EU-Kommissarin Vestager„Europa ist kein Kontinent der Massenüberwachung“

Bei der re:publica sprach die Vizechefin der EU-Kommission, Margrethe Vestager, über ihre Pläne zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz. Dabei verteidigte sie Ausnahmen, die es bei einem Verbot biometrischer Überwachung geben soll.

Margrethe Vestager
EU-Kommissarin Margrethe Vestager ist heute zu Gast bei der re:publica – Alle Rechte vorbehalten European Union

Ein neuer Gesetzesvorschlag der Europäischen Kommission soll biometrische Überwachung an öffentlichen Orten weitgehend verhindern, dabei gibt es aber einige Ausnahmen. Bei der re:publica – Konferenz verteidigte Kommissions-Vizepräsidentin Margrethe Vestager den Vorschlag aus ihrem Haus. „Der Punkt dabei ist zu sagen, nein, wir wollen keine Massenüberwachung, die uns in Echtzeit identifizieren kann“, sagte Vestager in einer Diskussionsrunde mit Geraldine de Bastion und Julia Kloiber.

Der Kommissionsvorschlag soll verschiedene Risikostufen für Künstliche Intelligenz schaffen, besonders risikoreiche Anwendungen sollen dabei verboten oder unter Erlaubnisvorbehalt gestellt werden. Biometrische Videoüberwachung an öffentlichen Orten soll nach dem Vorschlag der EU-Behörde wegen ihrer Risiken für den Grundrechteschutz grundsätzlich verboten werden, allerdings bleibe der Einsatz solcher Technologien in „wenigen, eng definierten Ausnahmefällen“ erlaubt.

Als Beispiel dafür nannte Vestager die Suche nach vermissten Kindern, Terrorverdächtigen oder wegen Straftaten, die gemeinsam von den EU-Staaten im Europäischen Haftbefehl festgelegt wurden. NGOs hatten die Vorschläge der Kommission aus menschenrechtlicher Sicht für ungenügend kritisiert. In den kommenden Monaten sollen auch der Rat der EU-Staaten und das Parlament eine eigene Position festlegen, bevor sie gemeinsam über einen endgültigen Gesetzesentwurf verhandeln.

Im Rahmen der re:publica betonte Vestager, es gebe ein enormes Bewusstsein der Dringlichkeit, solche Technologien auf humane Art einzusetzen und Menschen „nicht zum Produkt“ zu machen. Biometrische Identifikation könne bei Anwendungen wie der Grenzkontrolle oder des Entsperren von Handys nützlich sein, aber die Privatsphäre müsse gewahrt bleiben. „Europa ist kein Kontinent der Massenüberwachung“, sagte Vestager.

Social Scoring „nicht die Rolle des Staates“

Ein explizites Verbot soll es nach dem Vorschlag der Kommission auch für sogenanntes Social Scoring geben, bei dem Algorithmen umfassend Daten über das Verhalten von Menschen sammeln und sie darauf basierend bewerten und sanktionieren. Solche Systeme sollen in China bereits getestet werden. Solche Systeme dürfe es in Europa nicht geben, betonte Vestager: „Das ist nicht die Rolle des Staates“.

Allerdings sieht die dänische EU-Kommissarin durchaus Szenarien, in denen soziale Bewertungssysteme legitim sein können. Als Beispiel nannte sie eine Versicherungsgesellschaft in Dänemark, die günstigere Autoversicherungen für Fahrer*innen anbietet, die einer Überprüfung ihres Fahrstils durch eine App zustimmen. Wo es eine direkte Verbindung zwischen gesammelten Daten und Bewertung gebe, sei das akzeptabel.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

12 Ergänzungen

  1. „Wir wollen keine Massenüberwachung, sondern nur dann, wenn wir sie wollen“.

    Das meint sie doch, darum soll sie es bitte auch so sagen.

    1. Man versucht den Kritikern nur den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem man Konsens heuchelt: „Wollen wir doch auch nicht“.
      In den Nebensätzen, die dann meist mit einem „Aber“ beginnen, versteckt sich die eigentliche Botschaft.

    2. PS: Was man als PolitikerIn unter „wenigen, eng definierten Ausnahmefällen“ versteht, zeigt unser §100a StPO sehr schön auf:

      Telekommunikationsüberwachung dürfe nur bei schweren Straftaten erfolgen. Was unter „schwer“ fällt, definiert man natürlich dann selbst ins Gesetz.

      https://dejure.org/gesetze/StPO/100a.html

  2. „Nicht Rolle des Staates“ … „Autoversicherungen“ …

    Problembewusstsein on top of things.

    1. Das Statement im letzten Satz ist ein Persilschein für künftige Scoring-Geschäftsmodelle.

  3. Das könnte interessant werden, wenn die Schufa ohne Not gefragt wird, und jemand mal auf „ist in diesem Kontext de facto Social Scoring“ klagt…

  4. „Als Beispiel dafür nannte Vestager die Suche nach vermissten Kindern, Terrorverdächtigen oder wegen Straftaten, die gemeinsam von den EU-Staaten im Europäischen Haftbefehl festgelegt wurden.“

    Es gibt immer vermisste Kinder und Terrorverdächtige. Gegen irgendjemand ist auch immer ein Europäischer Haftbefehl ausgesprochen. Da man nicht weiß, wo sich diese Personen befinden, muss man also immer und überall biometrische Videoüberwachung einsetzten!

  5. Zu: „Biometrische Videoüberwachung … grundsätzlich verboten … bleibe … in wenigen, eng definierten Ausnahmefällen erlaubt“.

    1) Es bleibt also erlaubt. Wir schaffen die Technik und setzen sie ein. Wir schaffen sogar einen Markt für diese Geräte und eine Überwachungsindustrie. Wir schaffen wirtschaftliche Interessen der Hersteller. Und dies in Zeiten wo wir täglich mit Lobbyismus zu tun haben.

    2) Angenommen die definierte Ausnahmen seien heute angemessen. Doch schon jetzt gibt es in Europa Bestrebungen, die Presse zu kontrollieren, die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben und gegen Minderheiten oder Andersdenkende, teils massiv, vorzugehen. Populistische Parteien sind überall in Europa auf dem Vormarsch. Und wir schaffen die technische Infrastruktur zum Missbrauch durch mögliche zukünftige radikale Regierungen.

    3) Hier mit der Suche nach vermissten Kindern zu argumentieren ist unredlich und nichts als ein Totschlagargument. Möglicherweise sollten wir über diesen Punkt mal diskutieren, wie das mit dem Kinderschutz denn geht und endlich gehen muss. Denn das ist wirklich ein Thema.

    4) Die Realität hat nachgewiesen, dass Überwachungsmaßnahmen und gesammelte Daten immer wieder von den Behörden und deren Mitarbeiter auch für private Zwecke missbraucht wurden.

    5) Man sollte sich klarmachen, was hier geschieht:
    Glaubt man der EU, dann werden wenige Überwachungsmaßnamen bei schweren Einzelfällen eingesetzt, die viele oder alle betreffen, die absolut nichts mit diesem Einzelfall zu tun haben. Das ist vielleicht „publikumswirksam“ doch wenig effektiv.

    Präventionsmaßnahmen, zum Beispiel zum Kinderschutz, Bildung, soziale Gerechtigkeit bringen viel für Alle, werden aber unterlassen. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen z.B. zur Prävention, die sich mit diesem Thema beschäftigen! Die lassen eindeutige Zweifel an solchen Vorschlägen wie dem der Kommissarin hier, aufkommen …

    Ich will betonen, dass ich mich hier nur um genau einen Satz „gekümmert“ habe und dazu noch lange nicht alle Argumente angebracht habe. Da ist noch so viel mehr, wo ich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen muss.

  6. Zu: Solche Systeme dürfe es in Europa nicht geben, betonte Vestager: „Das ist nicht die Rolle des Staates“.

    Warum diese doppelte Verneinung? Warum nicht einfach: „es ist Aufgabe des Staates Systeme zur Massenüberwachung und illegale Massendatenerfassung zu verhindern“? Weil man das genau nicht will?

    1. Will man ja auch nicht. Man will es im Zweifel von der Privatwirtschaft kaufen, oder vom Feunddienst zugeschoben bekommen.

      Das wird noch lustig, wenn die Behörden verschiedener Staat plötzlich anfangen, offiziell „zusammenzuarbeiten“.

  7. „nicht die Rolle des Staates“: Da fasst Frau Vestager perfekt die Strategie die EU zusammen: Der Staat verpflichtet Privatunternehmen zur Überwachung und Zensur seiner Bürger, denen gleichzeitig jede Möglichkeit genommen wird, sich zu wehren.

    Whatsapp wird verpflichtet, Überwachungsschnittstellen ein zu bauen, die exzessiv von den Behörden genutzt werden. Facebook. Google und Co werden verpflichtet, Zensurschnittstellen ein zu richten, mit denen einerseits Google & Co mit drakonischen Strafandrohungen zu exzessivem Filtern gezwungen werden. Gleichzeitig bekommt der Staat Zugriff, indem er Google & Co zwingt, auf Zuruf unerwünschte Beiträge in Echtzeit zu entfernen. Und drittens unterstützt man Überwachungsmaßnahmen von Privatunternehmen – im Artikel werden Dienstleister von Versicherungen genannt – ausdrücklich.

    Das perfide ist, dass der Bürger sich nicht mehr wehren kann. Weder durch ein Ausweichen auf andere Anbieter, da die Kommission flächendeckend Massnahmen vorschreibt. Nicht durch Gerichte, weil der Staat ja nicht überwacht. Und jedes einzelne Unternehmen die Grundrechte auch nicht über Gebühr einschränkt.

    Dass passiert erst, wenn der Staat auf die gesammelten Datenschätze zugreift. Denn aus den vielen Puzzlestückchen entsteht ein Netz, dass der Demokratie die Luft abschnürt.

    Die EU ist seit Jahren dabei, eine Massenüberwachung zu implementieren.

    Man nennt es nur anders

    1. „Man nennt es nur anders“ . Vorsicht mit potentieller begrifflicher Naivität!

      Besonders in Deutschland ist die Richtung sehr klar einsehbar, dass Regierung und teile der Großverlagspresse einhellig überzeugt scheinen, mittels Sprache Fakten zu schafen.

      Das ist wörtlich zu nehmen. Umfragen begründen beliebiges Vorgehen, wenn das parlamentarische mal lästig ist, und wenn es nicht anders geht, findet man eine Mehrheit. Soweit so unverfänglich? Es ist erschreckend oft die Rede davon, den Menschen müsste ein Gefühl X gegeben werden, oder sollten den Eindruck bekommen, auf etwas Hoffen, eine Vision angeklebt kriegen. Der perfekte Zoo!

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.