Felix Reda saß von 2014 bis 2019 für die Piraten im Europäischen Parlament und verantwortet heute bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte das Projekt „control c“ zu Urheberrecht und Kommunikationsfreiheit. Dieser Beitrag erschien zuerst in seiner Kolumne auf heise.de und wurde dort unter der Lizenz CC BY 4.0 veröffentlicht.
Vor Kurzem hat die Soziologin und Technologie-Expertin Zeynep Tufekci in der New York Times den wahrscheinlichsten Ausgang der Coronavirus-Pandemie beschrieben. Trotz der Entwicklung mehrerer Impfstoffe in Rekordzeit sieht es danach aus, dass wir weltweit die Herdenimmunität erst erreichen werden, wenn sich große Teile der Bevölkerung infiziert haben – und die Pandemie weitere Millionen Tote gefordert hat.
Es ist erstaunlich, wie wenig Entrüstung die Prognose hierzulande erzeugt, dass die meisten Menschen außerhalb der Industrienationen wohl noch jahrelang auf ihre Impfung werden warten müssen. Wenn wir in Europa unsere Politik nicht ändern, wird für viele die Impfung zu spät kommen, sie werden sich zwischenzeitlich infizieren.
TRIPS-Waiver scheitert an EU-Regierungen
In den USA hat eine breit angelegte Kampagne mit zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Unterstützung US-Präsident Biden bewogen, einer Aussetzung von Immaterialgüterrechten auf COVID-19-Impfstoffe bei der Welthandelsorganisation zuzustimmen. Auch Japan, Kanada und Australien haben inzwischen ihre Blockadehaltung aufgegeben. Doch der Vorschlag für diesen sogenannten TRIPS-Waiver kann noch immer nicht verabschiedet werden, weil die EU – und allen voran Deutschland – dem Plan die Zustimmung verweigert.
Das Europaparlament hat bereits einen Kurswechsel gefordert, auch einzelne europäische Regierungen zeigen sich offen für den Vorschlag. Doch ohne die Zustimmung Merkels wird die EU ihre Position wohl nicht ändern. Die Zukunft des TRIPS-Waivers hängt also ganz maßgeblich von der Stimmung in Deutschland ab. Wird der Druck zu Hause zu groß, können es sich die Regierungsparteien mitten im Wahlkampf nicht leisten, der Impfstoff-Freigabe die Zustimmung zu verweigern.
Fadenscheinige Gegenargumente
Seit Südafrika und Indien Anfang Oktober 2020 den Antrag für den TRIPS-Waiver bei der Welthandelsorganisation eingereicht haben, hören wir von deutschen Politiker:innen die immer gleichen Rechtfertigungen für ihre Blockadehaltung. Allen voran: Das eigentliche Problem sei die Produktionskapazität, selbst wenn keine rechtlichen Hürden für Unternehmen bestünden, in die Impfstoffproduktion einzusteigen, würde es viel zu lange dauern, die Produktionsstätten dafür aufzubauen oder umzurüsten. In derselben Zeit, seit wir diese fruchtlose Debatte führen, hat Biontech in Marburg eine Fabrik vom Pharmaunternehmen Novartis gekauft, in der vorher keine Impfstoffe produziert wurden, und binnen sechs Monaten für die Produktion des mRNA-Impfstoffs fit gemacht.
Wer behauptet, derartige Technologietransfers in Entwicklungsländer seien unmöglich, sitzt einem Vorurteil auf, das sich bereits mehrfach als falsch herausgestellt hat. Sobald generische Versionen von Medikamenten gegen Hepatitis B und andere Infektionskrankheiten verfügbar waren, begannen Unternehmen in Staaten die Massenproduktion, denen vorher attestiert worden war, sie seien zu derart komplexen Produktionsprozessen gar nicht in der Lage.
Ein weiteres beliebtes Argument gegen den TRIPS-Waiver: Es gebe gar keine Anzeichen, dass Patente oder andere Immaterialgüterrechte die Impfstoffproduktion behinderten. Tatsächlich versuchen Unternehmen wie das kanadische Biolyse seit Monaten vergeblich eine Lizenz für die Herstellung von COVID-19-Impfstoffen zu bekommen. Wie hoch könnte die Produktion inzwischen sein, wenn die Welthandelsorganisation bereits vor acht Monaten dem TRIPS-Waiver zugestimmt hätte und unabhängige Drittunternehmen damit die Sicherheit gegeben hätte, dass Investitionen in den Aufbau von Produktionskapazitäten sich lohnen werden, weil sie in die Impfstoffproduktion einsteigen können? In der Zwischenzeit hätten Dutzende Fabriken wie das Biontech-Werk in Marburg an den Start gehen können.
Die ganze Welt in einem Jahr impfen
Die Nichtregierungsorganisation Public Citizen hat kürzlich eine Studie vorgestellt, wie die Impfung der gesamten Weltbevölkerung binnen eines Jahres zu bewerkstelligen wäre. Nach aktuellen Prognosen müssen viele Länder des Globalen Südens noch bis 2023 auf flächendeckende Impfungen warten, die enttäuschenden Studienergebnisse des noch nicht zugelassenen Curevac-Impfstoffs könnten dazu beitragen, dass auch diese Schätzung nach hinten korrigiert werden muss. Klar ist, für weltweite Impfangebote binnen eines Jahres bedürfte es eines politischen Kraftakts. Doch Public Citizen zeigt, wie dieser gelingen könnte. Am vergangenen Donnerstag hat die Organisation die Studie im Rahmen einer Veranstaltung der Initiative #ZeroCovid vorgestellt.
Wenn sich die Regierungen auf eine Freigabe aller Immaterialgüterrechte verständigen, die für die Bekämpfung der COVID-19-Pandemie gebraucht werden – dazu gehören neben Patenten auch Urheberrechte und Geschäftsgeheimnisse auf Impfstoffkomponenten und Produktionsprozesse – und die Pharmaunternehmen bei angemessener Entschädigung verpflichten, am Technologietransfer mitzuwirken, wäre der Aufbau von ausreichend Produktionskapazitäten für die Versorgung der ganzen Welt binnen eines Jahres zu schaffen. Die Kosten dafür wären zwar beachtlich, aber im Vergleich zum wirtschaftlichen Schaden, den die Pandemie laufend anrichtet, vernachlässigbar. Außerdem wäre die Welt auf die nächste Pandemie deutlich besser vorbereitet.
Gerade die mRNA-Impfstoffe bieten erhebliche Chancen durch ihre Anpassungsfähigkeit an neue Mutationen oder gänzlich andere Krankheiten, sie können außerdem schneller produziert werden und erfordern kleinere Produktionsstätten, erklärte Zain Rizvi von Public Citizen bei der Diskussionsveranstaltung. Dr. Martin Friede von der Weltgesundheitsorganisation pflichtete bei, mRNA-Impfstoffe seien gar nicht so schwer herzustellen. Auch wenn sie eine sehr niedrige Aufbewahrungstemperatur erfordern, habe man mit denselben Anforderungen beispielsweise beim Ebola-Impfstoff im Kongo umgehen können.
Deutschland bremst
Das größte Hindernis zur Beendigung der Pandemie ist also nicht ein angebliches technisches Unvermögen von Ländern des Globalen Südens, sondern der politische Wille der Industrienationen. Auf dem G7-Gipfel haben diese kürzlich bekannt gegeben, etwa 870 Millionen Impfdosen spenden zu wollen – angesichts der vielen Milliarden Dosen, die gebraucht werden, ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Es liegt nun an Deutschland und der EU, die Weichen für die Zukunft zu stellen: Wagt die Welt einen gemeinsamen Kraftakt, um Immaterialgüterrechte auszusetzen, neue Produktionsstätten auf der ganzen Welt zu bauen und die Pandemie binnen eines Jahres durch flächendeckende Impfungen zu beenden? Oder sehen wir zu, wie sich unter Inkaufnahme von Millionen Toten langsam eine Herdenimmunität durch Infektion herausbildet, unter der ständigen Gefahr, dass sich neue, resistente Virusvarianten entwickeln? In jedem Fall ist klar, die Pandemie ist für niemanden vorbei, bis sie für uns alle vorbei ist.
Was bei den „Gegenargumenten“ auffällt: Alle drei sagen letztlich, dass es selbst ohne rechtliche Hürden keine zusätzliche Impfstoffproduktion gäbe. Aber wenn das so ist, was spricht dann dagegen, die Rechte zu gewähren?
Es gibt eigentlich nur zwei möglichkeite Auswirkungen: Entweder, es gibt mehr Impfstoffe, das ist das gut Szenario. Oder es gibt nicht mehr Impfstoffe, aber dann gibt es auch keine nachteiligen Auswirkungen von irgendwelchen Waivern. Das heißt, wer gegen den Trips-Waiver ist, ist dagegen, dass es mehr Impfstoff gibt. Ich sehe keine andere Erklärung.
Das sind die gleichen Leute, die zusaetzliche 80.000 Tote in Deutschland hingenommen haben, um „der Wirtschaft“ keinen lockdown zuzumuten. Die gleichen, die den Planten abfackeln, um „der Wirtschaft“ keine Klimaschutzmassnahmen zuzumuten. Die gleichen, die alle offentlichen Raeume dem Kfz unterordnen, um „der Wirtschaft“ keine Verkehrspolitik zuzumuten.
Denen ist Impfstoffmangel so egal wie alles andere, wenn es um die Verteidigung von „geistigem Eigentum“ zur Profitmaximierung „der Wirtschaft“ geht.
Schubladendenken ist immer schön, wenn man sich selbst für moralisch überlegen hält, stimmt’s? Aber vor den Klimaschutzzielen muss man die Wirtschaft nicht schützen. Wirtschaft kann sehr innovativ sein, auch in diesem Bereich, und die gleichen, die bislang Geld mit Klimafeindlichen Produkten verdient haben, können auch Geld mit Produkten verdienen, die zum Klimaschutz beitragen. Diese linke Wirtschaftsfeindlichkeit ist sowas von Weltfremd. Guck dir doch die kommunistischen Länder mal ganz genau an. Die leben im Dreck. Denn ohne Wirtschaft gibt es auch keine Innovation. Wirtschaft ist die Basis unserer Gesellschaft. Sie kann und muss gewisse Lasten tragen, aber wenn sie zusammenbricht, ist dein elitärer Elfenbeinturm das erste, was darüber mit einstürzt, und dann würdest du mal sehen, was es heißt, um sein Überleben kämpfen zu müssen. Wirtschaft ist mehr als nur Wohlstandskapitalismus. Die Wirtschaft macht die Entwicklung von Impfstoffen erst möglich. Das wären dann mehr als 80.000 Tote. Um ein Vielfaches mehr.