Die Online-Datingszene in Berlin hat einen schlechten Ruf. An diesem Ort der frei ausgelebten Sexualität kann alles und muss nichts. Eigentlich ein schöner Gedanke. Negativ ausgelegt wird das Kredo hier allerdings oft zum Schutzschild, um sich vor Gefühlen zu schützen. „Commitment Issues“ lautet die häufige Diagnose für Online-Datende in Berlin. Doch ganz so einfach ist es nicht.
Dr. Fabian Broeker forscht an der London School of Economics auf dem Gebiet der digitalen Ethnografie und beschäftigt sich mit dem Einfluss digitaler Technologien auf zwischenmenschliche Intimität. In seiner Dissertation hat er untersucht, wie Dating-Apps die Partnersuche in Berlin formen.
Dafür sprach er in den Bars, Cafés und Wohnungen dieser Stadt mit Suchenden oder solchen, die es einmal waren. „Es gab da dieses grundlegende Gefühl, dass niemand hier nach etwas Ernsthaftem sucht“, erzählt ihm eine Teilnehmende. Wieder Andere wehrten sich gegen diese Darstellung. Sie argumentierten, dass es sich dabei bloß um einen hochstilisierten Mythos handle, hinter dem man sich verstecken könne. Scheint fast so, als ob es in Berlin nicht die eine universale Dating-Erfahrung gibt.
In diese Erfahrungen wirken auch Dating-Apps hinein. Einerseits verwandelt sich die intime Erfahrung der Partnerwahl durch das Geschäftsmodell der Plattformen in ein gleichförmiges Produkt. Andererseits verschmelzen in diesem Prozess digitale Architekturen und soziale Rituale zu lokal unterschiedlichen Dating-Kulturen.
Sexuelle Befreiungstechnologien?
Technologische Entwicklungen hatten bereits vor dem Entstehen des Internets einen Einfluss auf die Dating-Kultur. Die Massenverfügbarkeit von Autos machte es für junge Menschen beispielsweise leichter, sich außerhalb des Elternhauses zu treffen. Partner:innen konnten freier gewählt und Sexualität offener ausgelebt werden.
Ob Dating-Apps eine ähnliche sexuelle Befreiungstechnologie darstellen, ist umstritten. Ähnlich wie soziale Netzwerke bringen sie mehr Menschen zusammen als man auf anderen Wegen jemals kennenlernen könnte. Die Plattformen werben für die Präzision ihrer Matching-Algorithmen, die eine möglichst hohe Übereinstimmung zwischen zwei Suchenden garantieren sollen.
Allerdings ermöglichen die Apps auch eine neue Oberflächlichkeit. Das Swipen nach links oder rechts stumpft auf Dauer ab. Die Partnerwahl droht zu einer Konsumentscheidung zu verkommen.
Ob das nun befreiend ist oder nicht, sie sind mittlerweile ein fester Bestandteil der Dating-Kultur. Fast ein Drittel der Befragten gab in einer deutschen Umfrage an, schon mal auf einer Dating-Plattform aktiv gewesen zu sein. Das Internet ist mittlerweile der Ort, an dem sich die meisten Paare in Deutschland kennenlernen (siehe Grafik). Und doch gibt es immer noch dieses Narrativ, das Kennenlernen in der Offline-Welt sei romantischer als im Internet.
Laut Fabian Broeker basiert diese Erzählung auf einer Gegenüberstellung vom Schicksal in der „echten“ Welt und dem Algorithmus auf Dating-Plattformen. Während sich zwei Menschen zufällig und dadurch sehr romantisch im Auslandssemester kennenlernen können, ist das Match in der App eiskalt berechnet und deswegen technologisch determiniert – so das Narrativ. Schlussendlich ist das Kennenlernen im Nachtleben Amsterdams halt einfach die besser erzählbare Story als der Swipe auf Tinder.
Dating-Geschichten werden zu sozialer Währung
Doch die Geschichte einer Begegnung hört nicht beim Swipen auf. Eine simple Handgeste bildet nur den Startschuss, auf den die wirklich spannenden Ereignisse folgen. Bei einem Rennen ist ja auch nicht der interessanteste Teil, wie die Läufer:innen an den Start gehen, sondern wie sie über die Ziellinie laufen. Die Strecke dorthin lässt die Spannung noch steigen. Ist die Konkurrenz schneller? Stolpert eine:r? Wird ein Bein gestellt? Präsentiert sich jemand besonders aufbrausend, nur um es dann nicht über die Ziellinie zu schaffen? Alles Details, die bei der Erzählung im Freundeskreis für Furore sorgen.
Die unzähligen Geschichten, die sich im Laufe einer Online-Dating-Karriere anhäufen „werden zu einer sozialen Währung“, argumentiert Broeker in seiner Studie. Ob mit gutem oder schlechtem Ausgang, sie bilden hochgradig unterhaltsamen Gesprächsstoff. Wenn die Chemie gestimmt hat, freut man sich mit und wenn es unangenehm war, wird getröstet. Idealerweise kann man in beiden Fällen gemeinsam drüber lachen. Denn „jeder hat irgendwann mal ein schlechtes Tinder-Date, irgendwie gehört es schon zum kulturellen Erbe, eines zu haben“, findet auch ein Studienteilnehmer.
Im digitalen Zeitalter werden Dating-Geschichten allerdings nicht nur dem Freundeskreis erzählt, sondern oft auch der gesamten Followerschaft in den sozialen Medien. Screenshots spielen dabei eine hervorzuhebende Rolle, schreibt Broeker in der Studie. Sie besäßen ein eigenes Sozialleben, durch sie werden soziale Interaktionen, Hierarchien und Geschichten kommuniziert und verhandelt.
Ganze Twitter-Accounts füllen sich mit Content über verrückte Dating-Chats. So zum Beispiel der Account des Berliners Schamas. Mittlerweile ist er vergeben, aber während er über Apps gedatet hat, teilte er immer wieder Geschichten mit seinen Follower:innen. „Mein Account ist nur so geboomt, wegen den Chats“, sagt er gegenüber netzpolitik.org.
Durch das Posten lässt man die Follower:innen visuell an der eigenen Perspektive teilhaben. Das wirkt, wie im Post von Schamas, oft unterhaltsam, ist aber ein sehr intimer Einblick in die Privatsphäre.
Whatsapp als nächste Stufe der Intimität
Generell sind die Erfahrungen rund ums Online-Dating etwas sehr Intimes. Nicht nur das Kennenlernen und Näherkommen anderer Personen, sondern auch das technologische Gerüst drumherum. Broeker beschreibt das Handy als „intime Technologie“, denn die meisten tragen es den ganzen Tag eng am Körper. Es ist oft eins der ersten Dinge, die man nach dem Aufwachen sieht und eins der letzten vor dem Schlafengehen.
Richtig intim wird es laut vielen Studienteilnehmer:innen, wenn sie die Dating-App mit ihrem Match verlassen. Nicht etwa in Richtung Schlafzimmer, sondern in eine andere Messenger-App, wie Whatsapp, Signal oder Instagram. „Plötzlich sind sie in meinem privaten Kreis und können mich anrufen“, sagt eine Teilnehmerin. „Es ist für mich wie ein Übergang in eine andere Sphäre.“
Solche „Übergangsrituale“, wie Broeker sie nennt, sind Schlüsselmomente in einer Dating-Interaktion, denn hier entscheidet sich, ob eine Person die andere in die nächste Stufe der Intimität hineinlassen will. Hier greifen veraltete Geschlechterrollen, fand Broeker heraus. Es sind oft Männer, die den Übergang initiieren und Frauen, die es dann akzeptieren oder ablehnen. Hier werden Stereotypen des „handelnden Mannes“ und der „passiven Frau“ reproduziert, auch im sich so progressiv gebenden Berlin.
Die Perspektive der Befragten „spiegelt die Vorstellung wider, dass intime und emotionale Praktiken sozial geformt sind“, schreibt Broeker. Und so überrascht es nicht, dass auf Dating-Apps, wie im „echten“ Leben, soziale Konstrukte wie Geschlechterrollen reproduziert werden.
Broekers Fazit: Als soziales Produkt steht die Dating-Kultur in einer Wechselwirkung mit ihrer Umgebung. Der Mythos des sexuell freien Berlins wirkt sich laut Broeker auf die Erwartungen und Hoffnungen der Datenden aus. Dating-Apps bringen eigene Rituale hervor, die sich mit der offline existierenden Kultur vermischen. Intime Technologien, wie Dating-Apps stellen „keine Trennung zwischen „real“ und „virtuell“ dar, sondern vielmehr eine Leinwand, auf der sich die imaginären Verhandlungen über Realität und Virtualität abspielen“, schreibt er in seinem Fazit.
Ich kriege auf den Online Dating seiten eh keine Matches. Dafür bin ich nicht gut aussehend genug. Keine Chance. Man sollte mal auch über jene schreiben die von dieser „Sozialen Währung“ im Informationskapitalismus ausgeschlossen sind. Denn das betrifft sehr viele Menschen.
Unwahrscheinlich, denn zum einen wird Aussehen überschätzt, zum anderen sind die potentiellen Partner auch eine heterogene Gruppe. Das gute Aussehen bringt Vorteile, das ist evolutionär bedingt immer der Fall. Aber es suchen ja nicht alle ein Model zum ins Bett springen, und selbst dort ist Aussehen nicht alles. Wer nicht wie ein Model aussieht, sollte sich auch nicht wie ein Model präsentieren.
Natürlich ist Selbstdarstellung auch immer Selbstvermarktung, das ist aber naturgemäß bei jedem sozialen Wesen der Fall.
Schlechtes Aussehen, soziale Behinderungen, Incel- bzw Absolute Beginner-tum haben dann aber wenig mit Netzpolitik zu tun.
Klar, wer freiwillig auf Sozialisierung im digitalen Zeitalter verzichtet, da kann man näher hingucken. Leute wollen einem einreden, man braucht Facebook, Instagram und Twitter, obwohl Datenschutzbedenken, und wer das immernoch nicht will, braucht auch keine soziale Teilhabe. Das könnte ich mir vorstellen. Aber so wirklich tangierend ist das nicht für dieses Portal.
Die Partner Entscheidung ist längst zum puren Egoismus (Narzissmus!) verkommen.
Heute werden Partner vielfach nur konsumiert!
Die Soziologin Eva Illouz hat das schon lange analysiert und ein Buch darüber verfasst!!
Sehr lesenswert und spiegelt voll die narzisstische Gesellschaft wieder!! In diesem Endstadium des Kapitalismus
gibt es keine Liebe mehr. Nur noch narzisstische Konsumenten!! Die Scheidungsraten und die Zunahme der Singles belegen dieses mit Fakten!! Es geht nur ums Geld. Wird ja auch täglich in den großen Medien suggeriert. Auch weil viele Frauen nicht mehr abhängig vom Mann sein wollen. Frauen haben sich weiter entwickelt. Männer dagegen nicht!!
Im Internet findet man Partner für Eine kurze Zeit. Mehr aber nicht.
Zu viele Menschen verschließen die Augen vor dieser Wahrheit! Wir brauchen mehr Dramatik!! Wir brauchen mehr Ausrufezeichen!!!!!!
Reality check bitte.
Zum einen sind die absoluten und pauschalen Aussagen zu Menschen, Frauen und Männern so nicht haltbar, dafür gibt es keine Evidenz. Der individuelle Eindruck einer anscheinend sehr frustrierten Person ist genau das: ein emotionaler Eindruck. Macht’s subjektiv nicht weniger schmerzhaft, erlaubt aber andere Lösungsansätze.
Zum anderen sind keine dieser Verhaltensweisen neu, sondern so alt wie die Menschheit, vermutlich älter. Vor 40 Jahren gab’s die einschlägigen Abschleppdiscos selbst auf dem Land. Neue Medien erlauben anderes Ausleben, andere Schwerpunkte, letztlich breiteren Zugang und natürlich mehr Aufmerksamkeit heischendes Öffentlichkeitsecho.
Die Scheidungsraten und die Zunahme der Singles belegen primär die von Ihnen selbst genannten Wunsch und Möglichkeit von Selbstständigkeit, übrigens beider Seiten. Maximale Vereinzelung ist ein gesellschaftliches Problem, dummerweise ist die maximale Individualisierung auch ein Ziel gerade der progressiven Linken. Das hat aber wenig mit Dating zu tun…
„maximale Individualisierung auch ein Ziel gerade der progressiven Linken“
Diese „Individualisierung“ ist nicht „links“ sondern „geheimdienstlich“ und dient der Ablenkung vom Klassenkampf.
Eine Menge Geheimdienste wären sicher stolz auf Identitätspolitik und Opferolympiade als Zersetzungsstrategie, aber das haben die selbsternannten Progressiven genuin selber entwickelt.
„Identitätspolitik“
Ironischerweise ist „Bekämpfung des Woke Virus“ letztlich auch Identitätspolitik, und soweit ich ein Modell aus der Realität ableiten konnte, auch woke.
Die meisten Paare in Deutschland haben sich natürlich NICHT online kennengelernt – immerhin laut Statistik 79% auf anderem Wege. Der „Online-Weg“ ist nur von den Alternativen der – mit geringem Abstand – häufigst gewählte. Man sollte die Zahlen auch richtig deuten…
Ein Link auf die Studie wäre jetzt schon ganz praktisch.
Herr Engstrand!
Schauen Sie doch mal im zweiten Absatz.
Getan. Das ist die Diss, erhätlich über den Account beim Verlag oder Subscription „meines Institutes“ oder ein Preview-PDF oder den Kauf für 3-stellige Euros.
Was übersehe ich?
Bei der Dissertation handelt es sich um die erwähnte Studie. Die ist leider nicht frei verfügbar.
Unpraktisch.
Die Partnerwahl droht zu einer Konsumentscheidung zu verkommen…
Das lässt sich, denke ich, als Ziel der Anbieter ansehen – es handelt sich nunmal um rein umsatzorientierte Algorithmen die hier am Werk sind und was zu erwarten ist ist die Vermittlung einer möglichst „umsatzintensiven“ Partnerschaft => die Werbeeinnahmen der Anbieter enden ja nicht mit Ende der App Nutzung sondern frühestens nach der in den AGBs angeführten Dauer bis Löschung der Daten und sind nicht auf die Nutzung der Apps beschränkt – dort steht immer etwas dabei wie: „in besonderen Fällen können wir entscheiden Daten nicht zu löschen.“ Über die Definition dieser Sonderfälle wird dafür sehr spärlich berichtet – Zusätze wie „…nach Einschätzung unseres Teams…“ und ähnliches lassen damit die Dauerhafte Speicherung JEDES Account zu – bei TINDER waren auch 5 Jahre nicht ausreichend – die AGBs sprachen zwar von maximal 2 Jahren aber mit einem wie oben erwähntem Zusatz. Der werbegenerierte Umsatz diverser Dating Anbieter geht also vermutlich sehr sehr weit über die Nutzung der Apps hinaus und das vielleicht für undefinierbar lange Zeiträume. Überbordender Konsum der vermittelten Produkte (User) sehe ich als grundlegenden Teil des Geschäftsmodells – idealerweise wird die Partnersuche auch noch – aufgrund der dann doch nicht ganz so perfekten umsatzorientierten Vermittlung der registrierten im Hintergrund vermarkteten Produkte – von jedem einzelnen mehrfach wiederholt und die Accounts werden zwischenzeitlich oft nicht einmal gelöscht, was den Umsatz wieder weiter steigert.