht fest.
Update, 9. Oktober: Inzwischen hat das Innenministerium aus NRW geantwortet. Änderungen an der Datei seien nicht erforderlich, schreibt das Ministerium. Das Urteil betreffe Speicherungen des BKA in Verbunddateien. Speicherungen der Länder in Verbunddateien seien daher vom Urteil nicht direkt betroffen. „Zudem erfolgen Speicherungen in der Datei „Gewalttäter Sport“ bereits jetzt nach den Maßgaben, welche das Bundesverfassungsgericht […] erteilt hat“, schreibt ein Sprecher. Schon jetzt sei eine Negativ-Prognose für eine Speicherung erforderlich.
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