Wenn man Menschen fragt, was die drängenden Themen des nächsten Jahres sein werden, stehen netzpolitische Dinge vermutlich nicht auf Platz 1 der meistgenannten Schlagwörter. Klar, denn auf der Welt gibt es gleich mehrere bedrohliche Kriege. Viele machen sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze. Andere fürchten sich vor einem weiteren Rechtsruck. Es gibt jede Menge Krisen gleichzeitig. Warum sollte man sich da mit Breitbandausbau und digitalen Identitäten beschäftigen?
Doch Netzpolitik ist keine losgelöste Insel. Fragen von Technologie und Digitalisierung berühren fast alle diese großen Themen – genau wie umgekehrt. Daher hier unser Blick in die netzpolitische Glaskugel für das nächste Jahr: für Deutschland, Europa und die Welt.
Deutschland
Am 23. Februar ist Bundestagswahl. Das beschäftigt uns vor und nach dem Urnengang. Wie läuft der Wahlkampf auf den großen Online-Plattformen? Wie viel Geld investieren die Parteien in datenschutzrechtlich fragwürdiges Targeting bei ihren Online-Anzeigen? Und wie gehen TikTok, Meta und Co. mit konzertierten Desinformationskampagnen um? Daneben werden wir uns anschauen, welche Rolle Software am Tag der Wahl spielt.
Und natürlich werfen wir einen Blick in die Wahlversprechen der Parteien zu netzpolitischen Themen und bereiten auf, was eigentlich die zerbrochene Ampel-Regierung in den letzten drei Jahren geschafft und nicht geschafft hat.
Wenn dann die Wahlergebnisse feststehen, geht die Arbeit weiter. Wer wird in der nächsten Legislaturperiode regieren und wie verhält sich der Koalitionsvertrag zu Grundrechten?
Aus den vergangenen Jahren haben wir gelernt, dass geschriebene Worte gern auch über den Haufen geworfen werden, wenn es ernst wird. Was macht die neue Regierung also am Ende wirklich? Was setzt sie um und wie sehen die Prioritäten dabei aus?
Egal, was sich die künftigen Regierungspartner in die Programme schreiben: Einige unvermeidbare Aufgaben haben sie jetzt schon auf ihrer Liste. Denn es gibt noch viele EU-Gesetze, für die nationales Recht angepasst werden muss. Welche das sind, hatten wir bereits im November für euch zusammengefasst.
Ebenso gibt es wohl einige unvermeidbare Abwehrkämpfe: Schon jetzt kündigt sich an, dass eine erneute Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung ins Haus steht und die am Bundesrat aufgehaltenen Biometriepläne der Ampel wohl eher mit größerer Wucht zurückkommen werden. Das ist nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Landesebene zu erwarten und hat mancherorts bereits begonnen.
Umso spannender, was die Überwachungsgesamtrechnung ergibt, die im Januar fertig werden soll. Und wie die Verantwortlichen mit der Bestandsaufnahme von Freiheitsrechten umgehen werden, die ursprünglich zu den großen Projekten der Ampel gehörte.
Aber auch ohne dass eine künftige Regierung etwas tut, werden einige Themen das netzpolitische Jahr bestimmen: Die elektronische Patientenakte wird in der Breite kommen und sich bewähren müssen. Außerdem läuft manches wie jedes Jahr weiter und könnte gern schneller gehen, darunter die Dauerbrenner Verwaltungsdigitalisierung und Breitbandausbau.
Europäische Union
Während Deutschland im besten Fall schon beschlossene EU-Gesetze durch- und umsetzt und seine Positionen unter den Mitgliedstaaten vertritt, geht in Brüssel unter einer noch ganz frischen Kommission die Arbeit an vielen neuen Vorhaben weiter.
Ursula von der Leyen hat sich etwa vorgenommen, einen Digital Fairness Act durchzubringen. Der soll den Verbraucherschutz für das digitale Zeitalter aktualisieren. Das Gesetz wird ziemlich wahrscheinlich sogenannte „Dark Patterns“ angehen. Das sind manipulative Design-Muster, die Nutzer:innen zu etwas verleiten sollen, was sie eigentlich gar nicht wollen. Auch Lootboxen und In-Game-Währungen in Videospielen dürfte die EU auf dem Zettel haben. Die Zivilgesellschaft fordert außerdem, personalisierte Online-Werbung zu verbieten.
Neben dem Digital Fairness Act zeichnet sich ein Aufschlag für einen Digital Networks Act ab. Der frühere EU-Kommissar Thierry Breton hatte bereits begonnen, an dem Vorhaben für die Regulierung der europäischen Telekommunikationsmärkte zu arbeiten, mit einem sehr marktliberalen Kurs. Das betrifft am Ende die digitale Infrastruktur von Mobilfunknetzen bis Glasfaser und hat ganz direkte Konsequenzen für Nutzer:innen, wenn es um Netzneutralität und den Wettbewerb zwischen Anbietern geht.
Mit dem Digital Services Act und Digital Markets Act wird es auch weitergehen. Genauer: mit ihrer Durchsetzung. Hier könnte im kommenden Jahr die erste richtig große Strafe ins Haus stehen: Die Untersuchung gegen Elon Musks Plattform X steht kurz vor dem Abschluss. Dabei wird sich auch entscheiden, ob die EU-Kommission eine mögliche Strafe nur anhand des relativ niedrigen Umsatzes von X selbst festlegt – oder das Riesenvermögen von Musk selbst mit einbezieht. Vielleicht macht die Kommission angesichts der anstehenden Trump-Präsidentschaft aber auch einen Rückzieher. Ein weiteres Bausteinchen beim Digital Services Act ist die Altersverifikation. Hier arbeitet die EU gerade an einem Plan dafür, wie genau die Ausweispflicht im Internet vielleicht aussehen könnte.
Die KI-Verordnung der EU ist zwar beschlossen, aber noch nicht komplett. Für allgemeine Modelle wie GPT fehlen noch genaue Regeln, die soll ein Praxisleitfaden nachliefern. Darin wird etwa stehen, welche Informationen KI-Unternehmen für wen offenlegen müssen. Bis April soll der Leitfaden stehen. Außerdem werden einige Regeln der Verordnung im nächsten Jahr nach und nach wirksam. Ab dem 2. Februar 2025 etwa sind besonders gefährliche KI-Systeme komplett verboten. Im August folgen dann Pflichten für Anbieter sogenannter Allzweck-KIs, was beispielsweise Dokumentation und Information betrifft. Und damit stellt sich, wie bei vielem anderen auch, die Frage: Wer soll die Umsetzung kontrollieren? Und wie gut wird das funktionieren?
Die neue EU-Kommission will aber nicht nur Regeln einführen, sondern auch alte Regeln abbauen. „Vereinfachen, zusammenführen und kodifizieren“, so die Schlagwörter für Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis. Was genau das bedeuten soll, muss sich noch zeigen.
Während unter der Kommission also einiges Neues zu erwarten ist, streiten die Mitgliedstaaten im Rat weiter über die Chatkontrolle. Mehrmals ist eine Einigung bereits gescheitert. Doch damit die Pläne zum massenhaften Scannen von auch verschlüsselter Kommunikation endlich in die Mottenkiste weggeschlossen werden, braucht es weiterhin Mitgliedstaaten, die ihre Zustimmung verweigern. Wir wünschen uns zwar, das der Kampf im nächsten Jahr endlich ein erfolgreiches Ende findet. Aber auch wenn nicht: Wir begleiten das Thema weiter, so lange es sein muss.
Noch nicht in konkreter Umsetzung, aber ebenso bedrohlich, waren die Empfehlungen einer „Expertengruppe“ zum Thema Going Dark. Sie wollen einen Zugang zu verschlüsselter Kommunikation, eine europaweite Vorratsdatenspeicherung und mehr Austausch zwischen Ermittlungsbehörden. Wir haben als Frühwarnsystem ein Auge darauf, ob die Ideen Gehör bei der Kommission finden.
Weltweit
Am 20. Januar soll die Amtseinführung des Wieder-US-Präsidenten Donald Trump stattfinden. Mit X-Chef Elon Musk an seiner Seite und vielen weiteren beunruhigenden Personalentscheidungen ist jede Menge Chaos für die analoge und digitale Welt zu erwarten. Viele führende Köpfe großer Tech-Konzerne haben bereits begonnen, sich der Trump-Regierung anzubiedern und so dürfte sich einiges ändern.
Die zu erwartende Deregulierung, sei es von Künstlicher Intelligenz, Kryptowährungen oder vom Umgang mit Desinformation und Hassrede, dürfte Plattformen in den USA verändern. Das wird auch außerhalb der USA deutlich spürbar sein. Andere Teile der Welt wie Australien regulieren eher zu viel als zu wenig. Hier wird sich zeigen, wie sich das Social-Media-Verbot für Jugendliche auswirkt.
Ein oft vernachlässigtes, global wichtiges Thema sollte uns außerdem viel mehr beschäftigen: Der Umgang der Tech-Konzerne mit Menschen in Ländern des Globalen Südens. Dafür, dass wir generative KI nutzen können, werden Klickarbeiter:innen ausgebeutet. Auch für soziale Netzwerke moderieren sie unter unwürdigen Bedingungen das, was wir nicht zu sehen bekommen sollen.
Außerdem werfen Kriege die Frage auf, wie sehr automatisierte Entscheidungen durch sogenannte Künstliche Intelligenz Einzug in Gefechtsfelder halten und wie mit zunehmend autonom agierenden Waffensystemen umgegangen werden kann.
Und dann bleibt da noch die Frage zum Umgang mit Staatstrojanern und anderer Überwachungstechnologie. Sie werden in viel zu vielen Staaten eingesetzt, um Menschen zu unterdrücken und zu verfolgen. Letzteres wird auch durch die UN Cybercrime Convention befürchtet, die erst kürzlich beschlossen wurde. Die Sorge ist, das Übereinkommen könnte etwa in Ländern wie Russland für die Unterdrückung und Verfolgung von Oppositionellen missbraucht werden. Im finalen Text seien international verbindliche Menschenrechtsnormen nicht ausreichend berücksichtigt worden.
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