Nur 90 Minuten Autofahrt trennen die Städte Charkiv in der Ukraine und Belgorod in Russland. „Aber auf TikTok sind sie Welten voneinander entfernt“, schreibt Christian Nicolai Bjørke. Er ist Investigativ-Journalist beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk NRK in Norwegen. Gemeinsam mit seinem Kollegen Henrik Bøe hat er untersucht, was Menschen in den beiden Städten von der Welt zu sehen bekommen, wenn sie TikTok öffnen.
Der Unterschied könnte nicht deutlicher sein, wie der Versuch zeigt: Die Journalisten programmieren zwei Bots, die automatisch durch den Feed von TikTok navigieren. Mithilfe eines Proxys verschleiern sie ihre wahren IP-Adressen. Einem Bot geben die Journalisten den Namen Alexei und eine IP-Adresse aus dem russischen Belgorod. Den anderen Bot nennen sie Nykolai, er bekommt eine IP-Adresse aus dem ukrainischen Charkiv. So lässt sich simulieren, was Menschen in den beiden Städten auf TikTok eingeblendet bekommen.
Während Nykolai in seinem Newsfeed Videos aus dem Krieg sieht – Soldat:innen, zerstörte Häuser – findet Alexei nichts dergleichen. Wie sehr schirmt TikTok Alexei vom Krieg ab? Die Journalisten geben dem Bot neue Anweisungen. Er soll sich für Waffen, Militär und die ukrainische Flagge interessieren; entsprechende Videos länger betrachten und liken. Auf diese Weise soll der TikTok-Algorithmus lernen, dass ihn diese Inhalte interessieren, sodass er mehr davon zu sehen bekommt.
Aber der Krieg erscheint noch immer nicht in Alexeis TikTok-Feed. Was Alexei sieht: einen Hundewelpen, der ein Küken mit der Pfote anstupst. Als würde der Krieg für TikTok-Nutzer:innen in Russland nicht existieren. Nur eine Ausnahme entdecken die Journalisten unter Hunderten Videos im Feed von Alexei: ein Überwachungsvideo, das den Einschlag einer Rakete in ein Gebäude in Charkiv zeigt.
Zombie-Version von TikTok
Die Untersuchung macht anschaulich, was eine Analyse der NGO Tracking Exposed Mitte März gezeigt hat: TikTok kappt den Informationsfluss nach Russland. Etwas in diese Richtung hatte TikTok am 6. März mitgeteilt. Man habe „keine andere Wahl, als Livestreaming und neue Inhalte in Russland auszusetzen“, hieß es etwas versteckt im Update eines Blogsposts.
Die Formulierung lässt Deutungsspielraum. Man könnte zunächst meinen, von der Sperre betroffen seien nur neue Uploads russischer Nutzer:innen. Aber nein: TikTok blendet in Russland alle neuen Uploads aus und darüber hinaus alle Uploads von nicht-russischen Accounts, inklusive älterer Videos. Übrig bleiben alte Videos aus Russland. Was das konkret bedeutet, zeigt die Recherche von NRK: TikTok in Russland sei eine Art „Zombie-Version“ seiner selbst, wie Bjørke erzählt. Tracking Exposed schreibt: „Nationale Inhaltsbeschränkungen in diesem Ausmaß sind für eine globale Social-Media-Plattform beispiellos.“
TikTok übernimmt damit eine Sonderrolle. Die Plattform ist im Gegensatz zu vielen anderen Social-Media-Plattformen weiterhin in Russland verfügbar. Facebook, Instagram und Twitter wurden durch russische Behörden verboten. Andere Online-Dienste wie Spotify haben sich selbstständig aus Russland zurückgezogen.
Gesetz gegen „Falschnachrichten“
Als Grund für die ungewöhnliche Maßnahme für Russland nennt TikTok das neue russische Gesetz gegen „Falschnachrichten“. Das Wort steht hier in Anführungszeichen, weil russische Behörden die Wahrheit als „falsch“ bezeichnen. Wer in Russland Informationen über den Krieg in der Ukraine verbreitet, kann diesem Gesetz zufolge verhaftet werden. Es drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis. „Unsere höchste Priorität ist die Sicherheit unserer Mitarbeiter:innen und unserer Nutzer:innen“, schreibt TikTok auf Englisch. Russland verlangt von TikTok und anderen großen Tech-Konzernen, dass sie Mitarbeiter:innen im Inland beschäftigen.
Die freiwillige Abschirmung funktioniert offenbar, wie die Recherchen von Bjørke und Bøe demonstrieren. Sie haben etwa versucht, Videos aus dem ukrainischen TikTok-Feed per Suchfunktion in der russischen TikTok-Version zu finden. Keine Ergebnisse. Am Ende des Versuchs hätten beide Bots mehr als 4.000 Videos gesehen – aber nur 19 Videos seien in beiden Feeds aufgetaucht.
„Ich würde gerne wissen, warum sich TikTok nicht komplett aus Russland zurückgezogen hat“, sagt Bjørke. Wir wollten genau das auch von der deutschen Pressestelle wissen und haben keine Antwort erhalten. In seinem Artikel hat Bjørke zudem gefragt: „Zensiert sich TikTok selbst, um nicht mit Russland in Konflikt zu geraten?“ TikTok habe ihm diese Frage nicht beantwortet. Auf unsere Nachfrage hin verweist Tiktok auf das bereits öffentliche Statement über den Schutz von Mitarbeiter:innen und Nutzer:innen.
Wenn lokale Gesetze Menschenrechte verletzen
Hinter der Sonderrolle von TikTok und Russland steht ein grundsätzliches Problem: Wie soll eine Plattform reagieren, wenn lokale Gesetze Menschenrechte verletzen, und wer darf festlegen, wann das der Fall ist? In der Vergangenheit hatte TikTok bereits damit argumentiert, lokalen Gesetzen Vorrang zu geben. Beispielsweise im Jahr 2020, als öffentlich bekannt wurde, wie TikTok LGBTQ-Hashtags blockiert – laut Sprecherin „teilweise aufgrund einschlägiger örtlicher Gesetze“. TikTok-Mutter Bytedance betreibt im autoritären China gleich eine eigenständige Version von TikTok namens Douyin.
Wir wollten wissen, ob aus diesen Beispielen etwas Grundsätzliches spricht. Bedeutet das, TikTok sind im Zweifel auch sehr weitreichende Einschränkungen recht – egal, welche Art von Information per Gesetz unterdrückt werden soll? TikTok hat sich dazu nicht offiziell geäußert.
Auch Journalist Bjørke haben wir nach seiner Einschätzung gefragt: Macht sich TikTok zum Knecht für Zensur in autoritären Ländern? Bjørke sagt: „Ich möchte unsere Arbeit für sich selbst sprechen lassen und die Meinung den Kommentator:innen überlassen“.
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